TE OGH 1988/9/6 10ObS79/88

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Veröffentlicht am 06.09.1988
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Christian Kleemann (AG) und Karl Klein (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Leopoldine M***, Pensionistin, 1210 Wien, Fallmerayerweg 32-34, vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER

A***, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Alterspension (vorläufiger Leistung nach § 74 Abs. 2 ASGG) infolge Revisionsrekurses der klagenden Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien als Rekursgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Jänner 1988, GZ 32 Rs 239/87-13, womit der Beschluß des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 20. Oktober 1987, GZ 6 Cgs 1079/87-9, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Dem Erstgericht wird eine neue Entscheidung über den Antrag der Klägerin nach § 74 Abs. 2 ASGG nach Ergänzung des Verfahrens aufgetragen.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Begründung:

Mit Bescheid vom 10. März 1987 stellte die beklagte Partei die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer der Klägerin ab 1. Jänner 1987 auf einer Bemessungsgrundlage von S 17.745,-- und unter Berücksichtigung eines besonderen Steigerungsbetrages für Beiträge zur Höherversicherung von S 2.923,80 mit monatlich S 15.855,50 fest.

Die dagegen rechtzeitig erhobene Klage richtet sich nur gegen die Höhe der Bemessungsgrundlage, und zwar gegen die Beitragsgrundlagen der Jahre 1977, 1978 und 1986 und gegen die Höhe des besonderen Steigerungsbetrages und begehrt eine (höhere) Pension im (der höheren Bemessungsgrundlage und des höheren besonderen Steigerungsbetrages entsprechenden) gesetzlichen Ausmaß. Die beklagte Partei beantragt die Abweisung der Klage, weil sie die Bemessungsgrundlage und den besonderen Steigerungsbetrag richtig berechnet habe.

Mit vorbereitendem Schriftsatz vom 24. Juli 1987 ON 5 teilte die Klägerin mit, daß sie zur Feststellung der Beitragsgrundlagen bei der Wiener Gebietskrankenkasse die Einleitung des Verwaltungsverfahrens beantragt habe. Nunmehr präzisierte sie ihr Klagebegehren, daß ihr die beklagte Partei zu der bisher geleisteten Pension noch S 371,-- brutto monatlich (S 320,60 Pension und S 50,40 Höherversicherung) zu zahlen habe. Für den Fall der Unterbrechung des Verfahrens nach § 74 ASGG beantragte sie, ihr eine vorläufige Leistung in diesem Ausmaß zuzuerkennen.

Die beklagte Partei äußerte sich zu diesem Antrag in ihrem Schriftsatz vom 10. August 1987 ON 6. Sie beantragte den im § 74 Abs. 2 ASGG nicht gedeckten Antrag der Klägerin abzuweisen und bestritt auch die Glaubhaftmachung des Anspruchs.

In der Tagsatzung vom 1. September 1987 gab die Klägerin bekannt, daß das Verfahren bei der Wiener Gebietskrankenkasse noch nicht beendet sei. Beide Parteien erklärten sich damit einverstanden, daß ohne neuen Antrag über den Antrag auf Gewährung einer vorläufigen Leistung nicht entschieden werde. Daraufhin wurde das Verfahren nach § 74 Abs. 1 ASGG wegen des bei der (Wiener) Gebietskrankenkasse anhängigen Verfahrens bis zu dessen rechtskräftiger Beendigung unterbrochen.

Mit Schriftsatz vom 22. September 1987 ON 8 beantragte die Klägerin die Zuerkennung einer vorläufigen Leistung nach § 74 ASGG. Weil der Bescheid durch die Klage außer Kraft getreten sei, gewähre ihr die beklagte Partei derzeit lediglich eine (gegenüber dem eingeklagten Ausmaß) zurückbleibende vorläufige Leistung nach § 71 ASGG. Ihr Antrag sei durch § 74 ASGG gedeckt. Zur Glaubhaftmachung ihres Anspruches legte die Klägerin mehrere Urkunden vor.

Das Erstgericht wies diesen Antrag mit der Begründung ab, daß die von der Klägerin bezogene vorläufige Leistung von S 15.855,50 nur um S 371,-- unter der begehrten vorläufigen Leistung liege. § 74 Abs. 2 ASGG biete keine Möglichkeit zur Gewährung eines Differenzbetrages. Der Ausschußbericht 527 BlgNR 16.GP lasse vielmehr erkennen, daß der Gesetzgeber lediglich die Gefahr beseitigen habe wollen, daß der Versicherte bei Unterbrechung des Leistungsverfahrens während des möglicherweise langen Verwaltungsverfahrens keine Leistung erhalte.

