TE OGH 1988/6/28 2Ob65/88

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.06.1988
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Melber und Dr. Kropfitsch als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dietmar F***, ÖBB-Bediensteter in 6780 Schruns, Bergbahnstraße 14, vertreten durch Dr. Fritz Schneider, Dr. Eva Schneider, Rechtsanwälte in Bludenz, wider die beklagten Parteien 1) Adolf Z***, Landwirt in 6752 Außerbraz, Im Reckholder 38, 2) I*** U***- UND S***-AG, 1010 Wien, Tegetthoffstraße 7, beide

vertreten durch Dr. Roland Piccolruaz, Rechtsanwalt in Bludenz, wegen S 240.833 s.A. und Feststellung, infolge Revision der klagenden Partei und der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 10. März 1988, GZ 2 R 337/87-26, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 17. September 1987, GZ 8 Cg 65/87-21, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

1. Die Revision des Klägers wird zurückgewiesen.

Der Antrag der Beklagten auf Zuspruch der Kosten der Revisionsbeantwortung wird abgewiesen;

2. Der Revision der Beklagten wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie zu lauten haben:

Das Klagebegehren, a) die Beklagten seien zur ungeteilten Hand schuldig, dem Kläger den Betrag von S 240.833 samt 4 % Zinsen seit 1. August 1986 binnen 14 Tagen zu bezahlen und das Feststellungsbegehren, b) die Beklagten hätten zur ungeteilten Hand dem Kläger für 66,66 % der künftigen Schäden, Folgen und Nachteile aus dem Verkehrsunfall vom 7. April 1986 in Außerbraz zu haften, wobei die Haftung der Zweitbeklagten auf die Versicherungssumme beschränkt ist, werden abgewiesen.

Der Kläger ist schuldig, den Beklagten je zur Hälfte die Kosten des Verfahrens erster Instanz von S 34.894,99 (darin die Barauslagen von S 2.130, die Umsatzsteuer von S 2.978,64), die mit S 21.314,84 bestimmten Kosten des Verfahrens zweiter Instanz (darin die Barauslagen von S 8.000, die Umsatzsteuer von S 1.210,44) und die mit S 9.668,18 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin die Barauslagen von S 5.000, die Umsatzsteuer von S 424,38) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 7. April 1986 ereignete sich im Ortsgebiet von Braz ein Verkehrsunfall zwischen dem vom Kläger gelenkten Moped BB 59.989 und dem vom Erstbeklagten gelenkten Traktor V 58.485 samt Anhänger. Der Erstbeklagte ist auch der Halter des Traktors und des Anhängers. Die Zweitbeklagte ist der Haftpflichtversicherer. Der Kläger wurde schwer verletzt.

Der Kläger begehrte von den Beklagten - sich selbst 1/3 Mitverschulden am Unfall anlastend - die Bezahlung eines Betrages von 240.833 S sA an Schadenersatz (darin ein Schmerzengeld von 240.000 S) und beantragte die Feststellung der Haftung der Beklagten im Ausmaß von 2/3 für alle künftigen Schäden. Der Erstbeklagte habe den Unfall dadurch verschuldet, daß er mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei, auf den entgegenkommenden Kläger verspätet durch Bremsen reagiert und nicht eine auf der Fahrbahnseite des Erstbeklagten befindlichen Ausweiche benützt habe, um die Begegnung mit dem Moped des Klägers abzuwarten. Die Beklagten beantragten die Abweisung des Klagebegehrens. Den Kläger treffe das Alleinverschulden am Unfall, weil er nicht aufmerksam gewesen sei und verspätet auf das entgegenkommende Fahrzeug des Erstbeklagten reagiert habe. Der Erstbeklagte hingegen habe unverzüglich gebremst und sein Fahrzeug innerhalb der halben Sichtstrecke zum Stillstand gebracht.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren - ausgehend von einer Verschuldensteilung von 3 : 2 zu Lasten des Klägers - mit 120.400 S sA statt und stellte die Haftung der Beklagten für die Unfallsfolgen mit 40 % fest. Das Mehrbegehren wies es ab. Es traf nachstehende Feststellungen:

