TE OGH 1988/9/13 4Ob575/88

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Veröffentlicht am 13.09.1988
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Prof.Dr. Friedl als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Gamerith, Dr. Angst, Dr. Kodek und Dr. Redl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Michaela W***, geboren am 10. Jänner 1972, infolge Revisionsrekurses der ehelichen Eltern. 1. Dr. Ewald W***, Rechtsanwalt, 2. Helga W***, Angestellte, beide Wien 8., Albertgasse 34, beide vertreten durch Dr. Nikolaus Lehner, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Jugendgerichtshofes Wien als Rekursgerichtes vom 28. Juni 1988, GZ 22 R 19/88-12, womit der Beschluß des Jugendgerichtshofes Wien als Vormundschaftsgerichtes vom 22. Februar 1988, GZ 26 P 171/87-8, teilweise aufgehoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird dahin abgeändert, daß der Beschluß des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Text

Begründung:

Dr. Ewald und Helga W*** haben die Minderjährige mit Vertrag vom 7. April 1976 an Kindes Statt angenommen; das Bezirksgericht Döbling hat mit Beschluß vom 7. Mai 1976, 2 P 76/76-4, diese Adoption bewilligt. Vorher hatte sich das Kind schon auf verschiedenen Pflegestellen befunden. Seit Dezember 1985 ist die Familie W*** dem Bezirksjugendamt 1/8/9 wegen einer Abgängigkeit des Mädchens bekannt. Nach einem Aufenthalt im Rahmen der Krisenunterbringung im Julius Tandler-Zentrum und einem ausführlichen Gespräch zwischen allen Beteiligten kehrte die Minderjährige wieder nach Hause zurück. Im Juni 1987 floh sie wegen familiärer Kontakte abermals aus dem Elternhaus. Als die Eltern und das Mädchen übereinstimmend erklärten, daß sie nicht mehr miteinander auskommen könnten und eine Unterbringung im Rahmen der Gemeinde Wien akzeptiert werde, wurde die Minderjährige zunächst im Lehrlingsheim Nußdorf und seit 8. Juli 1987 in der "Stadt des Kindes" untergebracht.

Von Anfang an war es schwierig, die mj. Michaela W*** zu erziehen. Nach Beendigung der Volksschule besuchte sie die AHS in Wien 7., Kenyongasse, und das der Schule angeschlossene Internat. Im Schuljahr 1986/87 verschlechterten sich ihre Leistungen derart, daß die Eltern das Kind in einem Internat in Melk unterbrachten. Da das Mädchen diese Unterbringung nicht akzeptierte, entlief sie aus dem Internat. Da das Internat die Minderjährige dann nicht mehr aufnahm, wurde sie in der Folge von den Eltern in der integrierten Gesamtschule (IGS) in Wien 22., Polgarstraße, untergebracht, wo sie sich recht wohl fühlte und erstmals Schulerfolge aufwies. Ein Lehrer dieser Schule gab vor dem Jugendamt an, er halte das Mädchen für so begabt, daß er den weiteren Besuch des an dieser Schule geführten Oberstufenrealgymnasiums (ORG) sehr befürworte; dies wünscht sich auch die Minderjährige sehr. Die Eltern sind mit dem Besuch dieser Schule durch ihre Tochter nicht einverstanden, weil sie ihnen angeblich erzählt habe, daß sich ein Lehrer ihr genähert habe, sie streichle und mit ihre Spazierfahrten unternehme, und weil die (positiven) Zeugnisnoten die (geringen) schulischen Leistungen nicht richtig widerspiegelten. Nach Meinung der Jugendgerichtshilfe ist das Mädchen in der genannten Schule gut integriert und befürchtet, durch einen Schulwechsel ihre Freunde und Lehrkräfte zu verlieren;

die Beziehung der Minderjährigen zu ihren Eltern sei gestört;

derzeit bestehe keine Möglichkeit einer Aussöhnung. Mit der Behauptung, die Eltern hätten am 10. August 1987 gegen die mit ihrer Zustimmung erfolgte Unterbringung der Minderjährigen in einem Heim der Gemeinde Wien Widerspruch erhoben, beantragte das Bezirksjugendamt für den 1./8./9. Bezirk am 17. August 1987 die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe für die Minderjährige durch Belassung in einem Heim. Die Eltern würden einer weiteren Unterbringung "im Rahmen der Gemeinde Wien" nur zustimmen, wenn die Minderjährige - entgegen ihrem Wunsch - weder die IGS in Wien 22., Polgarstraße, noch ein anderes Oberstufenrealgymnasium besuchte. Für das Mädchen sei aber wichtig, daß die begonnene Eingewöhnung in der "Stadt des Kindes" nicht gefährdet werde. Auch sein die Schule betreffender Wunsch sei zu berücksichtigen.