In ihrem auf Abänderung im Sinne ihres erstinstanzlichen Antrages gerichteten Rekurs führte die Klägerin im wesentlichen aus, § 74 ASGG räume dem Sozialgericht die Möglichkeit ein, den Kläger, der seinen Anspruch dem Grunde und der Höhe nach glaubhaft machen könne, ohne umwendige Ermittlungen so zu stellen, als wäre das Verwaltungsverfahren bereits abgeschlossen.

Die beklagte Partei erstattete keine Rekursbeantwortung. Das Rekursgericht bestätigte den erstgerichtlichen Beschluß.

§ 74 Abs. 2 ASGG solle verhindern, daß ein Versicherter während der Unterbrechung des Verfahrens keine Leistung erhalte. Diese Gefahr bestehe jedoch für die Klägerin nicht. Die zitierte Bestimmung dürfe nicht isoliert betrachtet und angewendet werden.

Dagegen richtet sich der (Revisions-)Rekurs der Klägerin mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluß im Sinne des erstgerichtlichen Antrages abzuändern.

Die beklagte Partei erstattete keine Rekursbeantwortung. Wie der erkennende Senat in seinem Beschluß vom 12. April 1988 10 Ob S 79/88 ausgeführt hat, ist der Revisionsrekurs zulässig. Die nach § 74 Abs. 2 Satz 3 ASGG, § 402 Abs. 2 und § 78 EO bei einstweiligen Verfügungen anzuwendende Bestimmung des § 528 Abs. 1 Z 1 ZPO gilt für die hier angefochtene bestätigende Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz nicht, weil diese allgemeine Rekursbeschränkung der Zivilprozeßordnung durch die in Arbeits- und Sozialrechtssachen geltende Sonderregelung des § 47 Abs. 1 ASGG verdrängt wird (so auch Kuderna ASGG § 74 Erl. 11).

Rechtliche Beurteilung

Das Rechtsmittel ist auch berechtigt.

Nach § 74 Abs. 2 ASGG hat das Gericht der beklagten Partei unter folgenden Voraussetzungen eine vorläufige Leistung aufzuerlegen:

1. Vorliegen einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs. 1 Z 1 oder 6 bis 8 ASGG, in der 2. die Versicherungspflicht, die Versicherungsberechtigung, der Beginn oder das Ende der Versicherung, die maßgebende Beitragsgrundlage oder die Angehörigeneigenschaft als Vorfrage strittig ist;

3.

Unterbrechungsbeschluß; 4. Antrag des Klägers;

5.

Glaubhaftmachung des Anspruches dem Grunde und der Höhe nach durch den Kläger.

Aus dem in der zitierten Gesetzesstelle befehlend gebrauchten "hat" ergibt sich, daß das Gericht unter diesen Voraussetzungen im Sinne des Antrages des Klägers entscheiden muß, wobei es nach dem

              3.              Satz des zitierten Absatzes keiner Gefährdungsbescheinigung bedarf.

In der Regel darf das Gericht den Antrag des Klägers nach § 74 Abs. 2 ASGG nicht deshalb abweisen weil ihm der beklagte Versicherungsträger die Leistung, die Gegenstand der Klage ist, nach § 71 Abs. 2 ASGG bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens vorläufig insoweit zu gewähren hat, als diese dem außer Kraft getretenen Bescheid entspricht. Ein Antrag im Sinne der erstgenannten Gesetzesstelle wird nämlich üblicherweise - wie auch im vorliegenden Fall - auf einen Anspruch gegründet werden, der über den im durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid festgestellten Anspruch hinausgehen wird. Der Kläger wird also regelmäßig nach § 74 Abs. 2 ASGG eine vorläufige Leistung beantragen, die er nach § 71 Abs. 2 leg cit noch nicht erhält. Daß die vorläufige Leistung auf Fälle beschränkt wäre, in denen der Versicherungsträger den Antrag zur Gänze abgewiesen hat und daher kein Anspruch nach § 71 Abs. 2 ASGG besteht, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen.

Die bestätigende Rekursentscheidung und der bestätigte erstgerichtliche Beschluß waren daher aufzuheben und dem Erstgericht war eine neue, nach Ergänzung des Verfahrens (durch das Bescheinigungsverfahren) zu fällende Entscheidung aufzutragen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs. 3 und § 54 Abs. 1 ZPO, weil im Revisionsrekurs keine Kosten verzeichnet wurden.

Anmerkung

E15296

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1988:010OBS00079.88.0906.000

Dokumentnummer

JJT_19880906_OGH0002_010OBS00079_8800000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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