Die Unfallsstelle befindet sich auf dem Mühlkreisweg, der im Unfallsbereich ca. 3 m breit ist. Auf Grund einer unübersichtlichen Kurve ist die gegenseitige Sicht auf 32 bis 34 m eingeschränkt. Der Kläger fuhr mit dem Moped, an dem er noch einen 1,20 m breiten Anhänger mitführte, mit einer Geschwindigkeit von 30 bis 31 km/h taleinwärts. Aus der Gegenrichtung näherte sich der Traktor des Erstbeklagten mit einer Geschwindigkeit von 24 bis 25 km/h, an dem ein leerer Miststreuer angehängt war, dessen Höchstgeschwindigkeit mit 10 km/h beschränkt ist. Das entsprechende Vorschriftszeichen "10 km/h" war am Anhänger auch angebracht. Bei der Annäherung an die Unfallsstelle konzentrierte sich der Kläger nicht auf die Fahrbahn, sondern hatte den Kopf nach rechts gewandt, weshalb er auf den entgegenkommenden Traktor erst nach einer Reaktionszeit von 1,6 Sekunden mit einer Vollbremsung reagierte. Der Erstbeklagte reagierte hingegen bei Ansichtigwerden des entgegenkommenden Mopeds sofort durch Bremsen. Er brauchte nur eine Reaktionszeit von 0,4 Sekunden. Der Kläger konnte sein Moped innerhalb der halben Sichtstrecke nicht anhalten. Demgegenüber gelang es dem Erstbeklagten, sein Fahrzeug noch innerhalb der halben Sichtstrecke (17 m) zum Stillstand zu bringen. Auch dann, wenn der Kläger innerhalb einer Sekunde reagiert hätte, hätte er sein Moped nicht mehr innerhalb der halben Sichtstrecke anhalten können, weil bei einer Bremsverzögerung von 5 m/sec2 und einer Ausgangsgeschwindigkeit von 30 bis 31 km/h der Anhalteweg 17,2 bis 18 m betragen hätte.

Hätte der Erstbeklagte die für den Traktor samt Anhänger höchstzulässige Bremsausgangsgeschwindigkeit von 10 km/h eingehalten und innerhalb einer Sekunde voll gebremst, wäre die Kollision vermieden worden, weil der Traktor des Erstbeklagten diesfalls 6,2 m vor dem Kläger zum Stillstand gekommen wäre.

Der Kläger erlitt durch den Unfall eine Verrenkung des linken Hüftgelenkes mit Abbruch eines großen Fragmentes der Hüftgelenkspfanne. Derzeit besteht noch eine geringe endlagige Einschränkung der Hüftgelenksbeweglichkeit in allen Ebenen. Für die Zukunft ist die Entwicklung einer unfallsbedingten Arthrose zu erwarten. Der Kläger erlitt komprimiert eine Woche starke, 10 Tage mittlere und 12 Wochen leichte Schmerzen. Der Kläger wird in den nächsten Jahren jährlich komprimiert ca. 4 Wochen leichte Schmerzen zu erdulden haben. Die unfallsbedingte Minderung seiner Erwerbsfähigkeit beträgt 20 %.

Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, daß der Kläger gegen § 20 StVO verstoßen habe, weil er mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei und überdies durch Unaufmerksamkeit verspätet reagiert habe. Den Erstbeklagten treffe ein Mitverschulden, weil er gemäß § 58 KDV wegen des am Traktor mitgeführten Miststreuers nur eine Geschwindigkeit von 10 km/h einhalten hätte dürfen. Bei der Schmerzengeldbemessung sei von 300.000 S auszugehen. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge und änderte die erstgerichtliche Entscheidung dahin ab, daß es dem Kläger nur 75.250 S sA zuerkannte und dem Feststellungsbegehren nur zu 25 % stattgab. Das Mehrbegehren wies es ab. Es sprach aus, daß der von der Abänderung betroffene Wert des Streitgegenstandes 15.000 S, nicht aber 300.000 S und der von der Bestätigung betroffene Wert 60.000 S, nicht aber 300.000 S übersteigt. Die Revision erkannte es für zulässig, weil zur Frage des Rechtswidrigkeitszusammenhanges in einem gleichgelagerten Fall noch keine Judikatur des Obersten Gerichtshofes vorliege. Rechtlich war das Berufungsgericht der Auffassung, daß § 58 Abs 1 Z 2 lit a KDV der Sicherung des Verkehrs im allgemeinen diene und als Schutzvorschrift zu beurteilen sei. Der Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Einhalten einer nach § 58 Abs 1 Z 2 a KDV überhöhten Geschwindigkeit durch den Erstbeklagten und dem eingetretenen Unfall sei gegeben. Der Unfall wäre vermieden worden, wenn der Erstbeklagte nicht gegen die genannte Schutzvorschrift verstoßen hätte. Das Verschulden des Klägers überwiege beträchtlich, weshalb eine Verschuldensteilung im Verhältnis 3 : 1 zu seinen Lasten vorzunehmen sei. Das Schmerzengeld sei nicht releviert worden, weshalb darauf nicht mehr einzugehen sei. Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richten sich die Revisionen des Klägers und der Beklagten je aus dem Anfechtungsgrund des § 503 Abs 1 Z 4 ZPO. Der Kläger stellt den Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß jenes des Erstgerichtes wieder hergestellt werde. Die Beklagten beantragten die Abänderung der angefochtenen Entscheidung dahin, daß das gesamte Klagebegehren abgewiesen oder daß das Leistungsbegehren des Klägers nur mit 60.200 S als berechtigt erkannt und dem Feststellungsbegehren nur zu 20 % stattgegeben werde. In den Revisionsbeantwortungen beantragten die Parteien, der Revision der Gegenseite nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist unzulässig, jene der Beklagten berechtigt.

