Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Melber und Dr. Kropfitsch als Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1) Karl E***, Arbeiter, Hinterholz 14, 4310 Mauthausen, und 2) Herta E***, Hausfrau, ebendort wohnhaft, beide vertreten durch Dr. Wolfgang Dartmann, Rechtsanwalt in Linz, wider die beklagten Parteien 1) Herta F***, Hausfrau, Sebern 27, 4331 Naarn, 2) Karl F***, Arbeiter, ebendort wohnhaft, und 3) W*** A*** Versicherungs-AG, Hietzinger Kai 101-105, 1130 Wien, alle vertreten durch Dr. Andreas Karbiener, Rechtsanwalt in Schwanenstadt, wegen S 106.855,50 sA und Feststellung (S 5.000,--), Revisionsstreitwert S 74.570,33, infolge Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes vom 14. Jänner 1988, GZ 6 R 287/87-25, womit infolge Berufung der klagenden und der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichtes Linz vom 19. August 1987, GZ 3 Cg 211/86-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Entscheidung insgesamt wie folgt zu lauten hat:
Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der erst- und der zweitklagenden Partei je einen Betrag von S 53.427,75 samt 4 % Zinsen seit 29. Jänner 1986 binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Es wird festgestellt, daß die beklagten Parteien zur ungeteilten Hand den klagenden Parteien gegenüber für sämtliche künftigen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 6. Juli 1985 auf der Machland-Landesstraße bei Straßenkilometer 6,0, bei dem der Sohn der klagenden Parteien Christian E*** getötet wurde, haften, die drittbeklagte Partei jedoch nur im Rahmen des zur Unfallszeit bezüglich des PKW mit dem Kennzeichen O-147.749 bestehenden Haftpflichtversicherungsvertrages.
Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, den klagenden Parteien die mit S 29.873,82 bestimmten Kosten des Verfahrens in erster Instanz (darin Barauslagen von S 10.024,95 und Umsatzsteuer von S 1.804,44), die mit S 15.386,89 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin Barauslagen von S 4.000,-- und Umsatzsteuer von S 1.035,17) und die mit S 8.906,95 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin Barauslagen von S 5.000,-- und Umsatzsteuer von S 355,18) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 6. Juli 1985 ereignete sich gegen 12,35 Uhr auf der Machland-Landesstraße bei Km 6,0 (Freilandgebiet) im Bereich der Einmündung der nach § 19 Abs 4 StVO benachrangten Oberwagramer Gemeindestraße ein Verkehrsunfall, an dem Christian E***, der Sohn der Kläger, als Halter und Lenker des Motorrades mit dem Kennzeichen O-47.766 und die Erstbeklagte als Lenkerin des PKW mit dem Kennzeichen O-147.749 beteiligt waren. Der Zweitbeklagte ist der Halter, die Drittbeklagte der Haftpflichtversicherer des letztgenannten Kraftfahrzeuges. Christian E*** fuhr mit seinem Motorrad auf der Machland-Landesstraße in Richtung Mauthausen. Die Erstbeklagte bog mit dem von ihr gelenkten PKW aus der Oberwagramer Gemeindestraße nach rechts in die Machland-Landesstraße ein. Christian E*** bremste und verlenkte sein Motorrad nach links, stürzte und kollidierte mit einem entgegenkommenden PKW. Dabei wurde er getötet. Wegen dieses Verkehrsunfalles wurde zu 22 E Vr 2798/85 des Landesgerichtes Linz gegen die Erstbeklagte ein Strafverfahren eingeleitet; sie wurde rechtskräftig gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.
