TE OGH 1988/7/5 10ObS15/88

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Veröffentlicht am 05.07.1988
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Eberhard Piso (Arbeitgeber) und Walter Hartl (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr. Felicitas K***, Diplomierte Assistentin für physikalische Medizin,

5301 Eugendorf 305, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei P*** DER

A***, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. Oktober 1987, GZ 12 Rs 1119/87-46, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 21. Mai 1987, GZ 40 Cgs 133/87-40, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 6. Juni 1984 stellte die Klägerin bei der beklagten Partei den Antrag auf eine Berufsunfähigkeitspension.

Mit Bescheid vom 23. Oktober 1984 lehnte die beklagte Partei diesen Antrag ab, weil die Klägerin nicht berufsunfähig iS des § 273 Abs 1 ASVG sei.

Die innerhalb von drei Monaten ab Zustellung dieses Bescheides erhobene, auf die abgelehnte Leistung im gesetzlichen Ausmaß gerichtete Klage stützte sich im wesentlichen darauf, daß die Klägerin wegen einer deutlichen Osteochondrose der Halswirbelsäule, einer hochgradig ausgeprägten Arthrose am Carpometacarpalgelenk I und wegen Randverplumpung verschiedener anderer Gelenke den im Rahmen eines Werkvertrages ausgeübten Beruf als Bewegungstherapeutin im Behindertenheim Konradinum nicht mehr ausüben könne, weil dabei viel Arbeit mit den Händen zu leisten sei und ununterbrochen heftige Schmerzen auftreten würden.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Das Erstgericht verurteilte die beklagte Partei, der Klägerin ab 1. Juli 1984 eine Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren.

Es ging dabei im wesentlichen von folgendem Sachverhalt aus:

Die am 20. August 1936 geborene Klägerin besuchte bis Juni 1954 die Mittelschule. Nach der Reifeprüfung wurde sie in den Schuljahren 1954/55 und 1955/56 im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien zur Physikotherapeutin ausgebildet. Sie schloß diese Ausbildung mit einer Diplomprüfung ab. Von Juli 1957 bis Dezember 1960 arbeitete sie als angestellte Physikotherapeutin in der "Physikalia", einem Wiener Institut für physikalische Medizin. Sie gab diese Beschäftigung auf, weil sie (im Wintersemester 1960/61 an der Universität Wien) das Psychologiestudium begann, das sie 1969 oder 1970 mit der Promotion abschloß. Von Oktober 1960 bis August 1962 arbeitete die Klägerin als Bürokraft der Katholischen Jugend in Wien, von September 1962 bis Oktober 1963 als Sekretärin der Katholischen Jugend Österreichs. In der Zeit von Juli 1957 bis Oktober 1963 und im Dezember 1963 war sie in der

P*** DER A*** pflichtversichert. Dann war

sie während der jeweiligen Ferienmonate bis Februar 1967 in der genannten Versicherung (freiwillig) weiterversichert. Von März bis Dezember 1967, von Februar 1968 bis April 1973 und von August 1973 bis Juni 1974 war sie wieder in der P*** DER

A*** pflichtversichert, weil sie von Februar 1968 bis März 1970 als Sekretärin im Pressebüro der Salzburger Festspiele und während der übrigen Zeiten als Physikotherapeutin in der "Physikalia" arbeitete, und zwar seit März 1970 in leitender Stellung. Von Mai bis Juli 1973 und von Juli bis September 1974 bezog die Klägerin Wochengeld. Die Monate Oktober 1974 bis August 1975 sowie Februar 1977 bis Jänner 1978 sind Ersatzzeiten nach Entbindungen. Von September 1975 bis Jänner 1977 und ab Februar 1978 war die Klägerin in der P*** DER

A*** nur mehr weiterversichert. Sie ist seit Oktober 1977 auf Grund eines Werkvertrages wöchentlich zehn Stunden als Physikotherapeutin im Konradinum, einem Heim für schwerstbehinderte Kinder in Eugendorf bei Salzburg, tätig. Während ihrer Tätigkeit in der "Physikalia" hatte sie Massagen und Heilgymnastik durchzuführen und physikotherapeutische Geräte zu bedienen. Ihre leitende Tätigkeit in diesem Institut bestand in der Bearbeitung der Krankenscheine der Patienten, in der Durchführung der Abrechnung mit den Krankenkassen und in der Überwachung des Personals bei Abwesenheit der Chefin.

