Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Melber und Dr. Kropfitsch als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Christine S***, Angestellte, St. Peter 4, 9463 Reichenfels, vertreten durch Dr. Gottfried Hammerschlag, Dr. Wilhelm Dieter Eckhart und Dr. Gerhard Gratzer, Rechtsanwälte in Klagenfurt, wider die beklagte Partei Ö*** R*** K***, Bezirksstelle Wolfsberg, Reding 354, 9400 Wolfsberg, vertreten durch Dr. Johann Tischler, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wegen S 82.000 s.A. (Revisionsstreitwert S 42.795,50), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 13. September 1988, GZ 6 R 158/88-13, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt vom 1. Juni 1988, GZ 27 Cg 92/88-8, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 2.829,75 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin Umsatzsteuer von S 257,25, keine Barauslagen) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 30. Juli 1987 ereignete sich gegen 6.15 Uhr im Bereich der Kreuzung der Ein- und Ausfahrt der Reichenfelser Gemeindestraße mit der Obdacher Bundesstraße ein Verkehrsunfall, an dem Josef S*** als Lenker des PKW der Klägerin mit dem Kennzeichen K 130.447 und Johann W*** als Lenker des Rettungsfahrzeuges mit dem Kennzeichen K 139.205 beteiligt waren. Die Beklagte ist der Halter des letztgenannten Kraftfahrzeuges. Das im Zuge einer Einsatzfahrt entgegen einer Einbahn fahrende Kraftfahrzeug der Beklagten kollidierte im Kreuzungsbereich mit dem von rechts kommenden PKW der Klägerin. Dabei wurden beide Fahrzeuge beschädigt; Personenschaden trat nicht ein. Ein gerichtliches Strafverfahren fand nach der Aktenlage gegen keinen der beiden beteiligten Lenker statt. Im vorliegenden Rechtsstreit begehrte die Klägerin aus dem Rechtsgrund des Schadenersatzes aus diesem Verkehrsunfall die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von S 82.000 sA (Fahrzeugschaden, Abschleppkosten, An- und Abmeldespesen). Der Höhe nach ist der Klagsbetrag nicht mehr strittig. Dem Grunde nach stützte die Klägerin ihr Begehren im wesentlichen auf die Behauptung, daß den Lenker des Fahrzeuges der Beklagten das Alleinverschulden an diesem Verkehrsunfall treffe, weil er unberechtigt eine Einbahn entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung befahren und den dem Fahrzeug der Klägerin zukommenden Rechtsvorrang verletzt habe.
Die Beklagte wendete dem Grunde nach im wesentlichen ein, das Alleinverschulden an diesem Verkehrsunfall treffe den Lenker des PKW der Klägerin. Der Lenker des Fahrzeuges der Beklagten habe sich auf einer Einsatzfahrt befunden und Blaulicht eingeschaltet gehabt. Er sei berechtigt entgegen der Einbahn gefahren, weil er sein Einsatzziel nicht anders erreichen habe können. Der Lenker des PKW der Klägerin habe den dem Fahrzeug der Beklagten zustehenden Vorrang verletzt. Der Lenker des Rettungsfahrzeuges habe auf das Fehlverhalten des Lenkers des PKW der Klägerin sofort nach Erkennbarkeit reagiert, den Unfall aber nicht mehr vermeiden können. Schließlich wendete die Beklagte eine Schadenersatzforderung aus diesem Verkehrsunfall in der Höhe von S 3.591 (Fahrzeugschaden) aufrechnungsweise gegen die Klagsforderung ein. Der Höhe nach ist auch diese Gegenforderung nicht mehr strittig.