Im vorliegenden Rechtsstreit begehrten die Kläger aus dem Rechtsgrund des Schadenersatzes aus diesem Verkehrsunfall (§ 1327 ABGB) die Verurteilung der Beklagten zur ungeteilten Hand zur Zahlung von je S 53.427,75 sA an jeden der beiden Kläger (Todfallskosten); überdies stellten sie ein auf Feststellung der Haftung der Beklagten zur ungeteilten Hand (der Drittbeklagten im Rahmen des Haftpflichtversicherungsvertrages) für künftige Schäden gerichtetes Feststellungsbegehren. Der Höhe nach ist das Leistungsbegehren der Kläger nicht mehr strittig; auch ihr Feststellungsinteresse ist unbestritten. Dem Grunde nach stützten die Kläger ihr Begehren im wesentlichen auf die Behauptung, daß die Erstbeklagte das Alleinverschulden an diesem Verkehrsunfall treffe, weil sie den Vorrang des Motorradlenkers Christian E*** verletzt habe. Sie sei mit dem von ihr gelenkten PKW zu einem Zeitpunkt in die bevorrangte Machland-Landesstraße eingefahren, als sie den herankommenden Motorradlenker bereits sehen habe können. Christian E*** habe sofort ein Bremsmanöver eingeleitet, um einen Zusammenstoß mit dem von der Erstbeklagten gelenkten PKW zu vermeiden. Dadurch sei er mit seinem Motorrad auf die linke Fahrbahnhälfte abgekommen und in der Folge gegen den entgegenkommenden PKW des Alois G*** gestoßen.
Die Beklagten wendeten dem Grunde nach im wesentlichen ein, das Alleinverschulden an diesem Verkehrsunfall treffe den Motorradlenker Christian E***. Dieser habe offensichtlich die Geschwindigkeit des bereits in seiner Fahrtrichtung auf der Machland-Landesstraße fahrenden, von der Erstbeklagten gelenkten PKW falsch eingeschätzt und in der Folge unsachgemäß gebremst; dadurch sei er mit seinem Fahrzeug ins Schleudern geraten und auf die linke Fahrbahnhälfte gekommen.
Das Erstgericht verurteilte, ausgehend von einer Verschuldensteilung im Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten des getöteten Motorradfahrers, die Beklagten zur ungeteilten Hand zur Zahlung von je S 17.809,25 sA an jeden der beiden Kläger; dem Feststellungsbegehren der Kläger gab es in Ansehung eines Drittels ihrer künftigen Schäden aus diesem Verkehrsunfall statt. Das auf Zahlung weiterer Beträge von je S 35.618,50 sA gerichtete Leistungsmehrbegehren der beiden Kläger und ihr Feststellungsmehrbegehren wies es ab.
Den gegen diese Entscheidung gerichteten Berufungen beider Streitteile gab das Berufungsgericht mit dem angefochtenen Urteil keine Folge. Es billigte die vom Erstgericht vorgenommene Verschuldensteilung und sprach aus, daß der von der Bestätigung betroffene Wert des Streitgegenstandes für jeden der beiden Kläger S 60.000,-- übersteigt, insgesamt aber S 300.000,-- nicht übersteigt; die Revision nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO sei nicht zulässig. Die Vorinstanzen gingen im wesentlichen von folgenden Feststellungen über den Unfallsablauf aus:
Die Unfallstelle befindet sich auf der im Unfallsbereich asphaltierten 6,65 m breiten Machland-Landesstraße. In Fahrtrichtung des Motorradlenkers Christian E*** krümmt sich die Straße leicht nach rechts bei der von der Erstbeklagten benützten Ausfahrt der Oberwagramer Gemeindestraße vorbei. Diese hat eine "Richtlänge" von 25 m. Vom Standpunkt der einbiegenden Erstbeklagten (mit der vorderen Stoßstange an der Fluchtlinie der Machland-Landesstraße) hat man Sicht nach links (in die Ankommrichtung des Motorradfahrers) von 85 m.
Christian E*** fuhr mit seinem Motorrad auf der Machland-Landesstraße; zur gleichen Zeit bog die Erstbeklagte von der Oberwagramer Gemeindestraße in die Machland-Landesstraße ein, sodaß sie nach Abschluß des Einbiegemanövers in die gleiche Richtung fuhr wie der nachfolgende Motorradlenker.
