TE OGH 1988/10/25 10ObS259/88

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Veröffentlicht am 25.10.1988
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Kellner sowie durch die fachkundigen Laienrichter Mag. Robert Renner (Arbeitgeber) und Dipl.Ing. Herbert Ehrlich (Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Emilijan S***, Redtenbacherg. 48/22, 1160 Wien, vertreten durch Dr. Manfred Lampelmayer, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei A*** U***, Adalbert Stifter-Straße 65, 1200 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Versehrtenrente infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25.Mai 1988, GZ 34 Rs 60/88-28, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 25.November 1987, GZ 3 Cgs 1139/87-25, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger erlitt am 14.5.1984 einen Unfall. Mit Bescheid vom 21.2.1985 anerkannte die beklagte Partei den Unfall als Arbeitsunfall und gewährte zunächst eine Gesamtvergütung unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % für den Zeitraum vom 30.7.1984 bis 31.7.1985.

Über Antrag des Klägers gewährte die beklagte Partei mit Bescheid vom 2.10.1985 ab 1.8.1985 bis auf weiteres eine vorläufige Rente, weil nach Ablauf des Zeitraumes, für den die Gesamtvergütung zugesprochen wurde noch eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % weiterbestehe.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 7.5.1986 entzog die beklagte Partei die gewährte vorläufige Rente von 20 % der Vollrente ab 1.7.1986 und stellte fest, daß ein Anspruch auf Dauerrente gemäß §§ 203, 209 Abs. 1 ASVG nicht bestehe.

Das Erstgericht gab dem im Zuge des Verfahrens auf Gewährung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 30 % der Vollrente ausgedehnten Begehren des Klägers statt. Es legte seiner Entscheidung folgende wesentliche Feststellungen zugrunde:

Der Kläger erlitt bei dem Arbeitsunfall vom 14.5.1984 einen offenen Bruch des Grund- und Endgliedes des rechten Daumens mit Teilverletzung der langen Daumenstrecksehne. Der Kläger ist Rechtshänder. Eine aktive Bewegung des Daumens ist nicht möglich, da diese im Grund- und Mittelgelenk nahezu null ist. Die passive Beweglichkeit in beiden Gelenken ist bis etwa 10 Grad möglich, der Finger ist in Streckstellung. Der Kläger ist wegen dieser starken Bewegungseinschränkung im Grund- und Mittelgelenk des rechten Daumens nur mehr für alle Tätigkeiten, bei denen Feinarbeiten mit der rechten Hand nicht erforderlich sind im Sitzen, Gehen und Stehen im Rahmen eines 8-Stunden-Tages geeignet. Nach der medizinischen Einschätzung des Sachverständigen unter Berücksichtigung der einschlägigen Literatur beträgt die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers wegen der Unfallfolgen 10 bis 15 %.

Der Kläger hat den Beruf eines Maschinenschlossers erlernt und war auch immer als solcher tätig. Er wurde nach dem Unfall an seinem Arbeitsplatz teilweise anders eingesetzt, weil er bei der Arbeit an Maschinen wegen seiner Verletzungen Schwierigkeiten hatte. Diese Maschinen sind meist für Rechtshänder ausgelegt, der Kläger mußte sie nun wegen seiner Verletzungen mit der linken Hand bedienen. Wegen der Funktionsunfähigkeit des rechten Daumens kann der Kläger auch die bei der Arbeit nötigen Werkzeuge nicht mehr richtig halten. Es fehlt die Greifleistung beim Heben, weshalb ihm schon öfter Werkstücke aus der Hand gerutscht sind. Insgesamt muß sich der Kläger wegen der Unfallfolgen bei der Arbeit mehr anstrengen als vorher. Derzeit ist er als Anreißer tätig. Diese Tätigkeit übersteigt die nach dem medizinischen Leistungskalkül für den Kläger zumutbare Leistungsgrenze und erfolgt, wenn man das unfallbedingte Leistungskalkül zugrundelegt, unter Gefährdung seiner Gesundheit. Der Kläger könnte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch auf die Tätigkeit eines Portiers verwiesen werden.

Aus diesem Sachverhalt leitete das Erstgericht ab, die sogenannte medizinische Einschätzung als Einschätzung bloß der Arbeitsfähigkeitsminderung und nicht der Erwerbsfähigkeitsminderung führe zu vom Gesetz offenbar nicht beabsichtigten Ergebnissen. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers werde schon dadurch gemindert, daß er die für Rechtshänder ausgelegten Maschinen und Werkzeuge im Betrieb seines Arbeitgebers nicht mehr wie bisher benutzen könne. Es müßten bei der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit solche individuelle Momente berücksichtigt werden. Das als Werkzeugmacher und Aufreißer erzielte Einkommen sei wesentlich höher als jenes in den dem Kläger noch zumutbaren, vom berufskundlichen Sachverständigen genannten Verweisungstätigkeiten. Rechtlich sei die Minderung der Erwerbsfähigkeit daher mit 30 % einzuschätzen. Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil im Sinne einer Klageabweisung ab. Die Unfallversicherung sei keine Berufsversicherung, es bestehe kein Verweisungsschutz. Bei der Beurteilung, ob und in welchem Ausmaß eine abzufindende Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliege, sei grundsätzlich nicht vom tatsächlich ausgeübten Beruf auszugehen sondern vom gesamten Arbeitsmarkt. Es sei daher unerheblich, ob sich die durch den Arbeitsunfall erlittenen Beschädigungen auf den vom Versicherten konkret ausgeübten Beruf auswirkten oder nicht, ob der Versicherte seinen Dienstposten verloren oder trotz des Unfalles, wie der Kläger, behalten habe. Die Frage, ob dem Kläger die weitere Ausübung seines Berufes als Maschinenschlosser noch zuzumuten sei, könne daher auf sich beruhen. Die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit durch einen Vergleich zwischen dem Lohn eines Maschinenschlossers und jenem eines ungelernten Arbeiters sei verfehlt. Berücksichtige man, daß der Kläger noch alle Tätigkeiten leisten könne, bei denen Feinarbeiten mit der rechten Hand nicht erforderlich seien, so ergebe sich nach der Erfahrung des Berufungsgerichtes, daß für den Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch eine große Zahl von Arbeitsmöglichkeiten und nicht nur jene eines Portiers in Betracht komme. Die Lohnverhältnisse ließen wegen der für die meisten unselbständigen Berufe bestehenden Kollektivverträge einen Lohnabfall, insbesondere in Fällen einer relativ geringen Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit, im allgemeinen überhaupt nicht erkennen. Aus diesen Erwägungen und im Sinne der einschlägigen Literatur (Krösl-Zrubecky) sei die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit etwa 10 bis 15 % einzuschätzen. Damit werde aber das in § 203 Abs. 1 ASVG festgelegte rentenbegründende Ausmaß von mindestens 20 % nicht erreicht.

In seiner Revision macht der Kläger Aktenwidrigkeit und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt die Wiederherstellung des Ersturteiles.

Die klagende Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revision kommt keine Berechtigung zu.

Eine Aktenwidrigkeit liegt nur vor, wenn das Berufungsgericht in seiner Entscheidung in einem wesentlichen Punkt den Akteninhalt (also den Inhalt einer Parteibehauptung, eines Protokolles, einer Aussage, einer Urkunde oder eines sonstigen Aktenstückes) unrichtig wiedergegeben und so ein falsches Sachverhaltsbild der rechtlichen Beurteilung unterzogen hat (EvBl. 1950/13 uva), oder wenn für einen angenommenen Sachverhalt überhaupt keine beweismäßige Grundlage vorhanden ist (ZfRv 1980, 149). Schlußfolgerungen im Tatsachenbereich können nicht aktenwidrig sein. Wenn das Berufungsgericht daher aus dem richtig wiedergegebenen Sachverhalt andere rechtliche Schlüsse als das Erstgericht gezogen hat, so kann dies keine Aktenwidrigkeit darstellen und unterliegt dem Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung. Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes aber ist zutreffend. Der Oberste Gerichtshof hat in seiner grundlegenden Entscheidung vom 2.12.1987, 9 Ob S 23/87 (= SSV-NF 1/64) ausführlich dargelegt, daß die gesetzliche Unfallversicherung keine Berufsversicherung darstellt. Danach sind auf dem Gebiet der Unfallversicherung grundsätzlich die Auswirkungen einer Unfallverletzung auf die Einsatzmöglichkeiten auf dem gesamten allgemeinen Arbeitsmarkt zunächst unabhängig vom tatsächlich ausgeübten Beruf abstrakt zu prüfen. Auch die Tatsache, daß ein Verletzter vor dem schädigenden Ereignis einen über dem Durchschnitt liegenden Verdienst erzielte, findet nur in der Höhe der Bemessungsgrundlage und damit im betraglichen Ausmaß der Rente seinen Niederschlag. Über die Erwerbsunfähigkeit des Versicherten im Sinne des Gesetzes gibt diese Größe allein keine Auskunft. Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit ist daher durch Gegenüberstellung der Durchschnittsverdienste in den Arbeitsmöglichkeiten, die dem Versicherten bis zum Eintritt des Versicherungsfalles offen standen, mit den Durchschnittsverdiensten in den ihm im Hinblick auf die Unfallfolgen verbleibenden Arbeitsmöglichkeiten zu ermitteln. Dabei sind aber im Hinblick auf die besondere Situation im Einzelfall auch die Ausbildung und die bisherigen Berufe des Unfallverletzten zur Vermeidung unbilliger Härten angemessen zu berücksichtigen. Die in Jahrzehnten entwickelten und angewendeten Richtlinien über die Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit bei Unfallverletzten müssen Grundlage und Ausgangspunkt der Schätzung sein, weil sie auch die Verhältnisse auf dem Gebiet des Erwerbslebens berücksichtigen und jeweils auch den Veränderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes Rechnung tragen. Es bleibt dann noch zu prüfen, ob im Hinblick auf die besondere Situation im Einzelfall, die Ausbildung und die bisherigen Berufe des Unfallverletzten zur Vermeidung unbilliger Härten angemessen zu berücksichtigen sind. Die Entscheidung, ob ein solcher Härtefall vorliegt, der ein Abweichen von der ärztlichen Einschätzung geboten erscheinen läßt, ist Gegenstand der rechtlichen Beurteilung.

Der Kläger übt den von ihm erlernten Beruf weiterhin aus. Allein dieser Umstand spricht dagegen, daß ein besonderer Härtefall vorliegt, der ein Abgehen von der medizinischen Einschätzung rechtfertigen würde. Weitere Erhebungen über berufsspezifische Fragen waren daher, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, nicht erforderlich. Dessen Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 10 bis 15 % entspricht den dargelegten Grundsätzen.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten der Revision beruht auf § 77 Abs. 1 Z 2 lit. b ASGG.

Anmerkung

E15860

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1988:010OBS00259.88.1025.000

Dokumentnummer

JJT_19881025_OGH0002_010OBS00259_8800000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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