Die Eltern traten diesem Antrag entgegen, weil die Voraussetzungen einer gerichtlichen Erziehungshilfe nicht vorlägen. Der alleinige Grund für den Antrag des Jugendamtes liege in dessen Absicht, der Minderjährigen den weiteren Besuch der IGS in Wien 22., Polgarstraße, zu ermöglichen. Dadurch würde aber die sittliche Entwicklung des Mädchens auf das Schwerste gefährdet, weil sie dort eine Beziehung zu einem Professor unterhalte, die glatt den Pflichten einer Lehrperson widerspreche und die seelische Entwicklung eines pubertären Menschen empfindlich stören könne. Weiters habe die Minderjährige gerade mit solchen Mitschülern verstärkt Kontakte, die zum Teil dem Suchtgiftmilieu zuzurechnen seien. Auch ihre schulischen Leistungen seien gering. Selbst bei Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe müßte über die Schulfrage entschieden werden (ON 2).

Am 22. September 1987 sprachen sich die Eltern vor dem Erstgericht neuerlich gegen die gerichtliche Erziehungshilfe aus und erklärten, daß sie sich zwar gegen den Besuch der IGS in Wien 22., Polgarstraße, gewandt hätten, mit der Heimunterbringung aber einverstanden seien (ON 4).

Das Erstgericht wies den Antrag auf Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe ab. Rechtlich beurteilte es den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt wie folgt:

Die gerichtliche Erziehungshilfe dürfe nur angeordnet werden, wenn sie deshalb geboten sei, weil die Erziehungsberechtigten ihre Erziehungsgewalt mißbrauchten oder die damit verbundenen Pflichten nicht erfüllten. "Eine" (offenbar gemeint: Keine) dieser Voraussetzungen liege hier vor: Die Eltern seien sich selbst ihres gestörten Verhältnisses zur Tochter bewußt und akzeptierten deshalb die Heimunterbringung. Der "einzige divergierende Punkt" sei der Schulbesuch. Das allein könne aber kein Grund für die Anordnung einer so gravierenden Maßnahme wie der gerichtlichen Erziehungshilfe sein. Den Eltern müsse die Möglichkeit bleiben, die Schule ihrer Kinder auszusuchen; es könne nicht nur das geschehen, was sich ein Minderjähriger erwarte. Durch die (dem Willen der Eltern entsprechende) Heimunterbringung sei das Wohl der Minderjährigen gesichert.

Gegen diesen Beschluß erhob das Bezirksjugendamt für den 1./8. und 9. Bezirk Rekurs mit dem Antrag, die gerichtliche Erziehungshilfe für die Zeit vom 10. August 1987 bis zur (neuerlichen) Zustimmung der Eltern zur Heimunterbringung anzuordnen. Das Gericht zweiter Instanz gab diesem Rekurs Folge, hob den Beschluß des Erstgerichtes insoweit auf, als es den Antrag auf Anordnung gerichtlicher Erziehungshilfe auch für die Zeit vom 10. August 1987 bis zur neuerlichen Zustimmung

("24". September 1987) abgewiesen habe, und trug ihm in diesem Umfang eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Das Erstgericht habe sich mit den ausführlichen Erhebungen der Wiener Jugendgerichtshilfe nicht auseinandergesetzt, obwohl diese nicht nur keine wesentlichen Gründe gefunden habe, die gegen den Besuch der von den Eltern abgelehnten IGS Wien 22., Polgarstraße, sprächen, sondern ausdrücklich die Anordnung gerichtlicher Erziehung empfohlen habe. Das Gericht erster Instanz habe auch den am 10. August 1987 von den Eltern der Minderjährigen erklärten Widerruf ihrer Zustimmung zur Heimunterbringung der Minderjährigen übergangen. Seine Schlußfolgerungen seien insbesondere auch deshalb unklar und widersprüchlich, weil es ausgeführt habe, daß "eine" der Voraussetzungen des § 26 Abs 1 letzter Satz JWG, vorliege, dann aber doch die gerichtliche Erziehungshilfe abgelehnt habe. Das Erstgericht werde daher ergänzende Feststellungen zu treffen haben. Das Rechtsschutzinteresse des Rechtsmittelwerbers sei zu bejahen, weil der vom Bezirksjugendamt vertretenen Minderjährigen im Hinblick auf die zwischen ihr und den Eltern überaus angespannte Situation ein Interesse an einer gerichtlichen Feststellung zugebilligt werden müsse, ob ein die Anordnung gerichtlicher Erziehungshilfe und die damit verbundene Heimunterbringung rechtfertigender Erziehungsnotstand vorliegt.

Gegen diesen Beschluß wendet sich der Revisionsrekurs der Eltern der Minderjährigen mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß der Beschluß des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist berechtigt.

