Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Kellner als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Mag. Kurt Resch (Arbeitgeber) und Anton Prager (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Michael W***, St. Martin 99, 8580 Köflach, vertreten durch Dr. Reinhard Tögl, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei A*** U***, Adalbert Stifter-Straße 65, 1200 Wien,
vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17.Oktober 1988, GZ 8 Rs 161/88-19, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 14.März 1988, GZ 32 Cgs 1134/87-14, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 11.Mai 1987 anerkannte die beklagte Partei den Unfall des Klägers vom 7.August 1986 im Betrieb der G***-K***-E***- UND B*** als Arbeitsunfall
und gewährte vom 6.Februar 1987 bis 8.Februar 1987 die Vollrente samt Zusatzrente und ab 9. Februar 1987 bis auf weiteres eine Rente von 40 % der Vollrente.
Der Kläger begehrt die Weitergewährung der Vollrente.
Der am 23.September 1939 geborene Kläger, der bei der oben genannten Gesellschaft im Bergbau als zweiter Steinhauer (Lehrhauer) beschäftigt war, erlitt am 7.August 1986 einen Arbeitsunfall mit Teilabtrennung des rechten Unterschenkels und großflächigen Rißquetschwunden am rechten Oberschenkel. Der Stumpf ist prothetisch gut versorgt und nicht druckempfindlich. Durch Muskeldefekte und insbesondere Irritation im Verlauf des nervus ischiaticus kommt es zu erheblichen neuralgischen Beschwerden, die dem Kläger längeres Sitzen als eine Stunde ohne ausgeprägte Schmerzaktivierung nicht zumutbar machen. Wegen der nach längerem Sitzen erforderlichen Entlastungsphase, um die Schmerzen abklingen zu lassen, ist der Kläger ohne hohe Schmerzen nur mehr zu 75 % eines Arbeitstages einsetzbar. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt nach der medizinischen Einschätzung 50 %. Aus berufskundlicher Sicht können für den Kläger keine geeigneten Verweisungsberufe genannt werden, da der Kläger auch als Portier oder Museumswächter auf das Entgegenkommen des Arbeitgebers angewiesen sei.
Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger auch über den 8.Februar 1987 hinaus die Vollrente samt Zusatzrente zu gewähren.
Da der Kläger, der vor dem Arbeitsunfall voll einsatzfähig gewesen sei, wegen der benötigten längeren als gesetzlichen Arbeitspausen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr verweisbar sei, müsse er als voll erwerbsunfähig angesehen werden. Daran ändere auch nichts, daß der Kläger von seinem Arbeitgeber noch weiterbeschäftigt werde, weil die Arbeitsversuche als gescheitert angesehen werden müßten und diese nur mehr oder weniger im Rahmen einer Beschäftigungstherapie erfolgten.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei, soweit eine Rente von mehr als 50 % der Vollrente zugesprochen wurde, Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, daß es die beklagte Partei schuldig erkannte, dem Kläger vom 6.Februar 1987 bis 8. Februar 1987 die Vollrente samt Zusatzrente und ab 9.Februar 1987 bis auf weiteres eine Versehrtenrente von 50 % der Vollrente samt Zusatzrente zu gewähren und das Mehrbegehren (auf Gewährung einer Vollrente vgl. AS 43) abwies.
Die Frage, auf welche Berufe ein Versicherter verwiesen werden dürfe, sei eine Rechtsfrage, die nicht vom berufskundlichen Sachverständigen zu lösen sei. Für die Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit sei ein ärztliches Gutachten über die Unfallfolgen und deren Auswirkungen maßgeblich. Zu prüfen bleibe, ob im Hinblick auf die besondere Situation im Einzelfall die Ausbildung und die bisherigen Berufe des Unfallverletzten zur Vermeidung unbilliger Härten angemessen zu berücksichtigen seien. Ein solcher Härtefall liege nicht vor. Nach dem Invalideneinstellungsgesetz seien alle Dienstgeber, die im Bundesgebiet 25 oder mehr Dienstnehmer beschäftigten verpflichtet, auf je 25 Dienstnehmer mindestens einen begünstigten Invaliden, dessen Erwerbsfähigkeit um mindestens 50 % gemindert sei, einzustellen und auf den Gesundheitszustand Rücksicht zu nehmen. Diese Aspekte habe der berufskundliche Sachverständige nicht berücksichtigt. Es sei daher von der medizinischen Einschätzung auszugehen.
Rechtliche Beurteilung
Der wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Revision des Klägers kommt keine Berechtigung zu.
Ein Verfahrensmangel liegt nicht vor (§ 510 Abs. 3 ZPO). Der Revisionswerber verkennt ebenso wie das Erstgericht, daß die Unfallversicherung und Pensionsansprüche wegen geminderter Erwerbsfähigkeit verschiedene Funktionen erfüllen. Die Unfallversicherung hat Entschädigungscharakter und ist keine Berufsversicherung. Die Bestimmungen über die besonderen Anspruchsvoraussetzungen bei Pensionsleistungen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit sind daher auf die Unfallversicherung nicht übertragbar. Eine berufsbezogene Prüfung hat somit in der Regel zunächst nicht stattzufinden. Der Grad der durch die Unfallfolgen verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit ist grundsätzlich abstrakt nach dem Umfang aller verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (SSV-NF 1/64) also auch selbständiger Tätigkeiten zu beurteilen und in Beziehung zu allen Erwerbsmöglichkeiten - und nicht nur den tatsächlich genützten - zu setzen. Unter dem Begriff der Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 203 ASVG ist nämlich die Fähigkeit zu verstehen, sich im Wirtschaftsleben einen regelmäßigen Erwerb durch selbständige oder unselbständige Arbeit zu verschaffen (so schon OLG Wien SVSlg. 21629, 25671 u.a.; Gehrmann-Rudolf-Teschner ASVG 46. Erg Lfg FN 1 zu § 203). Die Ausbildung und der bisherige Beruf des Verletzten (also konkrete Verweisungsmöglichkeiten im Einzelfall) sind in Abweichung von der zunächst zugrundezulegenden medizinischen Einschätzung nur so weit angemessen zu berücksichtigen als dies zur Vermeidung unbilliger Härten erforderlich ist. Weil die Unfallversicherung keine Berufsversicherung darstellt, kann entgegen der Ansicht des Revisionswerbers die Unmöglichkeit, den bisherigen Beruf weiterhin ausüben zu können, für sich allein noch keinen Härtefall darstellen. Nur wenn die besonderen Umstände des Einzelfalles, etwa eine spezialisierte Berufsausbildung, die eine anderweitige Verwendung, bezogen auf das gesamte Erwerbsleben praktisch gar nicht zuläßt oder in weit größerem Umfang einschränkt als in durchschnittlichen Fällen mit vergleichbaren Unfallfolgen, könnte von einem besonders zu berücksichtigenden Härtefall gesprochen werden (10 Ob S 342/88). Solche von einer durchschnittlichen Betrachtungsweise abweichenden besonderen Kriterien, die eine Korrektur der medizinischen Einschätzung erfordern würden, liegen beim Kläger aber nicht vor. Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Entscheidung über die Revisionskosten beruht auf § 77 Abs. 1 Z 2 lit. b ASGG.
Anmerkung
E16938European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1989:010OBS00014.89.0207.000Dokumentnummer
JJT_19890207_OGH0002_010OBS00014_8900000_000