TE OGH 1988/12/6 10ObS326/88

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Veröffentlicht am 06.12.1988
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Kellner als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Josef Mandak (Arbeitgeber) und Reinhard Horner (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hüseyin S***, Haberlgasse 43/3, 1160 Wien, vertreten durch Dr. Johann Etienne Korab, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A***, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25.Mai 1988, GZ 34 Rs 105/88-24, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 2.Dezember 1987, GZ 18 Cgs 1180/87-21, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 20.Juli 1942 geborene Kläger ist türkischer Staatsbürger. Er hat keine Schule besucht und kann nicht lesen und schreiben. Der Kläger hat keinen Beruf erlernt und war zuletzt als Bauhilfsarbeiter tätig. Er ist in der Lage, alle bis mittelschweren Arbeiten unter Ausschluß von ständig besonderem Zeitdruck bei durchschnittlicher Fingerfertigkeit rechts zu leisten, wobei die linke Hand wegen starker Funktionseinschränkung nur als Hilfshand für Abstützung, Gegenhalten und ähnliche Tätigkeiten Verwendung finden kann. Anlernbarkeit und Einordenbarkeit liegen vor. Der Kläger ist weder primär unterbegabt noch liegt ein geistiger Abbau vor. Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1.Juni 1987 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Der Umstand, daß der Kläger die deutsche Sprache nicht beherrsche, sei bei der Verweisbarkeit nicht zu berücksichtigen, da dies sonst einer Begünstigung von Ausländern bei der Beurteilung des Vorliegens von Invalidität führte. Doch komme beim Kläger hinzu, daß er Analphabeth sei, also überhaupt nicht lesen und schreiben könne. Dies sei ein Umstand, der nicht unbedingt nur bei Ausländern gegeben sein müsse, sondern auch, wenn auch selten, bei einem Inländer vorliegen könne. Auf Grund des medizinischen Leistungskalküls komme als Verweisungstätigkeit nur mehr jene eines Tagesportiers in Betracht. Da ein solcher auch fähig sein müsse zu lesen und zu schreiben, sei ihm eine solche Tätigkeit nicht zumutbar. Er sei daher invalide nach § 255 Abs. 3 ASVG. Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil im Sinne einer Klageabweisung ab. Für die Beurteilung der Invalidität eines Versicherten sei nur dessen körperliche und geistige Leistungsfähigkeit maßgebend, persönliche Verhältnisse wie mangelnde Sprach- oder Schreibkenntnisse eines Ausländers seien nur dann zu berücksichtigen, wenn diese Behinderungen auf ein geistiges Gebrechen zurückzuführen seien. Dafür gebe es beim Kläger keinen Anhaltspunkt.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen dieses Urteil wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Revision des Klägers ist nicht berechtigt. Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach die schon vom Berufungsgericht ins Treffen geführte Ansicht vertreten, daß mangelnde deutsche Sprach- und Lesekenntnisse keine Kriterien sind, die gegen die Verweisbarkeit auf einen bestimmten Arbeitsplatz vorgebracht werden können, weil es andernfalls zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Differenzierung zwischen Ausländern und Inländern käme. Weder dem Wortlaut noch dem Zweck des § 255 ASVG ist zu entnehmen, daß die Frage der Invalidität eines Versicherten, der nur eine andere Sprache als die deutsche beherrscht und Lateinschrift nicht schreiben und lesen kann, anders als die eines Versicherten mit Kenntnissen dieser Sprache und Schrift zu beurteilen ist. Ein solcher Versicherter, der Zeiten in der österreichischen Pensionsversicherung erwirbt, muß damit rechnen, daß er bei Beurteilung der Frage seiner Invalidität auf den Arbeitsmarkt in Österreich verwiesen wird, auf dem Kenntnisse der deutschen Sprache und Lateinschrift schon wegen der allgemeinen Schulpflicht selbstverständlich sind. Auch der Hinweis darauf, daß es auch österreichische Staatsbürger gebe, welche nicht lesen und schreiben können, ist unerheblich, weil auch sie sich darauf nicht berufen könnten, wenn dieser Mangel nicht auf ein geistiges Gebrechen sondern nur auf mangelnden Schulbesuch zurückzuführen ist (vgl. SSV-NF 1/4, SSV-NF 1/22, 10 Ob S 133/88). Nur am Rande sei bemerkt, daß für den Kläger neben der Tätigkeit eines Tagesportiers noch weitere auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausreichend vorkommende Verweisungstätigkeiten in Frage kommen könnten, die kaum Schreib- und Lesekenntnisse erfordern, wie etwa jene eines Betriebswächters oder Wachorganes einer Wach- und Schließgesellschaft. Deren Aufgaben bestehen im wesentlichen in der Anwesenheit und in periodischen Kontrollgängen.

Das Urteil des Berufungsgerichtes war daher zu bestätigen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs. 1 Z 2 lit. b ASGG.

Anmerkung

E16105

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1988:010OBS00326.88.1206.000

Dokumentnummer

JJT_19881206_OGH0002_010OBS00326_8800000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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