Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Robert Prohaska (Arbeitgeber) und Günter Eberhard (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Herbert S***, Pensionist, 5020 Salzburg, Morzger Straße 30c, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei A***
U*** (Landesstelle Salzburg), 1200 Wien,
Adalbert Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Adolf Fiebich, Dr. Vera Kremslehner und Dr. Josef Milchram, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15. September 1988, GZ 12 Rs 129/88-20, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 5. Juli 1988, GZ 39 Cgs 1108/87-17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das Urteil des Berufungsgerichtes und das erstgerichtliche Urteil, das in seinem abweisenden Teil zur Gänze und in seinem stattgebenden Teil insoweit als nicht angefochten unberüht bleibt, als die beklagte Partei schuldig erkannt wurde, dem Kläger ab 30. Juli 1987 eine vorläufige Versehrtenrente von 30 von Hundert der Vollrente im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird im Umfang der Aufhebung zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Text
Begründung:
Aus dem in der erstgerichtlichen Verhandlung verlesenen Akt der beklagten Partei BK 10641 ergibt sich ua:
Auf einem mit 26. März 1987 datierten, bei der beklagten Partei am 3. April 1987 eingelangten Vordruck zeigte der Assistent der LKA Salzburg Dr. Gerald E*** nach § 363 Abs 2 ASVG an, daß er bei dem bei der Fa S***, Fleischhauerei tätigen, bei der GKK Salzburg versicherten Kläger die Berufskrankheit "akrale Angiopathie" festgestellt habe.
Mit Bescheid vom 21. Juli 1987 lehnte die beklagte Partei die Gewährung einer Versehrtenrente für die Folgen der Erkrankung des Klägers (Durchblutungsstörungen an beiden Händen) unter Berufung auf § 177 Abs 1 ASVG ab.
In der dagegen rechtzeitig erhobenen Klage behauptete der nicht vertretene Kläger, daß es sich um eine Berufskrankheit handle, und begehrte, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihm eine Versehrtenrente "ab Antragstellung" im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. In der Tagsatzung vom 5. Oktober 1987 präzisierte er sein Begehren dahin, daß die beklagte Partei schuldig sei, ihm zur Abgeltung der Folgen seiner Berufskrankheit (Durchblutungsstörungen an beiden Händen) eine 20 %ige Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß ab 6. April 1987 zu gewähren. In der Tagsatzung vom 5. Juli 1988 dehnte er sein Begehren auf eine 35 %ige Versehrtenrente aus.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger eine 30 %ige Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß ab 6. April 1987 zur Abgeltung der Folgen seiner Berufskrankheit (Nr. 20 der Anlage 1 zu § 177 ASVG) zu gewähren, und wies das Mehrbegehren ab.
Es stellte ua fest, daß die Erkrankung der Hände "Morbus Raynaud" eine Folge der Arbeit des Klägers mit vibrierenden Handgeräten (Knochensägen) und zusätzlich massiver Kältebelastung sei. In den Bereichen der kleinen Finger seien bereits organische Veränderungen eingetreten; der Grobgriff sei erhalten, die Feinmotorik beeinträchtigt; an beiden Händen seien gefühlsmäßige Beeinträchtigungen vorhanden. Dieser Zustand bestehe bereits seit April 1987. Er sei mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 vH verbunden.
Rechtlich beurteilte das Erstgericht diese Krankheit als Berufskrankheit iS des § 177 Abs 1 ASVG (Nr. 20 der Anlage 1), welche die Erwerbsfähigkeit über drei Monate hinaus um 30 vH vermindert habe, weshalb nach § 203 Abs 1 ASVG eine 30 %ige Dauerrente zuzusprechen, das Mehrbegehren hingegen abzuweisen gewesen sei.
Dieses Urteil wurde vom Kläger nicht, von der beklagten Partei "in Bezug auf das Rentenanfallsdatum 6. April 1987" wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit Berufung angefochten. Die Berufungswerberin führte aus, daß der Eintritt des Versicherungsfalles nicht festgestellt worden sei, und daß als Rentenbeginn nach § 204 Abs 1 ASVG im Hinblick auf den mit 28. Jänner 1987 anzunehmenden Beginn der Berufskrankheit, wegen deren Folgen der Kläger vom 28. Jänner bis 31. Juli 1987 im Krankenstand gewesen sei, der Beginn der 27. Woche, also der 30. Juli 1987 in Betracht komme. Der Kläger habe daher vom 30. bis 31. Juli 1987 unter Berücksichtigung der Ruhensbestimmungen des § 90a ASVG Anspruch auf Gewährung der Vollrente. Der Teilrentenanspruch auf Basis einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 vH beginne mit 1. August 1987. Die Berufungswerberin beantragte daher, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß ihr aufgetragen werde, dem Kläger unter Berücksichtigung der Ruhensbestimmungen des § 90a ASVG für den 30. und 31. Juli 1987 die Vollrente samt Zusatzrente sowie ab 1. August 1987 eine 30 %ige vorläufige Versehrtenrente zu erbringen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge.
Es führte aus, in erster Instanz sei von keiner Partei vorgebracht worden, daß die Krankheit des Klägers am 28. Jänner 1987 ausgebrochen sei und sich dieser von diesem Tag bis 31. Juli 1987 im Krankenstand befunden habe. Weder in den vorgelegten Anstaltsunterlagen noch im Gerichtsakt fänden sich irgendwelche diesbezügliche Hinweise. Es sei lediglich aktenkundig, daß der Kläger im März 1987 einige Tage "in stationärem Aufenthalt war". Ohne diese unzulässigen und unbeachtlichen Neuerungen sei die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes richtig. Ausgehend von der Feststellung, daß der krankhafte Zustand seit April 1987 bestehe, gelte der Versicherungsfall nach § 174 ASVG mit dem 1. April 1987 als eingetreten. Daß die Krankheit schon am 28. Jänner 1987 eingetreten sei, habe der Kläger selbst nicht behauptet. Nach § 204 Abs 5 ASVG falle die Versehrtenrente "in den übrigen Fällen", also beispielsweise in Fällen, in denen kein Krankengeldanspruch bestehe, mit dem Tag nach Eintritt des Versicherungsfalles an. Da der Bezug von Krankengeld nicht festgestellt worden sei, sei die letztzitierte Bestimmung anzuwenden. Der Zuspruch der Versehrtenrente ab 6. April 1987 sei daher für die beklagte Partei nicht nachteilig.
Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache und Mangelhaftigkeit des Verfahrens mit den Anträgen, das angefochtene Urteil wie in der Berufung beantragt abzuändern oder es allenfalls aufzuheben. Nach Meinung der Revisionswerberin hätte das Erstgericht alle für die Ermittlung des Eintrittes des Versicherungsfalles und des Rentenanfallszeitpunktes wesentlichen Umstände von Amts wegen ermitteln und feststellen müssen. Dann wäre der Krankenstand des Klägers nicht zu übergehen und die Rente iS des Abänderungsantrages festzustellen gewesen.
Der Kläger erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Rechtliche Beurteilung
Die nach § 46 Abs 4 ASGG ohne die Einschränkungen des Abs 2 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist berechtigt. Der Revisionswerberin ist darin zuzustimmen, daß das Gericht in Sozialrechtssachen nach § 87 Abs 1 ASGG vorbehaltlich der - hier nicht in Frage kommenden - Abs 2 bis 4 leg cit sämtliche notwendig erscheinenden Beweise von Amts wegen aufzunehmen hat. Das Gericht hat daher die Pflicht, selbst alle Tatsachen von Amts wegen zu erwägen und zu erheben, die für die begehrte Entscheidung erforderlich sind, und die zum Beweis dieser Tatsachen notwendigen Beweise von Amts wegen aufzunehmen. Die Verletzung dieser Pflicht begründet nicht nur einen Verfahrensmangel (Kuderna, ASGG § 87 Erl 3), sondern kann auch, wenn nach Inhalt der Prozeßakten dem Berufungsgericht erheblich scheinende, also entscheidungswesentliche Tatsachen nicht festgestellt wurden, zu einer im Rahmen der Rechtsrüge geltend zu machenden und in deren Erledigung wahrzunehmenden Unvollständigkeit der Sachgrundlage führen (Fasching, Komm IV 210 Anm 6 1. Absatz). Die im 2. Abs der zit Kommentarstellen vertretene Meinung, die Möglichkeit der Aufhebung gemäß § 496 Abs 1 Z 3 ZPO wegen rechtlicher Feststellungsmängel werde dadurch umfänglich begrenzt, daß das Berufungsgericht nur diejenigen Rechtsnormen seiner Überprüfung zugrunde legen könne, die auf den von den Parteien in erster Instanz behaupteten Sachverhalt ohne Ergänzung der Parteienbehauptungen angewendet werden können, weshalb eine Aufhebung zu dem Zweck unzulässig sei, die Parteien zu einem bisher von keinem der Streitteile getätigten und aus den Prozeßakten nicht ersichtlichen Vorbringen und Beweisanbot zu veranlassen, nur um eine dem Berufungsgericht besonders treffend scheinende rechtliche Beurteilung überhaupt erst zu ermöglichen, ist in Sozialrechtssachen im Lichte der oben erwähnten verstärkten Verantwortung des Gerichtes für die Sammlung und Feststellung des entscheidungswesentlichen Prozeßstoffes zu sehen.
Solche wesentliche Feststellungsmängel liegen hinsichtlich
a) des Eintrittes des Versicherungsfalles, b) des Anfalles der Versehrtenrente und c) deren Art (vorläufige oder Dauerrente) vor. zu a):
Nach § 174 Z 2 ASVG gilt der Versicherungsfall bei Berufskrankheiten mit dem Beginn der Krankheit (§ 120 Abs 1 Z 1 ASVG) oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, mit dem Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit (§ 203 ASVG) als eingetreten. Nach § 120 Abs 1 Z 1 leg cit gilt der Versicherungsfall der Krankheit mit dem Beginn der Krankheit, das ist des regelwidrigen Körper- oder Geisteszustandes, der die Krankenbehandlung notwendig macht, als eingetreten. Nach § 203 Abs 1 ASVG besteht der Anspruch auf Versehrtenrente, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch die Folgen eines Arbeitsunfalles oder eine Berufskrankheit über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 vH vermindert ist, wobei die Versehrtenrente für die Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 vH gebührt. Das Erstgericht hat zwar festgestellt, daß die Berufskrankheit und die Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 vH "bereits seit April 1987" bestehen. Diese Feststellung ist offensichtlich auf den begehrten Rentenbeginn (6. April 1987) abgestellt, bedeutet aber keine Verneinung des früheren Beginnes der Berufskrankheit und der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Insbesondere dafür, daß die Berufskrankheit schon wesentlich früher eingetreten ist, sprechen einige Beweisergebnisse, vor allem der in der Anzeige nach § 363 Abs 2 ASVG erwähnte Beginn der ärztlichen Behandlung im Oktober 1986, die nach der Mitteilung des Klägers an die beklagte Partei vom 23. April 1987 schon im Jahre 1985 begonnen haben soll, und die im Anstaltsakt erwähnten Aufenthalte des Klägers in Bad Hofgastein vom 28. Jänner bis 18. Februar 1987 und in den LKA Salzburg vom 9. bis 18. März 1987.
Hätte die Behandlungsbedürftigkeit der Berufskrankheit etwa schon Anfang Oktober 1986 begonnen, dann würde der Versicherungsfall nach § 174 Z 2 ASVG schon mit Anfang Oktober 1986 als eingetreten gelten. Dies wäre - wie noch zu zeigen sein wird - für den Kläger günstiger als die bisherige Feststellung, daß die Berufskrankheit und die Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 vH (jedenfalls) bereits seit April 1987 bestehe.
Der Eintritt des Versicherungsfalles ist nicht nur für den Anfall der Versehrtenrente nach § 204 ASVG sondern zB auch für die Bemessungsgrundlage nach § 179 Abs 1 und für die Neufeststellung der Rente nach § 183 Abs 2 leg cit von Bedeutung.
zu b):
Besteht für eine durch ... eine Berufskrankheit verursachte Arbeitsunfähigkeit ein Anspruch auf Krankengeld aus der Krankenversicherung, so fällt die Versehrtenrente nach § 204 Abs 1 ASVG mit dem Tage nach dem Wegfall des Krankengeldes, spätestens mit der 27. Woche nach dem Eintritt des Versicherungsfalles an. In allen übrigen, in den hier nicht in Frage kommenden Abs 2 bis 4 der zit Gesetzesstelle nicht genannten Fällen fällt die Versehrtenrente nach Abs 5 leg cit mit dem Tage nach dem Eintritt des Versicherungsfalles an. Während Abs 1 den Anfall der Versehrtenrente für den Normalfall des auch krankenversicherten Arbeitnehmers regelt (MGA ASVG 46. ErgLfg 1026 FN 1), trifft Abs 5 zB auch krankenversicherte, aber vom Anspruch auf Krankengeld nach § 138 Abs 2 ASVG ausgeschlossene Personen (MGA ASVG 46. ErgLfg 1027 FN 8; Tomandl, SV-System 3. ErgLfg 350 f insb. 351 FN 11). Im Falle der Feststellung, daß der Eintritt des Versicherungsfalles mindestens 26 Wochen vor dem 6. April 1987 liegt, also spätestens am 4. Oktober 1986, könnten weitere Feststellungen unterbleiben, weil dann die Versehrtenrente am 6. April 1987 jedenfalls angefallen wäre.
Im Falle der Feststellung eines späteren Eintrittes des Versicherungsfalles müßte hingegen geprüft werden, ob und wielange für eine durch die Berufskrankheit verursachte Arbeitsunfähigkeit ein Anspruch auf Krankengeld aus der Krankenversicherung bestand. zu c):
Schließlich werden im Hinblick auf § 209 ASVG nähere Feststellungen über die Entwicklung der Berufskrankheit erforderlich sein, weil derzeit noch nicht verläßlich beurteilt werden kann, ob die Versehrtenrente schon als Dauerrente festgestellt werden kann. Darüber, ob die Versehrtenrente vor dem 1. August 1987 wegen des allfälligen Zusammentreffens des Bezuges von Krankengeld mit dem Anspruch auf Versehrtenrente nach § 90a ASVG ruht, hat der beklagte Versicherungsträger noch nicht mit Bescheid entschieden (§ 367 Abs 2 ASVG), so daß es insoweit an einer Verfahrensvoraussetzung fehlt (§ 67 Abs 1 Z 1 ASGG). Es war daher wie aus dem Spruch ersichtlich zu entscheiden.
Anmerkung
E16478European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1988:010OBS00335.88.1220.000Dokumentnummer
JJT_19881220_OGH0002_010OBS00335_8800000_000