Die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe kommt nur dann in Frage, wenn eine Maßnahme der Erziehungshilfe (§ 9 JWG; § 25 Wr JWG LGBl. 1955/14) gegen den Willen der Erziehungsberechtigten (§ 39 JWG) oder der in § 5 Abs 1, vorletzter Satz, JWG aufgezählten Verwandten und Verschwägerten, bei denen der Minderjährige in Pflege ist (§ 26 Abs 1 JWG), getroffen werden soll. Die vom Bezirksjugendamt beantragte Maßnahme der gerichtlichen Erziehungshilfe - die Unterbringung der Minderjährigen in einem (Jugend-)Heim (§ 9 Abs 1 JWG, § 25 Abs 1 Wr JWG) - ist aber durch die Zustimmung der Wahleltern, denen nach bürgerlichem Recht das Erziehungsrecht zusteht, sohin der Erziehungsberechtigten (§ 39 JWG), gedeckt. Diese Zustimmung liegt nicht nur für die Zeit bis zum 10. August 1987 und ab dem 22. September 1987, sondern auch für den dazwischen liegenden Zeitraum vor. Die vor Gericht am 22. September 1987 abgegebene Erklärung der Eltern, daß sie mit der Heimunterbringung "an und für sich einverstanden" seien, kann im Zusammenhang mit ihrem Verhalten und ihrem Vorbringen nicht dahin verstanden werden, daß sie die Zustimmung erst für die Zukunft erteilen, die vorangegangene Unterbringung aber als rechtswidrig bekämpfen wollten; sie haben vielmehr eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß sie die Unterbringung ihrer Tochter in einem Heim für geboten erachteten und nur gegen den Besuch einer bestimmten, vom Bezirksjugendamt im Einklang mit der Minderjährigen befürworteten Schule einträten. Die erforderliche Zustimmung der Erziehungsberechtigten zu der Erziehungshilfemaßnahme (§ 9 Abs 3 JWG; § 25 Abs 4 Wr JWG) liegt somit vor. Die Eltern heben in ihrem Revisionsrekurs auch besonders hervor, daß sie die Heimunterbringung für die Zeit vor dem (richtig:) 22. September 1987 genehmigt hätten. Damit ist - dem Zweck der Bestimmung des § 9 Abs 3 JWG (RV 140 Blg.NR 7. GP) entsprechend - in unmißverständlicher Weise ausgedrückt, daß es sich bei der Heimunterbringung um eine Maßnahme auf freiwilliger Basis handelt, so daß die Möglichkeit eines behördlichen Mißbrauches von vornherein ausgeschlossen ist.

Da die Heimunterbringung somit keine Maßnahme gegen den Willen der Erziehungsberechtigten ist, hat das Gericht erster Instanz im Ergebnis zu Recht den Antrag auf Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe abgewiesen. Auf die Frage, ob sonst die Erziehungshilfe geboten wäre, weil die Erziehungsberechtigten ihre Erziehungsgewalt mißbrauchten oder die damit verbundenen Pflichten nicht erfüllten, war daher nicht einzugehen.

Die Frage des Schulbesuches der Minderjährigen ist damit jedoch nicht entschieden. Davon, daß durch die Zustimmung der Eltern zu einer Heimunterbringung ihres Kindes auch die Pflege und Erziehung an das Jugendamt abgegeben würde und dieses abzuschätzen hätte, welcher Schulbesuch im Interesse des Kindes gelegen sei, kann - entgegen der Rechtsmeinung des Jugendamtes (S. 43) - keine Rede sein. Zur Pflege und Erziehung der minderjährigen Kinder sind die Eltern berechtigt und verpflichtet (§ 144 ABGB); nur dann, wenn sie durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes gefährden, hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohles nötigen Verfügungen zu treffen, allenfalls auch alle oder einzelne elterliche Rechte auf Pflege und Erziehung zu entziehen (§ 176 Abs 1 ABGB). Die Erziehungshilfe nach § 9 JWG ist hingegen nur als Unterstützung für Kind und Erziehungsberechtigte gedacht (RV 140 Blg.NR 7. GP). Sofern die Eltern die seine Ausbildung betreffenden Wünsche ihres Kindes nicht berücksichtigen sollten, wäre die - bereits mündige - minderjährige Michaela W*** berechtigt, das Gericht anzurufen, das sodann nach sorgfältiger Abwägung der von den Eltern und der Minderjährigen angeführten Gründe die zum Wohl der letzteren angemessenen Verfügungen zu treffen hätte (§ 147 ABGB).

Da aber nach dem oben Gesagten für die gerichtliche Anordnung der Erziehungshilfe in Form der Heimunterbringung hier kein Raum ist, war dem Revisionsrekurs der Eltern Folge zu geben und der Beschluß des Erstgerichtes wiederherzustellen.

Anmerkung

E15188

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1988:0040OB00575.88.0913.000

Dokumentnummer

JJT_19880913_OGH0002_0040OB00575_8800000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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