Das Erstgericht entschied, daß die Klagsforderung mit S 82.000 sA zu Recht, die eingewendete Gegenforderung hingegen nicht zu Recht besteht. Es gab daher dem Klagebegehren statt. Das Erstgericht stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:
Die Ein- und Ausfahrt von der Obdacher Bundesstraße in das Ortsgebiet Reichenfels ist wie folgt ausgestaltet und beschildert:
Die Bundesstraße verläuft im allgemeinen in Nord-Süd-Richtung. Von Norden nach Süden ist die Ausfahrt aus dem Ortsgebiet Reichenfels auf der alten Bundesstraße als Einbahn in Richtung Süden einbindend in die Obdacher Bundesstraße geführt, wobei aus Anfahrtsrichtung Süden das Gebotszeichen "Einfahrt verboten" und ein blauer Richtungspfeil in Richtung des weiteren Verlaufes der Bundesstraße vorhanden ist. Die Einfahrt in Richtung Reichenfels befindet sich 80 m nördlich der Ausfahrt, wobei hier die Kreuzung mit der Bundesstraße eine T-Kreuzung darstellt. Der Ast der als Einbahn geführten Ausfahrt in Richtung Süden und die Einfahrt treffen sich in einer Entfernung von 24 m vom westlichen Fahrbahnrand der Bundesstraße. Ein- und Ausfahrt sind durch eine dreieckige Verkehrsinsel (Grünfläche) getrennt, deren westliche Begrenzung (= östlicher Fahrbahnrand der Einbahn) 80 m lang ist. In der Nordwestecke dieser Grünfläche steht ein Verkehrszeichenträger mit zwei Hinweisschildern, die in einer solchen Höhe angebracht sind, daß für einen die Einfahrt befahrenden PKW-Lenker vor Erreichen der Fluchtlinie des östlichen Fahrbahnrandes der Einbahn die Sicht entgegen der Einbahn blockiert ist. Aus einer Position, in der sich die Front des Fahrzeuges an dieser Fluchtlinie befindet, besteht für einen solchen PKW-Lenker Sicht entgegen der Einbahn auf 80 m. Die Belagsbreite der Einbahn beträgt 6,1 m, die Trichterbreite der Einfahrt Richtung Reichenfels 26 m. Die Unfallstelle liegt im Freilandgebiet.
Zur Unfallszeit bog S*** mit dem PKW der Klägerin, der einen mit Milchcontainern beladenen Einachsanhänger zog, von der Bundesstraße nach links in die Zufahrt zur Reichenfelser Gemeindestraße ein. W***, der sich mit dem Rettungswagen der Beklagten auf einer Einsatzfahrt zu einem Herzpatienten nach Reichenfels befand, fuhr mit eingeschaltetem Blaulicht, jedoch ohne Folgetonhorn, auf der Bundesstraße aus Richtung Süden kommend mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h entgegen der Einbahnrichtung in die Ausfahrt der Reichenfelser Gemeindestraße ein. 5,45 Sekunden vor der Kollision war der Rettungswagen 100 m und der PKW der Klägerin rund 30 m von der Unfallstelle entfernt. In dieser Position befanden sich die beiden Fahrzeuge im gegenseitigen Sichtbereich ihrer Lenker. W*** nahm das Abbiegen des PKW der Klägerin von der Bundesstraße in die Einfahrt der Gemeindestraße wahr, dachte aber, daß der Lenker dieses PKW das Einsatzfahrzeug erkennen und nach Durchfahren der Gemeindestraßeneinfahrt nach Norden in Richtung Reichenfels abbiegen werde. 