Die Geschwindigkeit des Motorradfahrers betrug zwischen 87 und 105 km/h; er fuhr auf Sicht. Der Alarmpunkt des Motorradlenkers lag bei einer angenommenen Geschwindigkeit von 87 km/h bei ca 73 m bzw. 4,2 Sekunden vor dem Zusammenstoß. Rechnet man die Reaktionszeit dazu, betrug die für das Setzen der Abwehr zurückgelegte Strecke 84 m. Der Anhalteweg aus 87 km/h beträgt - nach Ablauf einer Reaktionszeit von einer Sekunde und einer Bremsschwellzeit von 0,2 Sekunden bei einer Verzögerung von etwa 7 m/sec2 unter spurhaltendem Betätigen beider Bremsen - 68 m, aus 105 km/h 93 m. Bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von etwa 105 km/h lag der Alarmpunkt 87 m bzw 4 Sekunden vor dem Zusammenstoß. Für den Motorradfahrer bestand Sicht auf die Fahrbahn der Machland-Landesstraße auf rund 95 m.
Die Erstbeklagte legte vom Beginn ihres Einbiegemanövers bis zu dem Zeitpunkt, als sie die Kollision wahrnahm, 29 m zurück. Dabei erreichte der PKW eine Beschleunigung von 1,5 bis 2 m/sec2, wobei die Geschwindigkeit eher kontinuierlich erhöht wurde. Bei Annahme einer Beschleunigung von 1,5 m/sec2 hätte die Erstbeklagte am Ende der 29 m langen Strecke nach einer Zeitspanne von 6,3 Sekunden eine Geschwindigkeit von 35 km/h erreicht, bei Annahme einer Beschleunigung von 2 m/sec2 in der Zeit von etwa 5,4 Sekunden eine Geschwindigkeit von 38 bis 39 km/h.
Der Motorradfahrer reagierte auf das Einfahren der Erstbeklagten 4 bis 4,2 Sekunden vor der Kollision durch ein Bremsmanöver und durch Auslenken nach links. Auf der von ihm aus gesehen linken Fahrbahnseite stieß er sodann mit dem entgegenkommenden PKW des Alois G*** zusammen. Die Kollisionsgeschwindigkeiten dieser beiden Fahrzeuge betrugen 40 km/h (Motorrad) und 36 km/h (PKW des G***).
Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt im wesentlichen dahin, daß der Erstbeklagten, wenn man von einer Beschleunigung ihres PKW von 2 m/sec2 ausgehe, vorzuwerfen sei, daß sie beim Blick nach links den Motorradfahrer sehen hätte müssen. Daß sie ihn übersehen habe bzw daß sie, falls sie ihn gesehen habe, trotzdem in die Kreuzung eingefahren sei, sei ihr als Vorrangverletzung vorzuwerfen. Sie hätte den Unfall auch leicht verhindern können, da sie spätestens nach einer Fahrstrecke von 40 cm, als der PKW erst mäßig in die Fahrbahn hineingeragt habe, den Motorradfahrer hätte sehen können.rGehe man von einer Beschleunigung des PKW mit 1,5 m/sec2 aus, dann sei der Erstbeklagten vorzuwerfen, daß sie mit ihrem PKW die rechte Fahrbahnhälfte blockiert habe, wodurch sie den Motorradlenker zum Bremsen bzw Auslenken genötigt habe. In beiden Fällen sei aber dem Motorradfahrer ein Mitverschulden anzulasten. Da für ihn die Möglichkeit bestanden habe, das Motorrad anzuhalten, habe er verspätet oder falsch reagiert. Vor allem dann, wenn ein Motorradfahrer, wie im vorliegenden Fall, mit einer hohen Geschwindigkeit von an die 100 km/h unterwegs sei, könne von ihm erwartet werden, daß er auf gefährliche Situationen richtig reagiere, also dosiert bremse. Hier habe der Motorradlenker falsch reagiert; hätte er doch, da er auf Sicht gefahren sei, das Motorrad noch vor dem einfahrenden PKW der Erstbeklagten anhalten können. Auf Grund der Gefährlichkeit des Lenkens eines Motorrades und der Tatsache, daß bei richtiger Reaktion nichts passiert wäre, wiege das Verschulden des Motorradlenkers schwerer als das der Erstbaklagten; es sei eine Schadensteilung im Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten des Motorradlenkers vorzunehmen.
Das Berufungsgericht führte rechtlich im wesentlichen aus, der Motorradfahrer habe auf jeden Fall eine für sein Fahrkönnen zu hohe Geschwindigkeit eingehalten. Stehe eine Vorrangverletzung durch die Erstbeklagte nicht fest, könne ihm auch nicht der Grundsatz zugute gehalten werden, daß im Rahmen des § 11 EKHG eine verfehlte Reaktion gegenüber dem grob verkehrswidrigen Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers - und das wäre eine Vorrangverletzung, die noch dazu den bevorrangten Kraftfahrer zu einer unvermittelten Reaktion veranlaßt hätte - zu vernachlässigen sei. Zu Gunsten der Erstbeklagten müsse vielmehr nach den Beweislastregeln (nämlich dem notwendigen Verschuldensnachweis im Bereich einer über die bloße EKHG-Haftung hinausgehenden Schadenersatzpflicht nach dem ABGB) davon ausgegangen werden, daß eine Vorrangverletzung dann nicht mehr vobliege, wenn der nachkommende Motorradfahrer nicht schon durch das Einfahren des PKW, sondern erst durch die geringere Gescheiedigkeit des bereits in den Vorrangverkehr eingeordneten Verkehrsteilnehmers seinerseits gehalten werde, auch sein Fahrtempo zu verringern. Zwar begründe auch ein auffallend langsames Fahren im Rahmen des § 20 StVO eine irgendwie mit den Grundsätzen des § 19 Abs 7 StVO vergleichbare Haftung, um nicht Fahrzeuglenkern, die aus einer im Nachrang befindlichen Seitenstraße in eine stark frequentierte Vorrangstraße einfahren, diesen Vorgang überhaupt unmöglich zu machen. Nur aus diesem Grund werde eine Vorrangverletzung nur dann angenommen, wenn der Lenker des bevorrangten Fahrzeuges damit zu einem Ausweichen oder zum unvermittelten Bremsen veranlaßt worden sei. Ein durch betont langsame Fahrweise bedingtes, also an sich gar nicht notwendiges Verzögern des fließenden Verkehrs könne aber nicht etwa durch einen Umkehrschluß aus § 19 Abs geS$VO entschuldigt werden. Nach den Beweislastregeln bleibe jedoch für ein Mitverschulden der Erstbeklagten, die nur als Lenkerin nach den Bestimmungen des ABGB in Anspruch genommen werden könne, nur mehr dieser Vorwurf einer Vorrangverletzung oder doch eine betont langsame Fahrweise, für den Sohn der Kläger hingegen eine mit seinem Fahrkönnen offenbar nicht mehr übereinstimmende Geschwindigkeit bzw zu geringe Bremsbereitschaft. Berücksichtige man auch die Ausführungen des Kraftfahrzeugsachverständigen, die das Erstgericht mit seinen Details ganz offenkundig seiner Entscheidung zugrunde gelegt habe, bestünden keine Bedenken gegen eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 1 : 2 zum Nachteil der Kläger. Schließlich habe der Sohn der Kläger sein Augenmerk nur auf das sich vor ihm abspielende Verkehrsgeschehen zu richten brauchen, während unter den gegebenen Verhältnissen doch von der Erstbeklagten verlangt werde, daß sie auch noch während des Einfahrens den nachkommenden bzw den von links herankommenden Verkehr beachten hätte sollen, um ihr Fahrtempo darauf abzustellen, womit man eher an die Grenze der menschlichen Simultankapazität herankomme.
Seinen Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO begründete das Berufungsgericht damit, daß es hier um die Frage einer Verschuldensteilung gehe, die, von grundsätzlichen Erwägungen abgesehen, der Entscheidung durch den Obersten Gerichtshof entrückt sein sollte.
Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichtes richtet sich die außerordentliche Revision der Kläger. Sie bekämpfen sie aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung im Sinne des § 503 Abs 2 ZPO mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der vollinhaltlichen Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Die Beklagten haben eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag erstattet, die Revision der Kläger als unzulässig zurückzuweisen, allenfalls ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist entgegen der in der Revisionsbeantwortung der Beklagten vertretenen Rechtsansicht im Sinne des § 502 Abs 4 Z 1 ZPO zulässig, weil das Berufungsgericht, wie sich aus den folgenden Rechtsausführungen ergibt, in mehrfacher Hinsicht von der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abgegangen ist. Sie ist auch sachlich berechtigt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes soll durch § 19 Abs 7 StVO sichergestellt werden, daß der Wartepflichtige nicht nur durch den Beginn seines die Fahrweise des Vorrangberechtigten allenfalls beeinträchtigenden Fahrmanövers (Kreuzen, Einbiegen oder Einordnen), sondern durch die Durchführung dieses Fahrmanövers bis zu seiner Beendigung den Vorrangberechtigten nicht in der in dieser Gesetzesstelle dargestellten Weise behindern, also zu unvermitteltem Bremsen oder zum Ablenken seines Fahrzeuges nötigen darf (ZVR 1979/244; ZVR 1983/51; ZVR 1984/134; ZVR 1987/67 uva). Hat ein Wartepflichtiger einen Vorrangberechtigten in der im § 19 Abs 7 StVO dargestellten Weise behindert, kommt es nicht entscheidend darauf an, ob ein allfälliger Zusammenstoß noch innerhalb oder schon außerhalb des Kreuzungsbereiches erfolgt (ZVR 1980/42; ZVR 1982/238; ZVR 1984/310; ZVR 1985/154 uva). Bei schlechten Sichtverhältnissen ist der im Nachrang befindliche Kraftfahrer verpflichtet, an einer Kreuzung seine Geschwindigkeit bis zu einem "Vortasten" (langsames etappenweises Vorrollen des Fahrzeuges bis zur Erlangung der erforderlichen Sicht) herabzumindern, um den Vorrang eines auf der bevorrangten Verkehrsfläche herankommenden Fahrzeuges wahren zu können (ZVR 1978/279; ZVR 1979/65; ZVR 1987/34; ZVR 1987/66 uva). Hingegen ist der im Vorrang befindliche Verkehrsteilnehmer nicht verpflichtet, seine zulässige Geschwindigkeit allein wegen der Annäherung an eine Kreuzung mit einer Straße ohne Vorrang oder deshalb herabzusetzen, weil diese Querstraße schlecht einzusehen ist (ZVR 1979/64; ZVR 1984/204; ZVR 1985/41; ZVR 1985/76 uva). Nach den Feststellungen der Vorinstanzen fuhr die benachrangte Erstbeklagte 5,4 bis 6,3 Sekunden vor der Kollision des Motorrades mit dem entgegenkommenden PKW des Alois G*** in die Kreuzung ein, worauf der Motorradlenker - unter Berücksichtigung einer Reaktionszeit von einer Sekunde - 5 bzw 5,2 Sekunden vor der Kollision mit dem Entschluß zur Einleitung eines Brems- und Ausweichmanövers reagierte. Aus diesem zeitlichen Zusammenhang erscheint eindeutig klargestellt, daß es sich bei dem Brems- und Ausweichmanöver des getöteten Motorradfahrers um eine Reaktion auf die Behinderung seiner Weiterfahrt mit der bisher von ihm eingehaltenen Geschwindigkeit und in der von ihm bisher eingehaltenen Fahrlinie durch den in die Machland-Landesstraße einfahrenden, von der Erstbeklagten gelenkten PKW handelte. Daß er durch diese Fahrweise der Erstbeklagten zum unvermittelten Bremsen und zum Auslenken seines Fahrzeuges gezwungen wurde, ergibt sich daraus, daß er trotz sofortiger Reaktion auf das Einfahren des PKW in die Landesstraße (eine Reaktionsverspätung ist dem getöteten Motorradfahrer nicht anzulasten; dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, daß der anfahrende PKW für den Motorradfahrer erst einen gewissen Auffälligkeitswert erlangen mußte, um für ihn als Gefahrenquelle erkennbar zu sein) durch Einleitung eines Brems- und Auslenkmanövers nicht mehr in der Lage war, das Motorrad hinter dem von der Erstbeklagten gelenkten PKW in den fließenden Verkehr einzuordnen.
