TE OGH 1989/3/7 10ObS52/89

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Veröffentlicht am 07.03.1989
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr. Franz Köck (Arbeitgeber) und Karl Amsz (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Wilhelm H***, 3430 Tulln, Mittergwendt 5, vertreten durch Dr. Rudolf Müller, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei

P*** DER A*** (Landesstelle Wien),

1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 14. Oktober 1988, GZ 31 Rs 264/88-32, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 27. Juni 1988, GZ 32 Cgs 1005/87-27, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an

das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Revisionskosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Weil die beklagte Partei seinen Antrag auf Invaliditätspension vom 13. August 1986 mit Bescheid vom 28. Oktober 1986 ablehnte, erhob der Kläger rechtzeitig Klage. Deren Begehren ist auf eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. September 1986 gerichtet und stützt sich darauf, daß der Kläger wegen ständiger arger Schmerzen in jeder Lage nach einer Bandscheibenoperation und einer Gehbehinderung weder durch die in den letzten 15 Jahren überwiegend ausgeübte Tätigkeit als Bauhilfsarbeiter noch eine andere geregelte Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Normallohnes eines gesunden Versicherten erwerben könne.

Die beklagte Partei wendete ein, daß der in den letzten 15 Jahren als Kraftfahrer, Beifahrer, Hilfsarbeiter und Bauhilfsarbeiter tätig gewesene Kläger während der üblichen Arbeitszeit ohne Unterbrechungen noch alle Arbeiten verrichten könne, die kein ständiges gehäuftes Bücken und schweres Heben und Tragen erforderten und daher zB als Falzer, Kleber, Kontrollarbeiter sowie Material- und Werkzeugausgeber wenigstens die Hälfte des Normallohnes eines gesunden Arbeiters erwerben könne. Sie begehrte daher die Abweisung der Klage.

Das Erstgericht verurteilte die beklagte Partei, dem Kläger "auf Grund seines Antrages vom 13. 8. 1986 eine Invaliditätspension in gesetzlicher Höhe abzüglich allfälliger Ersatzansprüche zu gewähren", ohne den Beginn und die Höhe der Geldleistung festzusetzen oder dem beklagten Versicherungsträger aufzutragen, dem Kläger bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung zu erbringen und ohne eine Leistungsfrist zu bestimmen.

Es ging dabei im wesentlichen von folgenden Feststellungen aus:

Der am 4. März 1939 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt und war als Kraftfahrer, Beifahrer, Hilfs- und Bauhilfsarbeiter tätig. Seit 20. März 1986 ist er arbeitslos oder im Krankenstand. Sein Allgemeinzustand ist gut. Er leidet an labilem Bluthochdruck bei Fettleibigkeit ohne wesentliche Funktionsstörungen und an einer durch Diät ausgleichbaren Leberschädigung. Die Knie- und Hüftgelenke sind mäßig abgenützt. Nach im Jahre 1975 und am 4. April 1986 operierten Bandscheibenvorfällen (4. u. 5. L) besteht eine schlaffe Lähmung des rechten Wadenbeinnervs, welche die Hebung des Fußes, der Großzehe und des äußeren Fußrandes beeinträchtigt, die Sensibilität im rechten Bein stört und einen Steppergang bewirkt. Dieser nicht wesentlich besserungsfähige Zustand besteht zumindest seit der Antragstellung.

Der Kläger kann nur leichte Arbeiten im Sitzen und Stehen verrichten, soll sich aber die jeweils bequemste Körperhaltung aussuchen können. Nach einer Viertelstunde im Sitzen oder Stehen muß er die Körperhaltung wechseln. Gehen kann er nur ausnahmsweise bis zu einer halben Stunde oder zwei Kilometer, dann muß er aber mindestens eine halbe Stunde sitzen. Er darf keine Lasten tragen oder heben, sich nicht häufig oder ständig bücken, nicht knien oder hocken, nicht häufig treppensteigen und keine Leitern und Gerüste besteigen. Die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes ist durch die erwähnte Gehleistung beschränkt. Weil ein Wechsel der Körperhaltung alle 15 Minuten in keinem Beruf gewährleistet ist, ist der Kläger vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Auch ein Museumsaufseher oder Amtsportier muß bei stärkerem Publikumsandrang fallweise länger stehen und gehen. Außerdem beträgt das Höchstalter für die Aufnahme in den öffentlichen Dienst 35 Jahre. Deshalb ist der Kläger nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.