60 m vor dem Unfallspunkt schaltete W*** vom vierten auf den dritten Gang zurück. Vom Einfahren in die Ausfahrt entgegen der Einbahnrichtung bis zu dem Punkt, an dem der PKW der Klägerin bei W*** die Bremsreaktion auslöste, durchfuhr W*** eine Strecke von 57,35 m mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 75 km/h, sodaß er bis dorthin eine Zeit von 2,75 Sekunden benötigte. Die gleiche Zeit benötigte S***, um mit der Vorderfront des von ihm gelenkten PKW in eine Position 13,5 m vom Kollisionspunkt bzw. 9,4 m östlich der Fluchtlinie des östlichen Fahrbahnrandes der Einbahn zu kommen. In dieser Position war für S*** durch die beschriebenen Hinweisschilder bei einer Geschwindigkeit zwischen 10 und 15 km/h eine Sichtbehinderung gegen die Anfahrtsrichtung des Rettungswagens in der Dauer von 1 bis 1,5 Sekunden gegeben. W*** hingegen vermochte infolge seiner höheren Sitzposition und der Länge von PKW samt Anhänger die Annäherung des Fahrzeuges der Klägerin wahrzunehmen. S*** blickte sowohl östlich der Hinweisschilder als auch während der Sichtbehinderung nach Süden, nahm dabei aber nur Fahrzeuge auf der Bundesstraße wahr, nicht jedoch das mit Blaulicht herannahende Einsatzfahrzeug. Für W*** erfolgte die Reaktionsaufforderung durch den PKW der Klägerin, als sich der Rettungswagen 2,7 Sekunden vor dem Kontakt 42,65 m vor der Unfallstelle befand. Er reagierte auf das ungebremste Weiterfahren des PKW der Klägerin mit einer Vollbremsung und mit Linksauslenken. Der Rettungswagen prallte mit einer Restgeschwindigkeit von 30 km/h gegen den PKW der Klägerin. S***, der die Annäherung des Einsatzfahrzeuges als Gefahrenquelle nicht registrierte, blickte vor dem Einfahren in die Kreuzung der Aus- und Einfahrt der Gemeindestraße nur nach Norden. Er wurde erst durch den Anstoß auf den Rettungswagen aufmerksam. Die Kollisionsgeschwindigkeit des PKW der Klägerin betrug rund 15 km/h. Der Kollisionspunkt liegt 2 m östlich des westlichen Fahrbahnrandes der Ausfahrt und 20 m nördlich der nördlichen Ecke der Verkehrsinsel. Das Einfahren in Richtung Reichenfels im Sinne der Verkehrsregelung, also das Umfahren der Verkehrsinsel und die Benützung der dort vorhandenen Einfahrt, hätte für W*** einen höheren Zeitaufwand zwischen 5 und 10 Sekunden bedeutet. Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt im wesentlichen dahin, daß es sich beim Fahrzeug der Beklagten zwar um ein Einsatzfahrzeug gehandelt habe, doch sei es nach der Lage des Falles nicht zulässig gewesen, daß dessen Lenker eine Einbahnstraße in der Gegenrichtung befahren habe, weil er seinen Einsatzort auch bei Beachtung der Verkehrsregeln noch rechtzeitig erreicht hätte. Der Lenker des PKW der Klägerin habe sich im Rechtsvorrang gegenüber dem Fahrzeug der Beklagten befunden, sodaß nur den Lenker des Rettungswagens, nicht aber den Lenker des PKW der Klägerin ein Verschulden an diesem Verkehrsunfall treffe. Der gegen diese Entscheidung des Erstgerichtes gerichteten Berufung der Beklagten gab das Berufungsgericht mit dem angefochtenen Urteil teilweise Folge. Es änderte das Urteil des Erstgerichtes dahin ab, daß es die Klagsforderung mit S 41.000 als zu Recht und mit S 41.000 als nicht zu Recht bestehend und die eingewendete Gegenforderung mit S 1.795,50 als zu Recht und mit S 1.795,50 als nicht zu Recht bestehend erkannte. Es verurteilte daher die Beklagte zur Zahlung von S 39.204,50 sA und wies das auf Zahlung eines weiteren Betrages von S 42.795,50 sA gerichtete Mehrbegehren der Klägerin ab. Das Berufungsgericht sprach aus, daß die Revision gegen den abändernden Teil seiner Entscheidung nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO zulässig sei.
