Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Marold als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Jensik, Dr. Zehetner, Dr. Klinger und Dr. Schwarz als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Dennis V***, geboren am 14. April 1977, wohnhaft bei den Eltern Reinhold und Glenys V***, Bregenz, Achsiedlungsstraße 87, vertreten durch Dr. Ernst Stolz und Dr. Sepp Manhart, Rechtsanwälte in Bregenz, wegen Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe infolge Revisionsrekurses der Eltern gegen den Beschluß des Landesgerichtes Feldkirch als Rekursgerichtes vom 28. Oktober 1988, GZ 1 a R 459/88-13, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Bregenz vom 23. September 1988, GZ P 225/88-10, aufgehoben wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung:
Das Kind Dennis V*** wurde am 14.4.1977 ehelich geboren. Es kam als Frühgeburt zur Welt, mußte anschließend drei Monate im Krankenhaus bleiben und befand sich dann 3 1/2 Jahre lang auf einem Pflegeplatz. Anschließend brachten es die Eltern in einem Ganztagskindergarten und mit Schulbeginn an den schulfreien Nachmittagen in einer Tagesheimstätte unter. Am 10.4.1985 sprach der Vater in Begleitung des Kindes erstmals bei der Bezirkshauptmannschaft Bregenz vor und beantragte, das Kind im Landes-Jugendheim Jagdberg unterzubringen, weil es stehle. Von Seiten der Schule wurde damals eine Herausnahme des als labil, unkonzentriert und unausgeglichen charakterisierten Kindes aus der Familie befürwortet. Vorerst wurde jedoch mit den Eltern vereinbart, daß diese zu Dr. M*** in eine psychologische Beratung gehen. Diese Psychologin kam zu dem Schluß, daß das Kind aufgrund einer problematischen Familien- und Erziehungssituation von den Eltern her gefährdet sei und eine ambulante Behandlung des Kindes kaum ausreiche. Insbesondere habe der Vater ein sehr großes Aggressionspotential. Dr. M*** vermittelte hierauf einen Termin beim heilpädagogischen Sprechtag, wo Dr. M*** zu der Auffassung gelangte, daß für das Kind eine längerfristige Therapie, für deren Durchführung nur das Landes-Jugendheim Jagdberg in Betracht komme, notwendig sei.
Am 14.8.1985 wurde das Kind im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe in das Landes-Jugendheim Jagdberg aufgenommen. Dort hat es sich gut integriert. Dennis wurde von den Erziehern als lieber, netter und freundlicher Junge geschildert. Da Dennis nur während der Volksschulzeit in Jagdberg verbleiben sollte, begann im Oktober 1986 der dortige Psychologe Karl Heinz B*** mit der Elternarbeit. Mit Schulende 1987 wurde Dennis von seinen Eltern wieder nach Hause geholt. Er wiederholte in der Folge die
4. Volksschulklasse in der Volksschule Bregenz-Schendlingen, wobei es keine besonderen schulischen Probleme gab.
Im Jänner 1988 hat das Kind zu Hause mit Freunden die gesamte Wohnung mit Fensterkitt beschmiert und die Terrasse mit Kreide bemalt. Trotz eines Verbotes der Eltern ließ Dennis kurz darauf wieder Kinder in Abwesenheit der Eltern in die Wohnung, worauf ihn die Eltern während ihrer Berufstätigkeit zu Hause einsperrten, was der Vater mit den Worten kommentierte: "Falls er die Wohnung anzündet, röstet er sich selber".
Während der Monate, die Dennis zu Hause verbrachte, haben sich bei ihm die Symptome seiner Störung wieder verstärkt. Er erwies sich als unkonzentriert und unruhig; er war in seiner Beziehungsfähigkeit gestört. Dazu kam, daß er wieder zu stehlen begann. Am 4.5.1988 brachte die Mutter Dennis als Notaufnahme in das Landes-Jugendheim Jagdberg. Sie äußerte die Befürchtung, daß das Kind vom Vater totgeschlagen werde, weil es wieder einen Diebstahl begangen habe. Anläßlich eines Telefonates, in dessen Verlauf sich die Mutter für den Verbleib des Kindes in Jagdberg aussprach, hörte die Sozialarbeiterin den Vater im Hintergrund rufen: "Ich hätte ihn erschlagen. Ich zahle keinen Schilling mehr für das Schwein". Dennis wurde in den seiner Aufnahme in Jagdberg folgenden 6 Wochen von seinen Eltern weder persönlich noch telefonisch kontaktiert. Er litt unter dieser Trennung.
Am 8.7.1988 fand zwischen den Eltern, den zuständigen Erziehern des Landes-Jugendheimes Jagdberg und den Sachbearbeitern der Bezirkshauptmannschaft Bregenz ein Gespräch statt, bei dem den Eltern erklärt wurde, daß eine Entlassung des Kindes nach Hause nicht verantwortet werden könne. Der Vater erklärte, daß er sein Kind, bevor er es in Jagdberg belasse, umbringen und im See ertränken werde. Noch an diesem Tag nahm die Mutter das Kind gegen den Willen der Erzieher und der Bezirkshauptmannschaft Bregenz wieder zu sich nach Hause.
Gestützt auf diesen Sachverhalt stellte die Bezirkshauptmannschaft Bregenz am 15.7.1988 beim Erstgericht den Antrag, die gerichtliche Erziehungshilfe gemäß § 26 Abs 3 JWG anzuordnen und die Unterbringung des mj. Dennis im Landes-Jugendheim Jagdberg zu verfügen. Sie führte aus, daß der Vater in den letzten Monaten vermehrt damit gedroht habe, sein Kind zu töten, daß er als sehr unbeherrscht und unberechenbar bekannt sei und daß angenommen werden müsse, er werde Dennis beim nächsten Diebstahl zu Tode prügeln. Dazu komme, daß Dennis ab Herbst 1988 die erste Klasse Hauptschule besuchen und aufgrund seiner Beziehungsstörungen den ständigen Lehrerwechsel nicht verkraften werde, weshalb der geschützte Rahmen der Hauptschule in Jagdberg dringend notwendig sei. Es liege ein Erziehungsnotstand vor und es gelte nun, die mit Zustimmung der Erziehungsberechtigten eingeleitete Maßnahme der Erziehungshilfe gegen den Willen der Erziehungsberechtigten fortzusetzen, um das Kindeswohl zu sichern.
Die Eltern sprachen sich gegen den Antrag der Bezirkshauptmannschaft Bregenz aus.
Das Erstgericht wies den Antrag der Bezirkshauptmannschaft Bregenz nach Einvernahme der Eltern, des Kindes und des Erziehungsleiters des Landes-Jugendheims Jagdberg, nach Einholung eines psychiatrischen Gutachtens bei Dr. Herwig S*** und nach Rücksprache mit dem derzeitigen Klassenlehrer des Kindes ab. Es stellte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt fest und traf darüber hinaus noch folgende weiteren Feststellungen:
Der Vater ist sehr unbeherrscht und spricht oft Drohungen gegenüber dem Kind aus. Es konnte jedoch nicht festgestellt werden, daß er dem Kind jemals auch nur eine leichte Körperverletzung zugefügt hätte. Das Kind fühlt sich zwar in Jagdberg wohl, möchte aber lieber zu Hause sein. Der Vater ist nur streng zu ihm, wenn es erzieherisch angebracht ist. Das Kind ist durch die Drohungen des Vaters nicht in Angst und Unruhe versetzt und hat auch zur Mutter ein sehr gutes Verhältnis. Das Kind hat Angstsymptome, die sowohl im Unterricht als auch bei Handlungen im Alltag auffallen. Es hat auch einige Diebstähle begangen. Unter Bezugnahme auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. Herwig S*** stellte das Erstgericht weiter fest, daß derzeit weder der Partnerkonflikt der Eltern noch das elterliche Verhalten gegenüber dem Kind - psychiatrisch betrachtet - für Zwangsmaßnahmen Anlaß biete. Das Kind besucht derzeit die 1. Klasse Hauptschule in Vorkloster und kann sehr leistungsstark sein. Es benimmt sich unauffällig und ist in den Klassenverband gut integriert.
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, das Vormundschaftsgericht dürfe die gerichtliche Erziehungshilfe nur dann anordnen, wenn sie deshalb geboten ist, weil die Erziehungsberechtigten ihre Erziehungsgewalt mißbrauchen oder die damit verbundenen Pflichten nicht erfüllen. Die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe setze einen Erziehungsnotstand voraus. Die Frage, ob ein Erziehungsnotstand vorliege, sei eine Rechtsfrage. Ein Erziehungsnotstand liege vor, wenn ohne Einwirkung von außen eine schwere seelische oder körperliche Störung des Kindes oder Jugendlichen befürchtet werden muß, aber auch dann, wenn die moralische oder geistige Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen vernachlässigt oder wenn dem Körper oder der Gesundheit dieser Person nicht die erforderliche Pflege zuteil wird. Er sei zu bejahen, wenn die Eltern oder andere Personen für das Kind überhaupt nicht sorgen oder die Fürsorge unzulänglich ist, sodaß das Wohl des Kindes oder die Allgemeinheit gefährdet sei. Im vorliegenden Fall seien die Voraussetzungen für eine Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe nicht gegeben. Eine Herausnahme des Kindes aus der Klasse und eine Versetzung an den Jagdberg sei vom pädagogischen Standpunkt aus ungünstig. Der Vater habe zwar eine unbeherrschte Art und spreche öfters Drohungen aus, doch habe das Gericht den Eindruck gewonnen, daß es sich hiebei um leere Drohungen handle. Anhaltspunkte für eine schwere körperliche oder seelische Störung des Kindes seien nicht gegeben. Es liege daher ein Erziehungsnotstand nicht vor. Im übrigen komme den Eltern das erste Recht auf Erziehung ihrer Kinder zu. Dieser Grundsatz dürfe nur dann gebrochen werden, wenn das Wohl des Kindes gefährdet sei. Selbst wenn die Eltern Fehler in der Vergangenheit gemacht hätten, habe dies nicht den Verlust des Erziehungsrechtes für die Zukunft zur Folge, wenn die Fehler in der Gegenwart wieder gutgemacht würden. Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Bezirkshauptmannschaft Bregenz Folge, hob den erstgerichtlichen Beschluß auf und trug dem Erstgericht eine neue Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf; dies aus nachstehenden Erwägungen:
Der Bezirkshauptmannschaft Bregenz sei darin beizupflichten, daß auch die verbalen Drohungen des Vaters ernst zu nehmen und geeignet seien, das Kindeswohl zu gefährden. Es dürfe in diesem Zusammenhang vor allem nicht übersehen werden, daß sogar die Mutter des Kindes selbst aus Angst, der Vater könnte in seiner unbeherrschten Art das Kind totschlagen, den Minderjährigen am 4.5.1988 als Notaufnahme in den Jagdberg gebracht habe. Angesichts dieses Umstandes könnten die verbalen Drohungen des Vaters nicht als inhaltsleer bagatellisiert werden. Auch der Aktenvermerk des Gendarmeriepostens Vorkloster vom 6.5.1988 über das zwischen dem Direktor der Volksschule Schendlingen und dem Vater geführte Gespräch zeige, daß dieser pädagogischen Anregungen gegenüber nicht aufgeschlossen ist und einen Erziehungsstil praktiziert, der geeignet sei, das Kindeswohl zu gefährden. Auf die am 4.5.1988 von der Mutter aus Angst vor dem Vater veranlaßte Notaufnahme des Kindes in Jagdberg gehe der vom Erstgericht beigezogene Sachverständige Dr. Herwig S*** in keiner Weise ein. Das nur 10 Zeilen umfassende Gutachten müsse insgesamt als oberflächlich beurteilt werden und stelle keine taugliche Grundlage für die Entscheidung über die von der Bezirkshauptmannschaft Bregenz gestellten Anträge dar. Das Rekursgericht teile auch die Auffassung der Bezirkshauptmannschaft Bregenz, daß die Beiziehung eines Kinderpsychiaters sinnvoller und zweckmäßiger gewesen wäre als die Beiziehung eines nicht auf Kinderpsychiatrie spezialisierten Psychiaters. Da Dr. M*** mit der Problematik dieses Falles vertraut war, wäre es daher angebracht gewesen, ihn als Gutachter beizuziehen.