Die solcherart aus den Feststellungen der Vorinstanzen der Erstbeklagten jedenfalls anzulastende objektive Vorrangverletzung ist ihr auch subjektiv als Verschulden vorzuwerfen, weil sie bei der aus ihrer Anhalteposition gegebenen Sichtmöglichkeit nach links von nur 85 m (diese Strecke wird bei einer im Freilandgebiet zulässigen Geschwindigkeit von 100 km/h in rund 3 Sekunden durchfahren) im Sinne der oben wiedergegebenen Rechtsprechung zum Vortasten bis zur Erlangung ausreichender Sicht verpflichtet gewesen wäre (ZVR 1987/66 mwN uva). Dieser Verpflichtung kam die Erstbeklagte aber nicht nach, wenn sie aus ihrer festgestellten Anhalteposition in einem Zug mit einer kontinuierlichen Beschleunigung von 1,5 bis 2 m/sec2 in die Kreuzung einfuhr.
Es zeigt sich somit, daß der Erstbeklagten ganz eindeutig eine Vorrangverletzung im Sinne des § 19 Abs 4 StVO anzulasten ist. Hingegen kann nach den Feststellungen der Vorinstanzen dem getöteten Motorradfahrer ein zur Kürzung der Schadenersatzansprüche der Kläger führendes Mitverschulden, für das die Beklagten die Beweislast trifft, sodaß Unklarheiten im erhobenen Sachverhaltsbild zu ihren Lasten gehen (ZVR 1976/194 uva), nicht angelastet werden. Seine Fahrgeschwindigkeit (hier kann zu seinen Gunsten nur von einer Geschwindigkeit von 87 km/h ausgegangen werden) ist nach den Vorschriften des § 20 Abs 1 und Abs 2 StVO nicht zu beanstanden. Wegen der bloßen Annäherung an die Einmündung einer benachrangten Straße war er zur Herabsetzung dieser Geschwindigkeit nicht verpflichtet. Auf die Vorrangverletzung der Erstbeklagten hat er, wie oben ausgeführt, ohne erkennbaren Reaktionsverzug durch Einleitung eines Brems- und Auslenkmanövers reagiert. Daß sein im Zuge dieses Abwehrmanövers erfolgter Sturz auf einen Fahrfehler zurückzuführen wäre, läßt sich den Feststellungen der Vorinstanzen nicht entnehmen. Selbst wenn dies aber zuträfe, käme einem solchen Fahrfehler im Zuge einer Abwehrreaktion auf die Vorrangverletzung der Erstbeklagten nur so geringes Gewicht zu, daß er gegenüber dem grob verkehrsordnungswidrigen Fehlverhalten der Erstbeklagten zu vernachlässigen wäre.
Es besteht unter diesen Umständen kein Anlaß für eine Kürzung der Schadenersatzansprüche der Kläger wegen eines ihrem getöteten Sohn anzulastenden Mitverschuldens.
Es war daher in Stattgebung der außerordentlichen Revision der Kläger wie im Spruch zu entscheiden.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens in erster Instanz beruht auf den §§ 41, 43 Abs 1 ZPO, die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens auf den §§ 41, 50 ZPO.
Anmerkung
E14988European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1988:0020OB00092.88.0712.000Dokumentnummer
JJT_19880712_OGH0002_0020OB00092_8800000_000