Das Berufungsgericht führte, ausgehend von den unbekämpft gebliebenen Feststellungen des Erstgerichtes, rechtlich im wesentlichen aus, zunächst sei zu klären, welchem der beiden Fahrzeuge in der konkreten Situation der Vorrang zugekommen sei. Einsatzfahrzeuge hätten grundsätzlich den Vorrang gegenüber allen anderen Verkehrsteilnehmern, gleichgültig, von woher sie kämen oder wohin sie führen. Verstoße der Lenker eines Einsatzfahrzeuges gegen eine Verkehrsvorschrift, etwa gegen die hier in Betracht kommende Anordnung des § 26 Abs 3 letzter Satz StVO, befahre er also entgegen dieser Bestimmung eine Einbahnstraße in der Gegenrichtung, dann sei zu untersuchen, ob dies seinen grundsätzlich bestehenden Vorrang beeinträchtigen könne. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn man annehmen wollte, daß andere Verkehrsteilnehmer darauf vertrauen dürften, daß aus der Gegenrichtung einer Einbahnstraße kein Fahrzeug kommen werde, wenn sie also ihr Verhalten auf den in der zitierten Gesetzesstelle normierten Ausnahmefall ebensowenig abstellen müßten wie auf die - ebenfalls unter bestimmten Voraussetzungen für Einsatzfahrzeuge ausnahmsweise
eingeräumte - Möglichkeit, auch bei rotem Licht in eine Kreuzung einzufahren. Dies hätte andererseits die weitere Folge, daß auch der Lenker eines derartigen Einsatzfahrzeuges seinerseits nicht darauf vertrauen dürfte, daß andere Verkehrsteilnehmer im Sinne des § 26 Abs 5 StVO seinen Vorrang beachteten, wozu sie sonst grundsätzlich verpflichtet wären.
Die Regeln über den Vorrang hätten in der StVO eine zentrale Bedeutung; sie zählten zu den Grundpfeilern der Verkehrsregelung. Sie müßten, sollten sie ihren Zweck erfüllen, eindeutig und so klar sein, daß ein aufmerksamer Verkehrsteilnehmer sofort überschauen könne, wer im Vorrang sei. Die Annahme des Unterganges eines im Gesetz ausdrücklich vorgesehenen Vorranges auf Grund von Schlußfolgerungen, die ein anderer Verkehrsteilnehmer aus anderen gesetzlichen Bestimmungen ziehen müßte, würde diesem Erfordernis nicht gerecht. Nicht zuletzt die Bedachtnahme auf die Sicherheit des Verkehrs erfordere es, daß einer im Gesetz ausdrücklich festgelegten Vorrangregel nur durch eine klare Anordnung des Gesetzgebers unter bestimmten Voraussetzungen die Wirksamkeit genommen werden könne. Das führe dazu, daß mangels einer derartigen Anordnung grundsätzlich auch durch Übertretung von Verkehrsvorschriften ein Vorrang nicht verlorengehe.
Folgerichtig sei daher auch anerkannt, daß selbst dann, wenn ein Fahrzeuglenker die im § 2 Abs 1 Z 25 StVO und im § 26 Abs 1 StVO angeführten optischen und akustischen Signale mißbräuchlich verwenden sollte, dies nichts daran ändere, daß das solcherart als "Einsatzfahrzeug" für andere Verkehrsteilnehmer in Erscheinung tretende Fahrzeug diesen Charakter behalte. Ähnlich hieße es die übrigen Verkehrsteilnehmer zu überfordern, wollte man von ihnen verlangen, Spekulationen darüber anzustellen, ob das Fahren eines Einsatzfahrzeuges gegen die Fahrtrichtung einer Einbahn nach der Lage des Falles zulässig sei. Entschließe sich der Lenker eines Einsatzfahrzeuges zu einer solchen Fahrweise, könne dies daher nichts an seinem grundsätzlich bestehenden Vorrang ändern, und zwar auch dann nicht, wenn im gegebenen Fall die Voraussetzungen des § 26 Abs 3 letzter Satz StVO nicht vorliegen sollten. Maßgeblich sei somit das äußere Erscheinungsbild, das ein Fahrzeug hinterlasse. Da im vorliegenden Fall feststehe, daß am Fahrzeug der Beklagten zur Unfallszeit das Blaulicht eingeschaltet gewesen sei, was genüge, um es als Einsatzfahrzeug zu qualifizieren, sei demnach davon auszugehen, daß dem Lenker dieses Fahrzeuges in der vorliegenden Situation der Vorrang zugekommen sei. Dies werde noch dadurch unterstrichen, daß der Wortlaut des § 19 Abs 2 StVO in dieser Frage ungewöhnlich deutlich sei, bestimme er doch, daß Einsatzfahrzeuge immer den Vorrang hätten.