Die Klägerin leidet an einer Arthrose der Daumensattelgelenke, die links stärker ausgeprägt ist als rechts, einem Cervicalsyndrom bei ausgeprägten degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule und einer angedeuteten Arthrose an mehreren

Fingerend- und -mittelgelenken. Dadurch ist die Belastbarkeit der Hände und der Halswirbelsäule herabgesetzt. Weiters besteht bei ihr eine depressive Verstimmung des körperlichen Rückbildungsalters, die im Rahmen einer sogenannten Somatisierung vorwiegend in Form von körperlichen Mißempfindungen erlebt wird. Sie ist im Hinblick auf die Konzentrationsfähigkeit für kurze Zeit auch unter Streßbedingungen gut leistungsfähig, bei längerer Dauer der Belastungen ist eine vorzeitige Ermüdbarkeit anzunehmen. Die Umstellungs- und Anlernfähigkeit sind eingeschränkt. Die Klägerin kann noch körperlich leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen leisten, muß allerdings nach zweistündigem Sitzen während einer Viertelstunde eine andere Körperhaltung einnehmen können. Nach einer Stunde Maschinschreiben muß sie eine halbe Stunde andere Arbeiten verrichten können. Diese Arbeiten kann sie in geschlossenen Räumen täglich acht Stunden verrichten. Über das pyhsiologische Maß hinausgehende Pausen sind nur nach langen Arbeitszeiten von etwa zwei bis zweieinhalb Stunden mit hohen Anforderungen an Tempo, Kontration- und Auffassungsvermögen in der zusätzlichen Dauer von 20 Minuten notwendig. Das Heben und Tragen von 10 kg übersteigenden Lasten ist unzumutbar. Bückbelastungen sollen ein Drittel der Arbeitszeit nicht übersteigen. Arbeiten, die einen festen Spitzgriff (kräftiges Gegendrücken des Daumes in Richtung der anderen Finger) erfordern, sollen vermieden werden. Der Weg zur Arbeitsstätte unterliegt keiner Beschränkung. Der festgestellte Zustand besteht etwa seit Juni 1984.

Die eingeschränkte Leistungsfähigkeit reicht für die Tätigkeit als Unterwasser- und Bewegungstherapeutin nicht mehr aus. Eine Teilung der Tätigkeit einer Physikotherapeutin in körperliche Tätigkeiten wie Massage, Unterwassertherapie ua einerseits und Bedienen von technischen Geräten anderseits ist zwar vorstellbar, wird aber nicht praktiziert. Die Tätigkeiten als Werk- oder Gemeindeschwester, in Ambulatorien oder medizinisch-diagnostischen Laboratorien, als Ambulanzschwester, in Diät- und Rekonvaleszentenheimen sowie als Ordinationsschwester bei Ärzten scheiden aus, weil die Ausbildungen für den Krankenfachdienst mit Hebe- und Tragebelastungen über 10 kg verbunden sind und große Anforderungen an das Konzentrations- und Auffassungsvermögen stellen, denen die Klägerin nicht mehr gewachsen wäre. Daraus zog das Erstgericht den rechtlichen Schluß, daß die der Berufsgruppe der Physikoterapeuten angehörende Klägerin in dieser Berufsgruppe nicht mehr arbeiten könne. Eine Verweisung auf eine allgemeine Büro- oder Verwaltungstätigkeit sei deshalb nicht zulässig, weil solche Tätigkeiten in der Regel nicht von diplomierten Physikotherapeuten durchgeführt werden und weil diese dabei auch ihre spezifischen Kenntnisse nicht einsetzen könnten. Die Ausbildung der Physikotherapeuten sei der von Büroangestellten, die andere Kenntnisse voraussetzten, nicht ähnlich, weshalb eine Verweisung auf Bürotätigkeiten ausscheide. Auf Tätigkeiten im Krankenpflegefachdienst könne die Klägerin ebenfalls nicht verwiesen werden. Einen ihrem akademischen Studium entsprechenden Beruf habe die Klägerin nie ausgeübt, weshalb sie auch diesbezüglich nicht verwiesen werden könne. Sie sei daher berufsunfähig iS des § 273 Abs 1 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtiger Tatsachenfeststellung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der beklagten Partei nicht Folge.

Es vertrat die Ansicht, daß die reinen Bürotätigkeiten der Klägerin schon so lange Zeit zurücklägen, daß bei der Verweisungsprüfung nur vom Berufsbild einer Physikotherapeutin ausgegangen werden könne und teilte auch die übrigen Rechtsausführungen des Erstgerichtes. Auch die Mängel- und Beweisrüge fand es nicht berechtigt.

Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klageabweisenden Sinne abzuändern oder die vorinstanzlichen Entscheidungen zwecks Rückverweisung an die erste Instanz aufzuheben.

Die Klägerin erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs 2 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist nicht berechtigt. Weil die Klägerin das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist ihre Berufsunfähigkeit nach § 273 Abs 1 ASVG zu beurteilen. Sie würde daher als berufsunfähige gelten, wenn ihre Arbeitsfähigkeit infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken wäre.

Den Begriff der Berufsunfähigkeit gab es in der

P*** DER A*** schon lange vor dem ASVG.

Nach § 27 des BG 29. Dezember 1926 BGBl 388 betreffend die Kranken-, Stellenlosen-, Unfall- und P*** DER

A*** (AngVG) hatte der ... Versicherte Anspruch auf die Invaliditätsrente, wenn er berufsunfähig geworden war, daß heißt wegen körperlicher Gebrechen oder wegen Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte dauernd außerstande war, den Pflichten seiner letzten Berufsstellung nachzukommen oder eine andere Beschäftigung auszuüben, die ihm mit Rücksicht auf seine bisherige Beschäftigung, praktische Ausbildung und Vorbildung billigerweise zugemutet werden konnte (Satz 1). Mit dieser Formulierung wurde die Verweisungsproblematik erstmals bewußt in das österreichische Pensionsversicherungsrecht getragen (so auch Schrammel, Zur Problematik der Verweisung in der PV und UV ZAS 1984, 83 (85). Die zit Gesetzesstelle wurde im § 253 des BG BGBl 1935/107 betreffend die gewerbliche Sozialversicherung (GSVG) wörtlich übernommen. Nach der RV zum GSVG wurde die Bezeichnung "Berufsunfähigkeit" statt des im Pensionsversicherungsgesetz 16. Dezember 1906 RGBl 1907/1 gebrauchten Ausdrucks "Erwerbsunfähigkeit" gewählt, weil es sich nicht um eine Unfähigkeit zum Erwerbe überhaupt, sondern nur zur Ausübung eines bestimmten