1. Zur Revision des Klägers:

Der Kläger bekämpft in seiner Revision lediglich die Verschuldensteilung des Berufungsgerichtes. Die Beurteilung des Verschuldensgrades im Einzelfall gehört aber im allgemeinen nicht zu den Rechtsfragen im Sinne des § 502 Abs 4 Z 1 ZPO (Petrasch in ÖJZ 1983, 177; 7 Ob 1503/83; 8 Ob 199/83 ua). Dies ist vom Obersten Gerichtshof, der gemäß § 508 a Abs 1 ZPO an einen Ausspruch des Berufungsgerichtes nach § 500 Abs 3 ZPO nicht gebunden ist, wahrzunehmen und hat im vorliegenden Fall die Zurückweisung der Revision zur Folge, weil diese - wie oben dargestellt wurde - nur die auf den Einzelfall abgestellte Verschuldensteilung bekämpft. Da die Beklagten in der Revisionsbeantwortung die Unzulässigkeit der Revision nicht relevieren, waren ihnen insoweit keine Kosten zuzuerkennen.

2. Zur Revision der Beklagten:

Die Revision der Beklagten ist zulässig, weil die Entscheidung des Berufungsgerichtes auf einer wesentlichen Verkennung der Rechtslage in dem für den Ausspruch über die Zulässigkeit der Revision maßgeblichen Belang beruht (vgl. 1 Ob 795/83; 3 Ob 30/84; 8 Ob 79/85; 8 Ob 529/87 ua):

Nach § 10 Abs 2 StVO haben die Lenker einander begegnender Fahrzeuge anzuhalten, wenn nicht oder nicht ausreichend ausgewichen werden kann. Daß diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall gegeben waren, kann nach den Feststellungen der Vorinstanzen nicht zweifelhaft sein. Die Verpflichtung nach § 10 Abs 2 StVO trifft beide Fahrzeuglenker in gleicher Weise. Wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat, bedeutet diese Verpflichtung aber nicht, daß die Lenker ihre Fahrzeuge unverzüglich bei erster Sicht oder bei Erkennen der Notwendigkeit anzuhalten, zum Stillstand bringen müßten. Es genügt, wenn sie ihre Fahrzeuge vor der Mitte der Sichtstrecke anhalten (ZVR 1985/75; ZVR 1980/125; ZVR 1977/52; ZVR 1974/3; 8 Ob 7/78; 8 Ob 204/77 u.a.). Dies hat der Erstbeklagte nach den getroffenen Feststellungen getan und seinen Traktor mit Anhänger innerhalb der halben Sichtstrecke zum Stillstand gebracht. Damit kommt aber der vorgängigen Einhaltung einer (geringfügig) höheren Geschwindigkeit als 10 km/h für die Beurteilung des festgestellten Unfallsherganges keine Bedeutung zu, weil vom Beklagten nicht mehr gefordert werden kann, als innerhalb der halben Sichtstrecke anzuhalten, was ihm zufolge optimaler Reaktion tatsächlich gelang. Den Erstbeklagten trifft daher kein Verschulden am Unfall.

Seiner Revision war somit Folge zu geben und wie im Spruch zu erkennen.

Der Kostenausspruch beruht auf den §§ 41, 43 Abs 1 und 50 ZPO.

Anmerkung

E14610

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1988:0020OB00065.88.0628.000

Dokumentnummer

JJT_19880628_OGH0002_0020OB00065_8800000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten