Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 18.Oktober 1988 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bernardini als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Friedrich, Dr. Reisenleitner, Hon.Prof. Dr. Brustbauer und Dr. Kuch als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Bogensberger als Schriftführer in der Strafsache gegen Günther U*** wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Schöffengericht in Jugendstrafsachen vom 4.August 1988, GZ 27 Vr 3358/87-21, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Darauf wird der Angeklagte mit seiner Berufung verwiesen.
Text
Gründe:
Der am 17.Februar 1970 geborene Günther U*** wurde mit dem bekämpften Urteil des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB schuldig erkannt.
Ihm liegt zur Last, am 21.Juli 1987 - somit noch als Jugendlicher - in Kundl als Lenker eines Fahrrades durch Nichteinhalten der rechten Straßenseite und mangelnde Aufmerksamkeit, wodurch er mit dem entgegenkommenden Radfahrer Josef K*** zusammenstieß, fahrlässig dessen Tod herbeigeführt zu haben. Der gegen den Schuldspruch erhobenen, auf Z 4 und 5 des § 281 Abs. 1 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten kann bereits, soweit Verfahrensmängel (Z 4) geltend gemacht werden, Berechtigung nicht versagt werden.
Der Verteidiger des Angeklagten beantragte in der - wegen geänderter Senatszusammensetzung neu
durchgeführten - Hauptverhandlung vom 4.August 1988 (neben weiteren, in der Nichtigkeitsbeschwerde nicht mehr verfolgten Beweisanträgen) die Einvernahme des Arztes Dr. A***, der nach dem Unfall als erster an der Unfallstelle gewesen sei, als Zeugen zum Beweis dafür, daß der Angeklagte auf seiner (rechten) Fahrbahnhälfte gefahren sei, sowie die Einholung eines gerichtsmedizinischen Gutachtens zum Beweis dafür, daß K*** eine weit höhere Geschwindigkeit eingehalten habe als der Angeklagte und daß aus den Verletzungen beider Radfahrer hervorgehe, daß sich der Unfall auf der rechten Fahrbahnhälfte (in Fahrtrichtung) des Angeklagten ereignet habe (S 131 iVm S 81).
Das Schöffengericht wies sämtliche Beweisanträge, "soweit sie nicht dem Urteil vorbehalten sind", mit Beschluß ab (S 132). Zur beantragten Vernehmung des Arztes Dr. A*** führte es aus, daß dieser erst nach dem Unfall zur Unfallstelle gekommen sei und über die Fahrlinie beider Radfahrer keine Auskunft geben könne. Zum Antrag zur Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens bezog das Schöffengericht in diesem - in der Hauptverhandlung verkündeten - Beschluß überhaupt keine Stellung. Mit einer derartigen Vorgangsweise handelte es der Bestimmung des § 238 StPO zuwider, wonach über Beweisanträge sofort zu entscheiden ist und die Gründe hiefür verkündet sowie im Protokoll ersichtlich gemacht werden müssen. Die Beachtung dieser Vorschrift ist durch das Wesen eines die Strafverfolgung gleichwie die Verteidigung sichernden Verfahrens geboten, weil sie dem Antragsteller im Interesse der Wahrheitsfindung die Möglichkeit sichern soll, die für die Ablehnung seines Begehrens maßgebend gewesenen Erwägungen allenfalls auf geeignete Weise auszuräumen.
Rechtliche Beurteilung
Eine Formverletzung dieser Art wäre nur dann unbeachtlich, wenn aus einer im Urteil nachgeholten Begründung unzweifelhaft erkennbar wäre, daß sie keinen dem Angeklagten nachteiligen Einfluß auf die Entscheidung üben konnte (§ 281 Abs. 3 StPO).
Eine Unzweifelhaftigkeit dieser Art liegt jedoch nicht vor. Die im Urteil nachgeholte Begründung (US 6) stößt nämlich bereits insoweit auf Bedenken, als - gleichsam apodiktisch - die Möglichkeit verneint wird, ein Gerichtsmediziner könne aus Verletzungen Schlüsse über den Verletzungshergang (und damit über die Ausgangspositionen der Verletzten) ziehen. Daß ein gerichtsmedizinisches Sachverständigengutachten allenfalls mangels Feststellbarkeit von Kopfwendungen der Unfallsbeteiligten - für sich allein - nicht zu einem verläßlichen Ergebnis führen könnte, macht es deshalb nicht von vornherein zum untauglichen Beweismittel, wie das Schöffengericht anzunehmen scheint.
Ähnliches gilt für die weitere Erwägung des Schöffengerichtes, wonach "aus vielen Gutachten bekannt" sei, "daß aus gerichtsmedizinischer Sicht nicht gesagt werden kann, wer mit größerer Wucht auf den anderen aufgeprallt ist, weil die Naturgesetze, nämlich Masse mal Geschwindigkeit von beiden Komponenten herrühren können" (gemeint augenscheinlich: weil der Erfolg nach den Naturgesetzen von beiden Komponenten herrühren könne). Entgegen dieser rein physikalischen Betrachtung läßt sich keineswegs ausschließen, daß unter Beachtung medizinischen Erfahrungswissens aus spezifischen Verletzungscharakteristika Schlüsse auf das Überwiegen einer der Komponenten gezogen werden könnten.
Aber auch der für die Abweisung der Vernehmung des Dr. A*** als Zeugen herangezogenen Begründung kann nicht beigetreten werden. Daß der Genannte den Unfallshergang selbst wahrnahm, wurde auch im Beweisantrag gar nicht behauptet. Das Schöffengericht geht aber davon aus, daß er "gleich" (kurz nach dem Unfall) an der Unfallstelle war und die Verletzten versorgte (US 6). Er hätte somit augenscheinlich über die Endlage der Verletzten Auskunft geben können, die möglicherweise im Rahmen der ärztlichen Versorgung verändert wurde. Die Endlage der Verletzten war aber für das Schöffengericht von entscheidender Bedeutung, stellt doch der fahrtechnische Sachverständige in seinem Gutachten, das vom Gericht als Feststellungsgrundlage übernommen wurde, in einem wesentlichen Punkt darauf ab (S 129).
Es zeigt sich somit, daß durch die Abweisung von Beweisanträgen in bezug auf die Frage des Zusammenstoßpunktes und der Kollisionsgeschwindigkeiten tatsächlich Verteidigungsrechte verletzt wurden.
Vorliegend kann auch nicht gesagt werden, daß diese Formverletzung auf die Annahme der zweiten, dem Angeklagten im Urteilsspruch angelasteten Fahrlässigkeitskomponente, nämlich einer mangelnden Aufmerksamkeit ohne Einfluß geblieben wäre, denn das Schöffengericht leitete eine solche nicht nur aus einem "möglichen und wahrscheinlichen" (somit ersichtlich bloß vermuteten) Kopfsenken des Angeklagten ab, sondern erklärtermaßen auch daraus, daß der Unfall in der Fahrbahnmitte geschah (US 7). Es stellte somit auch hier einen Zusammenhang mit der an erster Stelle angenommenen (weiteren) Fahrlässigkeitskomponente, nämlich der Verletzung der Verpflichtung, soweit wie möglich rechts zu fahren, her. Aus den angeführten Erwägungen sah sich der Oberste Gerichtshof genötigt, sofort bei der nichtöffentlichen Beratung das Urteil aufzuheben und die Verfahrenserneuerung anzuordnen (§ 285 e StPO), ohne daß es noch erforderlich gewesen wäre, auf die weiteren Ausführungen der Nichtigkeitsbeschwerde einzugehen.
Anmerkung
E15647European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1988:0150OS00128.88.1018.000Dokumentnummer
JJT_19881018_OGH0002_0150OS00128_8800000_000