Berufes handle ... Der Kreis der (zumutbaren) Beschäftigungen decke

sich ... mit dem Kreise derjenigen Verwendungen, die dem bisherigen

Berufszweige des Versicherten zuzuzählen oder höher zu bewerten seien (Zitat nach Kerber, Die gewerbliche Sozialversicherung nach dem Stande vom 15. März 1936, 442). Kerber kommentiert aaO 443 ff, die Berufsunfähigkeit sei nicht auf die letzte versicherungspflichtige Stellung, sondern auf die letzte Berufsstellung abgestellt, dh auf jene Leistungsfähigkeit, welche im allgemeinen zur Versehung der Dienstobliegenheiten jener Berufsgruppe im engeren Sinne erforderlich sei, der der Versicherte während der letzten Zeit vor Eintritt des Versicherungsfalles, nicht aber nur in seiner letzten Dienststellung angehört habe. Das Wort "Berufsstellung" bringe deutlich zum Ausdruck, daß es nicht auf die Arbeitsfähigkeit, gemessen an den Verhältnissen des allgemeinen Arbeitsmarktes ankomme, auch nicht auf die Fähigkeit, die letzte konkrete Tätigkeit mit allen ihren Einzelheiten auszuüben, sondern daß die Fähigkeit, im allgemeinen den Aufgaben der Berufsgruppe des Versicherten im engeren Sinn oder wenigstens den Aufgaben von innerlich benachbarten, annähernd gleichwertigen Berufsgruppen gerecht werden zu können, ausschlaggebend sei. Was sich im Einzelfall als Berufsgruppe des Versicherten oder als innerlich benachbarte gleichwertige Berufsgruppe darstelle, werde nach Lage der Umstände von Fall zu Fall entschieden werden müssen. Sei die Versicherung freiwillig fortgesetzt worden, müsse bei Feststellung der Berufsunfähigkeit die Vergleichung von jener Berufsgruppe ausgehen, der der Versicherte zuletzt während der Versicherungspflicht bzw bei freiwilliger Fortsetzung der bisherigen Selbstversicherung als Selbstversicherer durch nennenswerte Zeit angehört habe. Die Zumutbarkeit einer anderen Beschäftigung sei immer vom sozialen und nicht vom wirtschaftlichen Standpunkte aus zu beurteilen; die andere Beschäftigung müsse also gesellschaftlich mit der bisherigen Beschäftigung, praktischen Ausbildung und Vorbildung vereinbar sein.

§ 253 Satz 1 GSVG wurde in der Folge geringfügig novelliert und hatte zuletzt im wiederverlautbarten GSVG 1938 folgenden Wortlaut:

"Anspruch auf die Invaliditätsrente hat der unmittelbar Versicherte, solange er berufsunfähig ist, das heißt wegen eines körperlichen Gebrechens oder wegen der Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte dauernd außerstande ist, den Pflichten seiner letzten Berufstellung nachzukommen oder eine andere Beschäftigung auszuüben, die ihm mit Rücksicht auf seine bisherige Beschäftigung, praktische Ausbildung und Vorbildung billigerweise zugemutet werden kann."

Im deutschen Sozialversicherungsrecht wurde der Begriff der Berufsunfähigkeit zunächst nur für die Rentenversicherung der Angestellten geprägt, bei deren Einführung im Jahre 1913 Wert darauf gelegt wurde, den Angestellten anders als den Lohnarbeitern eine Rente schon zuzuerkennen, wenn sie im bisher ausgeübten oder einem anderen Beruf ihrer Berufsgruppe nicht mehr wettbewerbsfähig waren. Nach der bis 31. Dezember 1956 geltenden Fassung des § 27 Reichsangestelltenversicherungsgesetz galt der Versicherte als berufsunfähig, dessen Arbeitsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken war. Der Versicherte durfte also nicht mehr in der Lage sein, in seinem oder in einem anderen zumutbaren Beruf die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen. Welcher Beruf im Einzelfall als zumutbar anzusehen war, war im § 27 RAVG nicht ausdrücklich geregelt. Nach Rechtsprechung, Lehre und Praxis war die Arbeitsfähigkeit des Versicherten für alle Berufe und Tätigkeiten zu prüfen, die eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzten, wie sie der Versicherte besaß. Für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit war daher nicht nur die zuletzt ausgeübte Beschäftigung maßgebend, sondern die Gesamtheit der in der Berufsgruppe des Versicherten vorkommenden Tätigkeiten. Bei nicht mehr versicherungspflichtigen Personen war die Berufsgruppe maßgebend, welcher der Versicherte während der Angestelltenversicherungspflicht angehörte. Innerhalb der Berufsgruppe kamen alle Tätigkeiten in Betracht, die dem Versicherten nach seiner Ausbildung, seinen Kenntnissen und Fähigkeiten zuzumuten waren. Unter Berücksichtigung des gesamten Arbeitsmarktes war auch die Verweisung auf Tätigkeiten weniger qualifizierter Art zulässig, wenn damit kein wesentlicher sozialer Abstieg verbunden war (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung III 31. Nachtrag 763 ff).