Einsatzfahrzeuge seien zu besonderen Zwecken im Interesse des Gemeinwohls unterwegs, weshalb ihren Lenkern auch besondere Rechte zukämen. Insbesondere seien sie nicht an Verkehrsverbote oder Verkehrsbeschränkungen gebunden (§ 26 Abs 2 StVO). Zur Erfüllung dieser Zwecke hätten sie auch gegenüber allen anderen Verkehrsteilnehmern den Vorrang (§ 19 Abs 2 StVO), sodaß es ein Wertungswiderspruch wäre, wenn dieselbe Rechtsordnung den übrigen Verkehrsteilnehmern ein Verhalten gestattete, das der Verwirklichung eben dieser im Interesse des Gemeinwohls anerkannten Zwecke zuwiderliefe. Wenn daher das Gesetz im § 26 Abs 3 letzter Satz StVO unter den dort genannten Voraussetzungen Einsatzfahrzeugen das Befahren einer Einbahnstraße in ihrer Gegenrichtung ausdrücklich gestatte, so erscheine es nur konsequent, von den übrigen Verkehrsteilnehmern - hier also vom Lenker des PKW der Klägerin - zu erwarten, daß sie ihr Fahrverhalten auch danach einrichteten. Sie müßten mit der Möglichkeit der Benützung einer Einbahnstraße in ihrer Gegenrichtung durch Einsatzfahrzeuge rechnen und somit bei einem Einfahrmanöver in eine Einbahnstraße in beide Fahrtrichtungen blicken.
Es falle somit im vorliegenden Fall dem Lenker des PKW der Klägerin ein Verstoß gegen den dem Fahrzeug der Beklagten zukommenden Vorrang zur Last.
Aber auch dem Lenker des Fahrzeuges der Beklagten sei ein Mitverschulden anzulasten. Wohl werde vom Gesetz auf Einsatzfahrten ein höheres als das sonst im Straßenverkehr zulässige Risiko toleriert, doch werde damit für den Lenker eines solchen Einsatzfahrzeuges kein Freibrief ausgestellt. Dies ergebe sich schon aus dem Gebot des § 26 Abs 1 zweiter Satz StVO, bei einer Einsatzfahrt jedenfalls keine Personen zu gefährden oder Sachen zu beschädigen. Das bedeute, daß ein solcher Lenker bei Einsatzfahrten die vorgesehenen optischen oder (und) akustischen Warnzeichen so zu geben habe, daß sich andere Verkehrsteilnehmer auch danach einrichten könnten. Er dürfe die besonderen Warnzeichen nicht erst dann betätigen, wenn erkennbar sei, daß sich andere Verkehrsteilnehmer bei einer Straßenkreuzung der zu der Einsatzfahrt benützten Fahrbahn näherten, sondern müsse dies bereits dann tun, wenn mit der Möglichkeit zu rechnen sei, daß andere Verkehrsteilnehmer die für die Einsatzfahrt in Anspruch genommene Fahrbahn gleichfalls benützen wollten. Insbesondere sei auch bei Annäherung an die Einmündung der benützten Straße in eine Vorrangstraße jedenfalls das Folgetonhorn zu betätigen. Das Befahren einer Einbahnstraße in der Gegenrichtung stelle eine besondere Gefahrenquelle dar. Die Lenker von Einsatzfahrzeugen hätten dabei außergewöhnliche Vorsichtsmaßnahmen anzuwenden; insbesondere müßten sie dabei nicht bloß optische, sondern auch akustische Warneinrichtungen benützen. Letzteres sei im vorliegenden Fall um so mehr geboten gewesen, als der Lenker des Fahrzeuges der Beklagten den PKW der Klägerin rechtzeitig herannahen gesehen habe und daher mit der Möglichkeit des Einfahrens dieses Fahrzeuges in die von ihm benützte Straße rechnen habe müssen. Die Unterlassung der Betätigung des Folgetonhorns sei daher dem Lenker des Fahrzeuges der Beklagten als Mitverschulden anzulasten. Darüber hinaus falle ihm als Verschulden zur Last, daß er die Einbahnstraße zu Unrecht in ihrer Gegenrichtung befahren habe, weil er den Einsatzort auch ohne diese Fahrweise in der gebotenen Zeit erreicht hätte, zumal bei Benützung der Einfahrt in die Gemeindestraße nur eine Verzögerung von 5 bis 10 Sekunden eingetreten wäre.
