Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schragel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert, Dr. Hofmann, Dr. Schlosser und Dr. Graf als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Johann F***, geboren am 6. Juli 1980, infolge Revisionsrekurses des Vaters Johann F***, Polizeibeamter, Basler Gasse 50/34/9, 1234 Wien, gegen den Beschluß des Jugendgerichtshofes Wien als Rekursgerichtes vom 23. Dezember 1988, GZ 22 R 57/88-10, womit der Beschluß des Jugendgerichtshofes Wien vom 17. Oktober 1988, GZ 13 P 138/88-5, bestätigt wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Der am 6. Juli 1980 geborene mj. Johann F*** ist der eheliche Sohn und zugleich das einzige Kind des Polizeibeamten Johann F*** und der im Haushalt tätigen Eva (auch Evelyn) F***. Im Oktober 1984 verstarb die damals fünf Monate alte Schwester des Minderjährigen Angelika am sogenannten "plötzlichen Kindestod". Dieses traurige Ereignis wurde von der Familie nicht vollständig verarbeitet und sogar Grund für familiäre Auseinandersetzungen. 1985 wurde das Jugendamt (für den 23. Wiener Gemeindebezirk) auf Grund eines gewalttätigen Konfliktes zwischen den Eltern des dabei anwesenden Minderjährigen eingeschaltet. Weder eine psychologische Beratung noch die Inanspruchnahme des Institutes für Ehe- und Familientherapie und ähnlicher Institutionen bewirkten eine Problemlösung.
Der in gepflegten äußeren Verhältnissen heranwachsende Minderjährige besuchte im Schuljahr 1986/87 mangels Schulreife die Vorschulklasse und sodann im Schuljahr 1987/88 die erste Klasse der Volksschule Baslergasse (in Wien 23). Dort zeigte er gröbliche Verhaltensstörungen wie massive Ängstlichkeit, Kontaktarmut zu Lehrern und Mitschülern, Aggressionen gegen Mitschüler (wie Attacken, Würgen, Kratzen, Beißen, Beschmieren des Gewandes, Vom-Sessel-Stoßen, Ruinieren von Schulsachen und Spielzeug, ordinäre Beschimpfungen, Geschlechtsentblößungen), Verweigerung der Teilnahme an Klassenfeiern u.a.m., so daß seine Ausschulung ins Auge gefaßt wurde. Seine Eltern waren zwar bereit, den auch von ihnen erkannten Verhaltensstörungen des Minderjährigen durch entsprechende ärztliche oder psychologische Behandlung entgegenzuwirken, sahen aber im Gegensatz zum Jugendamt bzw. den für dieses agierenden Personen (Sozialarbeiter, Psychologen etc.) letztlich keine Notwendigkeit, eine Familientherapie zur gleichzeitigen Behandlung auch ihrer Ehe- und Familienprobleme in Anspruch zu nehmen. Sie stimmten daher den der Förderung der Erziehung und Wohlfahrt des Minderjährigen dienenden Maßnahmen des Jugendamtes - und letzten Endes auch seiner Unterbringung in einem Heim mit Sondererziehungsschule - nur mit der Einschränkung zu, daß dadurch der Familienkontakt des Minderjährigen zu ihnen nicht unterbunden werden sollte.
Das Jugendamt beantragte angesichts der nicht völlig geklärten Zustimmung der Eltern die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe für den Minderjährigen Johann F*** gemäß § 26 Abs 3 Satz 1 JWG durch Heimunterbringung im Kinderheim "Hohe Warte" zum Zweck des Besuchs der dortigen Sondererziehungsschule. Das Erstgericht gab diesem Antrag, dem die Eltern vor Gericht mit der Begründung widersprachen, sie könnten die Erziehungsprobleme ihres Sohnes im Rahmen ihres geordneten Familienlebens selbst oder doch mit einer psychologischen Behandlung ohne Heimunterbringung meistern, statt, weil nur durch die intensive Betreuung des Minderjährigen im Rahmen der mit dem Schulbesuch verbundenen Heimunterbringung dessen Entwicklung wieder ins Positive gekehrt werden könne.
Das Rekursgericht gab dem von den Eltern gegen den Beschluß des Erstgerichtes erhobenen Rekurs, in dem diese eine ausführliche Stellungnahme zur gesamten Lebenslage der Familie erstatteten, nicht Folge. Die bisher von den Eltern zur Beseitigung der Entwicklungs- und Erziehungsstörungen ihres Kindes mit dessen Belassung im Familienbereich gesetzten und unterstützten Maßnahmen hätten keine Erfolge erzielt, so daß die Heimunterbringung mit dem dadurch möglichen Besuch einer Sondererziehungsschule zum Wohl des Minderjährigen das letzte Mittel sei, den schwer verhaltensgestörten Minderjährigen wieder zu einem angepaßten Verhalten bringen zu können.