Der seit 1. Jänner 1939 auch dem österreichischen Rechtsbestand angehörende § 27 RAVG wurde mit fast unverändertem Wortlaut als § 273 in das ASVG übernommen, wobei es nur wegen eines Redaktionsversehens statt "eines körperlich und geistig gesunden Versicherten" "eines körperlich oder geistig gesunden Versicherten" hieß. Die RV zum ASVG 599 BlgNR 7. GP 89 begnügte sich mit dem Hinweis, daß der im § 273 vorgesehene Begriff der Berufsunfähigkeit dem des geltenden Rechtes gleich sei.

Durch die 9. ASVGNov BGBl 1962/13 erhielt § 273 folgende Fassung:

"Als berufsunfähig gilt der Versicherte, dessen Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Häfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist."

Diese Novellierung behob den schon erwähnten Redaktionsfehler und paßte den Text durch die Formulierung "infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes" ua an den neugefaßten § 255 ASVG an, brachte aber keine inhaltlichen Änderungen. Der Initiativantrag der Abg Uhlir und Gen zur

9. ASVGNov 517 BlgNR 9. GP 86 führte dazu aus, daß sich eine Reformierung des Begriffes Berufsunfähigkeit bisher nicht als notwendig erwiesen habe. ... Der Begriff Berufsunfähigkeit in der P*** DER A*** sei eng mit der spezifischen

Tätigkeit des Angestellten verbunden. Wenn auch für eine Leistung wegen Berufsunfähigkeit vorausgesetzt werden müsse, daß der Grund für die Unfähigkeit, den Beruf auszuüben, in der körperlichen oder geistigen Verfassung des Angestellten liege, so sei nicht schlechthin für die Berentung der Umstand maßgebend, daß der Angestellte nicht mehr in der Lage sei, ein bestimmtes Mindestentgelt zu verdienen. Dieses Unvermögen, ein bestimmtes Mindestentgelt zu verdienen, brauche nur in seinem bisher ausgeübten Beruf bzw. diesem ähnlichen Beruf zu bestehen. Die enge Bindung an den bisherigen Beruf lasse es auch nur zu, daß der Angestellte auf solche andere Berufe verwiesen werden könne, die eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen. Eine Verweisung auf artfremde Berufe sei nicht möglich. Dies zeige sehr deutlich, daß die P*** DER A***, was

die Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit anlange, eine echte Berufsversicherung sei. Durch die 32. ASVGNov BGBl 1976/704 erhielt der bisherige Inhalt des § 273 ASVG die Bezeichnung Abs 1; als 2. Absatz wurde angefügt:

"§ 255 Abs 4 gilt entsprechend."

Lehre und Rechtsprechung sind bei der Auslegung des § 273 (Abs 1) ASVG im wesentlichen den oben wiedergebenen Überlegungen zu den bis 31. Dezember 1938 geltenden österreichischen und sodann in Österreich bis 31. Dezember 1955 geltenden reichsrechtlichen Bestimmungen gefolgt, wonach es sich bei der P***