Bei Abwägung der beiderseitigen Verschuldenskomponenten erscheine eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 1 : 1 gerechtfertigt. Zwar wären an sich Verstöße gegen die Vorrangregelung als gravierender anzusehen, doch könne im vorliegenden Fall nicht außer Acht gelassen werden, daß das Nichtbeobachten des Verkehrs aus der Gegenrichtung der Einbahnstraße durch den Lenker des PKWs der Klägerin - möge es auch rechtswidrig sein - wegen der hier vorliegenden Ausnahmssituation nur als verhältnismäßig geringe Schuld anzusehen sei. Dazu komme, daß der Lenker des Einsatzfahrzeuges das Folgetonhorn nicht verwendet habe und daß für den Lenker des PKWs der Klägerin auch zeitweise eine Sichtbehinderung bestanden habe, sodaß insgesamt die beiderseitigen Verschuldenskomponenten einander die Waage hielten. Seinen Ausspruch über die Zulässigkeit der Revision gegen den abändernden Teil seiner Entscheidung nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO begründete das Berufungsgericht damit, daß es sich bei den aufgeworfenen Rechtsfragen um solche handle, die für die Rechtssicherheit bedeutsam erschienen und in einem Fall wie dem vorliegenden bisher vom Obersten Gerichtshof nicht entschieden worden seien.
Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der Klägerin. Sie bekämpft sie aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichtes abzuändern.
Die Beklagte hat eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag erstattet, der Revision keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig.
Die Rechtsfrage, ob einem Einsatzfahrzeug, das entgegen der Vorschrift des § 26 Abs 3 letzter Satz StVO eine Einbahnstraße in der Gegenrichtung befährt, im Sinne des § 19 Abs 2 StVO der Vorrang gegenüber anderen Fahrzeugen zukommt, ist eine solche im Sinne des § 502 Abs 4 Z 1 ZPO; es fehlt dazu eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes. Die in der Revision zitierten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes (veröffentlicht in ZVR 1978/301 und ZVR 1979/34) beschäftigen sich mit dieser Rechtsfrage nicht. Die Klägerin behauptet in ihrer Revision - zumindest sinngemäß - die unrichtige Lösung dieser Rechtsfrage durch das Berufungsgericht; dies allerdings zu Unrecht.
Gemäß § 19 Abs 2 StVO haben Einsatzfahrzeuge im Sinne des § 2 Abs 1 Z 25 StVO immer den Vorrang. Das bedeutet, daß ihnen gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern der Vorrang zukommt, gleichgültig, von wo sie kommen oder wohin sie fahren, auch dann, wenn sie eine Vorrangstraße kreuzen oder die Vorschriftszeichen "Vorrang geben" oder "Halt" überfahren; sie haben Vorrang auch gegenüber Schienenfahrzeugen (Dittrich-Stolzlechner StVO3 § 19 Anm. 27). Der Begriff des Einsatzfahrzeuges ist im § 2 Abs 1 Z 25 StVO definiert; danach ist ein Fahrzeug, das auf Grund kraftfahrrechtlicher Vorschriften als Warnzeichen blaues Licht und Schallzeichen mit Aufeinanderfolge verschieden hoher Töne führt, für die Dauer der Verwendung eines dieser Signale ein Einsatzfahrzeug. Für die Qualifikation eines Fahrzeuges als Einsatzfahrzeug ist erforderlich, daß blaues Licht oder Folgetonhorn tatsächlich verwendet werden; es genügt die Verwendung eines dieser Signale. Wann diese Signale erlaubterweise abgegeben werden, regelt § 26 Abs 1 StVO. Jedoch ist ein Fahrzeug auch dann ein Einsatzfahrzeug, wenn diese Signale widerrechtlich verwendet werden (Dittrich-Stolzlechner aaO § 2 Anm. 66).
Gemäß § 26 Abs 2 StVO ist der Lenker eines Einsatzfahrzeuges bei seiner Fahrt außer in den im Abs 3 dieser Gesetzesstelle angeführten Fällen an Verkehrsverbote oder an Verkehrsbeschränkungen nicht gebunden; er darf allerdings hiebei nicht Personen gefährden oder Sachen beschädigen. § 26 Abs 3 StVO ordnet an, daß der Lenker eines Einsatzfahrzeuges auch bei rotem Licht in eine Kreuzung einfahren darf, wenn er vorher angehalten und sich überzeugt hat, daß er hiebei nicht Menschen gefährdet oder Sachen beschädigt. Einbahnstraßen darf er in der Gegenrichtung nur befahren, wenn der Einsatzort anders nicht oder nicht in der gebotenen Zeit erreichbar ist. Wenn der Lenker eines Einsatzfahrzeuges den Ort des Einsatzes unter Zurücklegung eines nach den Umständen zumutbaren Umweges erreichen kann, darf er somit eine Einbahnstraße in der Gegenrichtung nicht befahren (Dittrich-Stolzlechner aaO § 26 Anm. 18).
Das Berufungsgericht hat die Frage, ob einem Einsatzfahrzeug, das entgegen der Vorschrift des § 26 Abs 3 letzter Satz StVO eine Einbahnstraße in der Gegenrichtung befährt, im Sinne des § 19 Abs 2 StVO der Vorrang gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern zukommt, zutreffend aus der Erwägung bejaht, daß es die Bedachtnahme auf die Sicherheit des Verkehrs erfordert, daß einer im Gesetz ausdrücklich festgelegten Vorrangregel nur durch eine klare Anordnung des Gesetzgebers die Wirksamkeit unter bestimmten Voraussetzungen, deren tatsächliches Vorliegen für die davon betroffenen Verkehrsteilnehmer auch erkennbar sein muß, genommen werden kann (SZ 45/65 ua). Ob ein Einsatzfahrzeug eine Einbahnstraße zulässigerweise oder unzulässigerweise in der Gegenrichtung befährt, ist für andere Verkehrsteilnehmer ebensowenig erkennbar wie der Umstand, ob der Lenker des Einsatzfahrzeuges Blaulicht oder Folgetonhorn zulässigerweise verwendet. Beides kann daher für die im § 19 Abs 2 StVO getroffene ausdrückliche Vorrangregelung nicht von Bedeutung sein, soll ihr nicht die ihr zukommende fundamentale Bedeutung für die gesetzliche Regelung des Straßenverkehrs genommen werden. Die mißbräuchliche Verwendung von Blaulicht oder Folgetonhorn durch den Lenker eines Einsatzfahrzeuges mag ebenso wie das unberechtigte Befahren einer Einbahnstraße in der Gegenrichtung durch ihn sein Verschulden an einem von ihm verursachten Verkehrsunfall begründen; an dem ihm gemäß § 19 Abs 2 StVO zustehenden Vorrang ändert es nichts.