In der auf Abänderung durch Klageabweisung, allenfalls Aufhebung gerichteten Berufung rügte die beklagte Partei als Mangelhaftigkeit und Aktenwidrigkeit die mit dem chirurgischen Gutachten nicht übereinstimmende Feststellung, der Kläger müsse nach einer Viertelstunde im Sitzen oder Stehen die Körperhaltung wechseln. Unter dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung führte die Berufungswerberin aus, daß es außerhalb des öffentlichen Dienstes insbesondere in der Privatindustrie zahlreiche Portiersposten gebe, bei denen nach der allgemeinen Lebenserfahrung die Möglichkeit bestehe, mehrmals pro Viertelstunde zwischen Sitzen und Stehen zu wechseln. Der Kläger könnte daher jedenfalls auf solche Portiersposten verwiesen werden.

Der Kläger beteiligte sich am Berufungsverfahren nicht. Das Berufungsgericht änderte das erstgerichtliche Urteil durch Abweisung der Klage.

Die gerügte Feststellung gebe zwar das chirurgische Gutachten, nach dem der Kläger eine bestimmte Körperhaltung nur eine Viertelstunde aushalten kann, nicht exakt wieder, doch habe sich dies auf die Entscheidung nicht ausgewirkt, weil der Sachverständige für Berufskunde seinem Gutachten ohnehin die Formulierung des Chirurgen zugrunde gelegt habe. Deshalb übernahm das Berufungsgericht die auf Grund eines mängelfreien Verfahrens getroffenen erstgerichtlichen Feststellungen (über die Arbeitsfähigkeit des Klägers). Die Rechtsrüge sei jedoch berechtigt. Die Tätigkeit eines "Amtsportiers" könne auch in der Privatwirtschaft ausgeübt werden. In öffentlichen Körperschaften, Versicherungen, Banken und anderen größeren kaufmännischen Unternehmen würde ein Portier seine Tätigkeit überwiegend sitzend in einer Portierloge ausüben. Neben der Überwachung des Einganges und der Auskunfterteilung an Kunden, Lieferanten und andere Personen, die an bestimmte Stellen verwiesen werden müßten, seien "gewisse" Schreibarbeiten und das Bedienen des Telefons nötig. Solche Arbeitsplätze, bei denen der viertelstündige Wechsel einer bestimmten Körperhaltung ohne weiters möglich sei, seien auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in ausreichender Zahl vorhanden. Deshalb sei der Kläger nicht invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG. Dagegen richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, das angefochtene Urteil durch Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern oder allenfalls die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben. Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs 2 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist berechtigt. Zur Feststellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers wurden Sachverständige auf den Gebieten der Chirurgie/Orthopädie, Neurologie/Psychiatrie und inneren Medizin bestellt, welche die schriftlichen Gutachten ON 5, 6 und 7 erstatteten. Während die Sachverständigen der ersten beiden Fachgebiete nur Aussagen über die in ihre Gebiete fallenden Gesundheitsbeeinträchtigungen und deren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit des Klägers machten, begutachtete der Internist, der den Auftrag hatte, sein Fachgutachten durch ein zusammenfassendes Gesamtgutachten zu ergänzen, die Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit auch unter Bedachtnahme auf die Diagnose und das Leistungskalkül des chirurgisch-orthopädischen Sachverständigen.