DER A*** um eine Berufs(gruppen)versicherung handelt, deren Leistungen bereits einsetzen, wenn der Versicherte infolge seines körperlichen und/oder geistigen Zustandes einen Beruf seiner Berufsgruppe nicht mehr ausüben kann. Dabei ist von jenem Angestelltenberuf auszugehen, den der Versicherte zuletzt ausgeübt hat. Dieser Beruf bestimmt das Verweisungsfeld, dh die Summe aller Berufe, die derselben Berufsgruppe zuzurechnen sind, weil sie eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen (vgl den oben zit Initiativantrag; Tomandl, Grundriß des österreichischen Sozialrechts3 48 f und die dort in FN 18 zitierte Literatur Schrammel aaO insb 87 und 89; Teschner in Tomandl SV-System 3. ErgLfg 368 und die Judikaturhinweise in MGA ASVG 1372 ff). Dabei kann aber jedenfalls nur ein Beruf berücksichtigt werden, der nicht nur vorübergehend ausgeübt wurde. Bei Anwendung dieser zutreffenden Auslegungsergebnisse ergibt sich im vorliegenden Fall:

Die Klägerin unterzog sich nach bestandener Reifeprüfung zunächst einer zweijährigen schulmäßigen Ausbildung für den physikotherapeutischen Dienst, die sie mit einer Diplomprüfung abschloß. Sie ist Diplomierte Assistentin für physikalische Medizin und daher berechtigt, den zu den gehobenen medizinisch-technischen Diensten gehörenden physikotherapeutischen Dienst berufsmäßig auszuüben. Dieser Dienst umfaßt nach § 26 Abs 1 Krankenpflegegesetz die Ausführung physikalischer Behandlungen nach ärztlicher Anordnung zu Heilzwecken. Hiezu gehören insbesondere alle elektrotherapeutischen Behandlungen, ferner die Thermo-, Photo-, Hydro- und Balneotherapie sowie die Mechanotherapie (Heilgymnastik, Massage und Ultraschallbehandlung). Dieser Dienst kann auch freiberuflich ausgeübt werden.

Die Klägerin übte diesen erlernten Beruf als Angestellte in einem Institut für physikalische Medizin von Juli 1957 bis Dezember 1960, von März 1967 bis Februar 1968 und schließlich von April 1970 bis April 1973 und von August 1973 bis Juni 1974 aus. Seither ist sie freiwillig weiterversichert. Seit Oktober 1977 übt sie diesen Dienst wöchentlich 10 Stunden freiberuflich in einem Heim für schwerstbehinderte Kinder aus.

Daß die Klägerin den erlernten und während eines Großteils und in den letzten Jahren der Pflichtversicherung ausschließlich ausgeübten Beruf nicht mehr ausüben und daher innerhalb ihrer Berufsgruppe nicht mehr arbeiten kann, wird in der Revision nicht bestritten. Die Revisionswerberin vermeint aber, die Klägerin könne noch auf Bürotätigkeiten allgemeiner Art verwiesen werden. Es ist zwar richtig, daß die Klägerin von Oktober 1960 bis August 1962 als Bürokraft und von September 1962 bis Oktober 1963 sowie von Februar 1968 bis März 1970 als Sekretärin tätig war. Diese Beschäftigungszeiten liegen nicht nur schon sehr lange zurück, sondern fallen in die Zeit des im Wintersemester 1960/61 begonnenen, 1969/70 abgeschlossenen Psychologiestudiums, erforderten keine besondere Ausbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten und standen mit dem erlernten, bis dahin sowie teilweise während und nach dem erwähnten Studium ausgeübten Beruf einer Diplomierten Assistentin für physikalische Medizin in keinem Zusammenhang. Sie dürften im wesentlichen der Finanzierung des Universitätsstudiums gedient haben. Die nur vorübergehend ausgeübten Tätigkeiten als Bürokraft und Sekretärin treten daher gegenüber dem erlernten, überwiegend und zuletzt ausgeübten Beruf im physikotherapeutischen Dienst so in den Hintergrund, daß eine Verweisung außerhalb der letztgenannten Berufsgruppe unzumutbar wäre.

Der Revision war daher nicht Folge zu geben.

Anmerkung

E15557

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1988:010OBS00015.88.0705.000

Dokumentnummer

JJT_19880705_OGH0002_010OBS00015_8800000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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