Den im § 19 Abs 1 bis Abs 6 StVO getroffenen Vorrangregelungen entsprechen die im § 19 Abs 7 StVO normierten Verpflichtungen des Wartepflichtigen. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, daß der im Nachrang befindliche Verkehrsteilnehmer in Entsprechung seiner im § 19 Abs 7 StVO normierten Wartepflicht sich durch gehörige Beobachtung des bevorrangten Verkehrs in seiner tatsächlichen Gestaltung die Gewißheit verschaffen muß, daß er das von ihm beabsichtigte Fahrmanöver ohne Verletzung seiner Wartepflicht ausführen kann, wobei es ihm obliegt, allfälligen Sichtbehinderungen in geeigneter Weise Rechnung zu tragen (ZVR 1984/209; ZVR 1985/154; ZVR 1986/27; ZVR 1987/67; ZVR 1988/62 uva). Im vorliegenden Fall ergibt sich daraus für den Lenker des PKW der Klägerin die Verpflichtung, sich vor seiner Einfahrt in den der Ausfahrt von Reichenfels auf die Bundesstraße dienenden Ast der Gemeindestraße durch gehörige Beobachtung des Verkehrs auf diesem (und zwar auch entgegen der für die Einbahnstraße geltenden Fahrtrichtung) die Gewißheit zu verschaffen, daß er das beabsichtigte Fahrmanöver ohne Verletzung einer ihm obliegenden Wartepflicht durchführen konnte. Die Verneinung dieser Verpflichtung des Lenkers des PKW der Klägerin würde dazu führen, daß dem Lenker des Fahrzeuges der Beklagten der ihm nach § 19 Abs 2 StVO zukommende Vorrang in Wahrheit nicht eingeräumt wird. Es mag durchaus richtig sein, daß im allgemeinen nicht damit zu rechnen ist, daß Einbahnstraßen in der Gegenrichtung befahren werden; gerade die im § 26 Abs 3 letzter Satz StVO normierte Möglichkeit des Befahrens von Einbahnstraßen in der Gegenrichtung durch Einsatzfahrzeuge gebietet aber dem Wartepflichtigen die Beobachtung des Verkehrs auf der Einbahnstraße auch entgegen der Fahrtrichtung, weil anders der einem solchen Einsatzfahrzeug zukommende Vorrang nicht gewahrt werden kann. Es oblag dabei dem Lenker des PKW der Klägerin, einer allfälligen Sichtbehinderung durch entsprechende Herabsetzung seiner Geschwindigkeit Rechnung zu tragen. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen lag im übrigen eine derartige wesentliche Sichtbehinderung für den Lenker des PKW der Klägerin nicht vor, weil das herankommende Rettungsfahrzeug nur für die Dauer von 1,5 bis 2 Sekunden seiner Sicht entzogen, ansonsten aber für ihn ohne weiteres wahrnehmbar war.
Mit Recht hat unter den im vorliegenden Fall festgestellten Umständen das Berufungsgericht dem Lenker des PKWs der Klägerin die Verletzung des dem Lenker des Fahrzeuges der Beklagten nach § 19 Abs 2 StVO zukommenden Vorranges angelastet.
Soweit sich die Klägerin in ihrem Rechtsmittel gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene Verschuldensteilung wendet, kann darauf im Rahmen einer Zulassungsrevision nicht eingegangen werden, weil es sich dabei nicht um die Lösung einer Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 4 Z 1 ZPO handelt. Im übrigen ist in der vom Berufungsgericht vorgenommenen Verschuldensteilung eine wesentliche Verkennung der Rechtslage nicht zu sehen.
Der Revision der Klägerin muß daher ein Erfolg versagt bleiben. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.
Anmerkung
E16336European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1988:0020OB00157.88.1220.000Dokumentnummer
JJT_19881220_OGH0002_0020OB00157_8800000_000