Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Hon.Prof. Gottfried Winkler (Arbeitgeber) und Norbert Kunc (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Christa S***, Angestellte, 2512 Trumau, Peter-Rosegger-Straße 31, vertreten durch Dr. Willi Fuhrmann, Dr. Helmut Steiner und Dr. Thomas Weber, Rechtsanwälte in Baden, wider die beklagte Partei P*** DER
A***, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Erich Proksch und Dr. Richard Proksch, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. März 1988, GZ 33 Rs 43/88-13, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 26. November 1987, GZ 4 Cgs 1712/87-9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 1. April 1987 die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:
Die (am 8. Juli 1945 geborene) Klägerin erlernte den Beruf einer Friseurin. Sie übte diesen Beruf bis 1977 aus und verrichtete seit dieser Zeit Bürotätigkeiten in einem Bestattungsunternehmen. Sie kann diese Berufstätigkeit weiterhin ausüben.
Durch einen Schiunfall, den die Klägerin im Jahr 1984 erlitt, kam es zu einer Lähmung der unteren Extremitäten. Es verblieb ein krampfhafte Teillähmung an beiden Beinen, die eine Gehbehinderung zur Folge hat. Die Klägerin kann bei guter Straßenlage Wegstrecken von 500 bis 700 m zurücklegen. Bei schlechten Straßenverhältnissen, also bei Glatteis oder Schnee, verringert sich die Gehleistung auf 250 bis 350 m. Die Klägerin kann mit ihrem PKW, für den sie die Lenkerberechtigung hat, den Arbeitsplatz erreichen. Rechtlich war das Erstgericht der Meinung, daß der Klägerin die Berufsunfähigkeitspension gebühre, weil sie infolge der Gehbehinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelt werden könne.
Das Berufungsgericht wies infolge Berufung der beklagten Partei das Klagebegehren ab. Es ging davon aus, daß die Klägerin nach dem Gutachten des Sachverständigen für Chirurgie öffentliche Verkehrsmittel uneingeschränkt benützen könne, und vertrat rechtlich die Auffassung, es müsse von ihr auch verlangt werden, daß sie öffentliche Verkehrsmittel benütze, um den Arbeitsplatz zu erreichen. Es könne außerdem nicht außer Betracht gelassen werden, daß sie mit einem PKW zu ihrem Arbeitsplatz gelangen könne, wobei nach den Erfahrungen des täglichen Lebens vom Parkplatz bis zur Arbeitsstätte eine Strecke von nicht mehr als 350 m zurückzulegen sei. Die Klägerin könne ihren Arbeitsplatz daher auch bei schlechten Straßenverhältnissen erreichen, zumal jeder Liegenschaftseigentümer verpflichtet sei, bei Schneefällen den Gehsteig vor seinem Haus zu säubern. Da der Klägerin somit der Anmarsch zum Arbeitsplatz möglich sei und sie die bisher von ihr ausgeübte Berufstätigkeit weiterhin ausüben könne, sei das Klagebegehren abzuweisen.
Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern oder es allenfalls aufzuheben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht berechtigt.
Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ist zwar unabhängig davon, ob der körperliche und geistige Zustand des Versicherten noch den mit der Berufstätigkeit selbst verbundenen Anforderungen entspricht, auch dann eingetreten, wenn der Versicherte nicht mehr imstande ist, in zumutbarer Weise einen Arbeitsplatz zu erreichen; sonst ist ihm aus diesem Grund die Ausübung einer Berufstätigkeit jedenfalls verwehrt. Bei der Beurteilung der Frage, ob dies der Fall ist, kommt es nicht auf die Verhältnisse am Wohnort des Versicherten, sondern auf die Verhältnisse am allgemeinen Arbeitsmarkt an, weil der Versicherte sonst durch die Wahl seines Wohnortes die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pension beeinflussen könnte. Sofern nicht medizinische Gründe entgegenstehen, muß der Versicherte daher auch einen Wechsel seines Wohnortes anstreben und in Kauf nehmen (ebenso schon zur Invalidität SSV-NF 1/20). Ferner ist vom Versicherten zu verlangen, daß er ein öffentliches Verkehrsmittel benützt, wenn ihm dies auf Grund seines körperlichen und geistigen Zustandes zugemutet werden kann.