Da sich das Erstgericht bei seiner Entscheidung maßgeblich auf das dem Rekursgericht unzulänglich erscheinende Gutachten des Sachverständigen Dr. Herwig S*** stütze und im vorliegenden Fall eine kinderpsychiatrische Begutachtung eine wesentliche Entscheidungshilfe darstelle, sei eine Aufhebung des erstgerichtlichen Beschlusses zur Einholung eines kinderpsychiatrischen Gutachtens notwendig. Hiebei werde es zweckmäßig sein, den Kinderpsychiater Dr. M*** als Gutachter zu bestellen, da dieser aufgrund seiner Vorbefaßtheit mit der Entwicklung des Kindes mehr vertraut sei. In die Begutachtung werde dabei sowohl das Erziehungsverhalten des Vaters als auch die schulische Integration des Kindes einzubeziehen sein, da beide Aspekte für die Beurteilung der Frage, ob es zur Sicherung des Kindeswohles erforderlich sei, das Kind während des laufenden Schuljahres aus seinem familiären und schulischen Umfeld herauszunehmen, von maßgeblicher Bedeutung seien. Um diesbezüglich ein vollständiges Bild über die Situation des Kindes bekommen zu können, erscheine es dem Rekursgericht auch erforderlich, den Klassenlehrer des Kindes und allenfalls auch den Psychologen des Landes-Jugendheims Jagdberg B***, der vor der Rückkehr des Kindes in den elterlichen Haushalt die Vorbereitung und Beratung der Eltern vorgenommen hat, über den Verlauf dieser Beratung zu hören. Das Rekursgericht vermöge sich auf der Basis der bisherigen Verfahrensergebnisse der Auffassung des Erstgerichtes nicht anzuschließen, daß die verbalen Drohungen des Vaters nicht ernst zu nehmen seien und dessen Erziehungsstil dem Wohl des Kindes gerecht werde. Für eine abschließende Beurteilung der Frage, ob die Familienproblematik bereits einen Erziehungsnotstand begründe, der die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe im derzeitigen Zeitpunkt und ungeachtet einer jedenfalls in der ersten Zeit des neu begonnenen Schuljahres gut angelaufenen schulischen Integration des Kindes die Herausnahme des Kindes aus dem familiären schulischen Umfeld geboten erscheinen läßt, sei eine Verbreiterung der Sachgrundlage im aufgezeigten Sinn erforderlich.
Gegen den Aufhebungsbeschluß des Rekursgerichtes richtet sich der Revisionsrekurs der Eltern mit dem Antrag auf Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses. Die Eltern vertreten den Standpunkt, daß der vom Erstgericht unbedenklich festgestellte Sachverhalt dazu ausreicht, um das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe verneinen zu können.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zwar zulässig, aber nicht berechtigt. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten darf die gerichtliche Erziehungshilfe nur dann angeordnet werden, wenn sie deshalb geboten ist, weil die Erziehungsberechtigten die Erziehungsgewalt mißbrauchen oder die damit verbundenen Pflichten nicht erfüllen (§ 26 Abs 1 JWG). Das Vorliegen eines Erziehungsnotstandes ist Voraussetzung für die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe. Ein solcher Erziehungsnotstand ist dann gegeben, wenn die Eltern für das Kind nicht sorgen oder deren Fürsorge so unzulänglich ist, daß das Wohl des Kindes gefährdet wird, mag dies auch darauf beruhen, daß die Erziehungsberechtigten nicht dazu geeignet sind, dem Kind die erforderliche Betreuung und Erziehung zu gewähren (SZ 47/137, SZ 49/38, ÖA 1977, 74 und 90 und andere, zuletzt etwa 2 Ob 549/88). Im grundsätzlich vorbeugenden Charakter der Erziehungshilfe liegt die Abgrenzung zu Erziehungsaufsicht und Fürsorgeerziehung, die grundsätzlich repressiven Charakter tragen (SZ 49/38). Im Interesse des Kindeswohles hat bei Vorhandensein eines Erziehungsnotstandes das Recht der Eltern zur Kindererziehung zurückzutreten (ÖA 1988, 84; 5 Ob 614/88 ua).
Nach ständiger Rechtsprechung ist der Oberste Gerichtshof auch im Außerstreitverfahren nur Rechts- und nicht Tatsacheninstanz. Er kann einem Ergänzungsauftrag des Rekursgerichtes nicht entgegentreten, wenn dieser auf keiner unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache beruht und die aufgetragene Beweisergänzung den entscheidungserheblichen Sachverhalt betrifft (EFSlg 37.303, 39.717, 44.569, 47.128, 52.676 ua, aus letzter Zeit etwa 6 Ob 723/87). Dies ist hier der Fall.
Es war daher dem Revisionsrekurs ein Erfolg zu versagen.
Anmerkung
E16230European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1989:0050OB00651.88.0110.000Dokumentnummer
JJT_19890110_OGH0002_0050OB00651_8800000_000