Rechtliche Beurteilung
Der vom Vater gegen die Entscheidung des Rekursgerichtes erhobene Revisionsrekurs ist mangels stichhältiger Darlegung eines der im § 16 AußStrG normierten Anfechtungsgrundes nicht zulässig. Die auf Textzitate aus der angefochtenen Entscheidung und jeweilige Gegenüberstellung von Auszügen aus Schulberichten, psychologischen Gutachten oder Eingaben der Eltern gegründete Aktenwidrigkeit der angefochtenen Entscheidung liegt abgesehen davon, daß es sich dabei fast ausschließlich um Zusammenfassungen oder Wertungen von Aktenbestandteilen durch das Rekursgericht handelt, vor allem deshalb nicht vor, weil es sich bei solchen Unterschieden nicht um wesentliche Abweichungen vom Akteninhalt handelt, die die Annahme eines fehlerhaften Sachverhaltsbildes für die Entscheidung des Rekursgerichtes rechtfertigen könnten (EFSlg 39.779 u.a.m.). So ist etwa den Akten tatsächlich keine Behauptung der Eltern zu entnehmen, der Sozialarbeiter B*** sei ihnen ungünstig gesinnt, doch werden von ihnen an mehreren Stellen die Angaben dieses Sozialarbeiters oder die von den Vorinstanzen darauf gegründeten Feststellungen als völlig tatsachenwidrig dargestellt, sodaß die vom Rekursgericht vorgenommene im Revisionsrekurs inkriminierte wertende Zusammenfassung nicht zu einem falschen Sachverhaltsbild oder falscher Beurteilung der Aussagen dieses Sozialarbeiters gegenüber jenen der Eltern führte.
Darüber hinaus ist dem Revisionsrekurs zu entnehmen, daß er unter dem Rekursgrund der Aktenwidrigkeit überwiegend die Richtigkeit und Vollständigkeit der von den Vorinstanzen getroffenen Tatsachenfeststellungen bekämpft. Weder unrichtige Beweiswürdigung noch Mangelhaftigkeit des Verfahrens stellen aber gemäß § 16 AußStrG zulässige Beschwerdegründe dar.
Auch die gerügte Nichtigkeit liegt nicht vor. Der Vater hatte im Verfahren Gelegenheit, zu der vom Jugendamt für seinen Sohn beantragten Maßnahme der gerichtlichen Erziehungshilfe durch Heimeinweisung sowohl mündlich vor dem Erstgericht, als auch schriftlich im Rekurs mit der Möglichkeit Neuerungen vorzutragen, Stellung zu nehmen. Sein rechtliches Gehör im Sinne des im Verfassungsrang stehenden Art. 6 Abs 1 MRK, nachdem er den Anspruch hat, daß seine Sache vom zuständigen Gericht in billiger Weise öffentlich und innerhalb angemessener Frist gehört wird, wurde im vorliegenden Verfahren nicht verletzt (vgl. SZ 54/124). Daß aber beide Vorinstanzen seinen Behauptungen und Anträgen nicht folgten, sondern ihre Entscheidung auf damit im Widerspruch stehende, aus anderen Beweismitteln gewonnene Tatsachenfeststellungen stützten, vermag (wie oben zur Unzulässigkeit der Beweisanfechtung dargelegt) keinen Nichtigkeitsgrund zu bewirken.
Wenngleich im Revisionsrekurs dieser Rechtsmittelgrund nicht ausdrücklich geltend gemacht wird, ist dem Vater doch zu entgegnen, daß auch offenbare Gesetzwidrigkeit der Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz nicht angenommen werden kann. Es hat das Wohl des Minderjährigen in den Mittelpunkt der Entscheidung gestellt und die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung gerichtlicher Erziehungshilfe gemäß § 26 JWG zutreffend als gegeben erachtet. Erziehungshilfe hat das gefährdete, aber noch intakte Kind zum Gegenstand. Sie setzt einen Erziehungsnotstand voraus, der dann anzunehmen ist, wenn es den Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten mit den von ihnen gesetzten Erziehungsmaßnahmen nicht gelingt, den Minderjährigen zu normengerechtem Verhalten - in der Schule, im privaten Bereich, im Umgang mit Lehrern, mit Schülern, mit Menschen im allgemeinen zu führen. Die Annahme eines derartigen Erziehungsnotstandes bedeutet nicht zugleich ein Versagen der Eltern, sie kann auf verschiedenen Ursachen beruhen, die von den Eltern gar nicht erkannt oder gesteuert werden können. Insbesondere im seelischen Bereich liegende Verhaltensstörungen des Kindes mit negativen Auswirkungen auf dessen Verhalten innerhalb und außerhalb des familiären Bereiches erfordern oft Maßnahmen zur Hintanhaltung einer (Erziehungs-)Verwahrlosung des Kindes, welche die Eltern in aller Regel mangels entsprechender Fachkenntnis gar nicht setzen können. Bis zur Abklärung der Erfolgs- und Verbesserungsaussichten der dem Minderjährigen anzugedeihenden gerichtlichen Erziehungshilfe werden daher auch die Eltern zum Wohle ihres Kindes auch schmerzlich empfundene Einschränkungen des persönlichen Umganges im häuslichen Familienbereich hinnehmen müssen.
Die vom Vater vor allem im ausführlichen Schriftsatz der Eltern ON 7 neu vorgetragenen Umstände können zwar bei der Behandlung des an den Obersten Gerichtshof gerichteten Revisionsrekurses keine Beachtung finden, bedürfen aber im weiteren Verfahren einer eingehenden Behandlung und Überprüfung, um ehestmöglich zu klären, ob die im Rahmen der gerichtlichen Erziehungshilfe durchgeführten Maßnahmen eine Verminderung oder gar Beseitigung des seelischen und verhaltensmäßigen Erziehungsnotstandes des Minderjährigen bewirken (können oder konnten) und noch aufrecht erhalten werden müssen oder ob doch durch andere, möglicherweise mit Einbeziehung der Eltern oder im häuslichen familiären Bereich durchzuführende Maßnahmen der Erziehungshilfe ersetzt werden können.
Der Revisionsrekurs des Vaters ist jedoch zurückzuweisen.
Anmerkung
E16516European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1989:0010OB00518.89.0301.000Dokumentnummer
JJT_19890301_OGH0002_0010OB00518_8900000_000