Das Österreichische Institut für Raumplanung führte in den letzten Jahren eine Untersuchung über die Erreichbarkeitsverhältnisse in Österreich durch deren Ergebnisse in einer Schrift mit dem Titel "Erreichbarkeitsverhältnisse im Individual- und im öffentlichen Verkehr in Österreich" zusammengefaßt sind. Daraus geht hervor, daß in Österreich 73,0 % der Berufstätigen innerhalb einer Entfernung von 500 m zur nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels wohnte und daher bis dorthin höchstens einen Weg von 500 m zurücklegen müssen. Berücksichtigt man ferner die Werte für Städte mit über 100.000 Einwohnern (Linz 91,2 %; Salzburg 89,6 %; Graz 89,9 %; Innsbruck 91,2 %; Wien 94,9 %), so zeigt sich, daß in großstädtischen Verhältnissen, in denen immerhin etwa 30 % der Berufstätigen leben, im Durchschnitt etwa 91 % der Berufstätigen von ihrer Wohnung höchstens 500 m bis zur nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels zurücklegen müssen. Ein ähnliches Bild ergibt sich aus der angeführten Untersuchung für den Weg von der Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels bis zum Arbeitsplatz und zurück. Er übersteigt in den angeführten Großstädten im Durchschnitt bei etwa 95 % der Arbeitplätzen 500 m nicht (Linz 89,7 %; Salzburg 93,6 %; Graz 95,4 %; Innsbruck 96,7 %; Wien 98,2 %). Der Oberste Gerichtshof ist unter Berücksichtigung der Ergebnisse der angeführten Untersuchung der Auffassung, daß ein Versicherter wegen einer Gehbehinderung solange vom allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ausgeschlossen ist, als er ohne wesentliche Einschränkung ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und vorher sowie nachher ohne unzumutbare Pausen und mit angemessener Geschwindigkeit eine Wegstrecke von jeweils zumindest 500 m zu Fuß zurücklegen kann. Es werden an ihn dabei keine höheren Anforderungen als an den überwiegenden Teil der Berufstätigen Österreichs gestellt. Ist der Versicherte hingegen nicht mehr imstande, eine Wegstrecke von 500 m auf die angeführte Art zu bewältigen, so sind seine körperlichen oder geistigen Fähigkeiten so weit eingeschränkt, daß er schon nach allgemeiner Anschauung, die auch dem Gesetzgeber unterstellt werden muß, nicht mehr arbeitsfähig ist. Die davon abweichende Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien als damaligen Höchstgericht, nach der der Versicherte schon bei einer Einschränkung der Gehleistung auf unter 1 km vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen war (vgl. SSV 22/30 mwN), entspricht nicht den bestehenden Verhältnissen; der Oberste Gerichtshof schließt sich ihr daher nicht an.
Die Klägerin ist imstande, öffentliche Verkehrsmittel ohne Einschränkung zu benützen und, ausgenommen bei schlechten Straßenverhältnissen, eine Wegstrecke von 500 bis 700 m zurückzulegen. Sie ist daher wegen ihrer Gehbehinderung vom allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ausgeschlossen. Daran ändert nichts, daß sie ihre Gehleistung bei schlechten Straßenverhältnissen, wie bei Glatteis oder Schnee, auf die Hälfte und daher unter die Strecke von 500 m verringert. Das Berufungsgericht wies zutreffend darauf hin, daß solche Verhältnisse zumindest in großstädtischen Verhältnissen infolge der den Eigentümer von Liegenschaften in Ortsgebieten gemäß § 93 Abs 1 StVO treffenden Pflicht, Gehsteige und Gehwege von Schnee und Verunreinigungen zu säubern und bei Schnee und Glatteis zu bestreuen, nur in Ausnahmefällen gegeben sind, in denen erfahrungsgemäß auch die nicht gehbehinderten Berufstätigen den Arbeitsplatz nicht oder nicht rechtzeitig erreichen können. Auf diese Ausnahmefälle ist daher nicht Bedacht zu nehmen. Da die Klägerin den zuletzt von ihr ausgeübten Beruf weiterhin ausüben und einen Arbeitsplatz auf eine ihr zumutbare Weise erreichen kann, ist sie demnach nicht berufsunfähig im Sinn des für sie maßgebenden § 273 Abs 1 ASVG (vgl. SSV-NF 1/68). Das Berufungsgericht wies ihr Klagebegehren deshalb mit Recht ab. Auf die von ihm erörterte Frage, ob bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit darauf Bedacht zu nehmen ist, daß dem Versicherten ein eigenes Kraftfahrzeug zur Verfügung steht, muß nicht eingegangen werden, weil es hierauf infolge der der Klägerin noch zumutbaren Gehleistung nicht ankommt.
Anspruch auf Ersatz von Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin schon deshalb nicht, weil sie sie nicht betragsmäßig und daher nicht ordnungsgemäß (arg. "Ansätze" in § 54 Abs 1 ZPO) verzeichnete.
Anmerkung
E16953European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1988:010OBS00182.88.1011.000Dokumentnummer
JJT_19881011_OGH0002_010OBS00182_8800000_000