Während das schriftliche Gutachten des Internisten in der Tagsatzung vom 27. Juli 1987 verlesen wurde, trug der Chirurg sein schriftliches Gutachten in der erwähnten Tagsatzung, der Neurologe seines in der Tagsatzung vom 10. Dezember 1987 vor. Der Chirurg ergänzte im wesentlichen, daß dem Kläger auch häufiges Stiegensteigen nicht zugemutet werden könne, daß er seine Arbeit überwiegend im Sitzen und Stehen, kurzfristig auch im Gehen leisten, eine bestimmte Körperhaltung aber höchstens eine Viertelstunde lang aushalten könne. Dann müsse er die Körperhaltung wechseln "und wiederum eine Viertelstunde mindestens aushalten". Nach Möglichkeit solle er sich aber die Körperhaltung nach seinem Gutdünken aussuchen können. Der Neurologe führte gegenüber seinem schriftlichen Gutachten, in dem er erklärt hatte, daß wegen des bei längerem Gehen oder Stehen durchaus möglichen Auftretens von erheblichen Schmerzen über die üblichen Pausen hinausgehende Unterbrechungen notwendig sein könnten, aus er "schätze", daß der Kläger "vielleicht" zwei Kilometer gehen oder eine halbe Stunde gehen oder stehen könne, bis er sich 10 bis 20 Minuten setzen müsse. Weiters präzisierte er, daß der Kläger nur übermäßiges Treppensteigen vermeiden müsse. Unter diesen Umständen kann von einer ausreichenden Klärung der durch die inneren Leiden wenig, durch die von den Sachverständigen für Chirurgie und Neurologie diagnostizierten Leiden jedoch erheblich eingeschränkten Arbeitsfähigkeit des Klägers keine Rede sein.

Dazu sind die Leistungskalküle dieser Sachverständigen, insbesondere das des Neurologen, trotz der mündlichen Ergänzungen zu wenig bestimmt.

Der chirurgische Sachverständige wird vor allem klarzustellen haben, wie groß der "überwiegende" Teil der Arbeitszeit ist, den der Kläger im Sitzen und Stehen verbringen muß und wie groß der Teil der Arbeitszeit ist, den er im Gehen arbeiten kann, aber auch, wie lange die jeweiligen "kurzfristigen" Gehpausen dauern können, wie lange der Haltungswechsel dauern muß, wenn während einer Viertelstunde nur eine Körperhaltung eingenommen werden konnte und ob und wie sich die Dauer des nötigen Haltungswechsels verkürzt, wenn die vorangegangene Körperhaltung weniger als eine Viertelstunde eingehalten wurde, zB wenn der Kläger nur fünf oder zehn Minuten ununterbrochen gesessen oder gestanden ist.

Auch der Neurologe wird zu diesen die möglichen Arbeitshaltungen und ihren Wechsel betreffenden Umständen und dazu präzises Aussagen zu machen haben, wie schwer die Lasten sind, die der Kläger nicht heben und tragen soll.

Unter Eingehen auf die diesbezüglichen Revisionsausführungen werden die beiden erwähnten Sachverständigen auch zur Frage der Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes und zur Benützbarkeit von Massenverkehrsmitteln Stellung zu nehmen haben.

Weiters werden diese beiden Sachverständigen ihre Aussagen nachvollziehbar zu begründen haben. Sollten sie aus übereinstimmenden Diagnosen unterschiedliche Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit ableiten, wäre dies selbstverständlich besonders eingehend zu erklären.

Schließlich wird ein ärztlicher Sachverständiger die durch das Zusammenwirken aller festgestellten Gesundheitsbeeinträchtigungen bewirkten Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit des Klägers in einem zusammenfassenden Gutachten zu beurteilen haben.

Erst dann kann beurteilt werden, ob der Kläger infolge seines Gesundheitszustandes imstande ist, durch eine auf dem Arbeitsmarkt noch bewertete, zumutbare Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Normallohnes eines gesunden Arbeiters zu erwerben.

Sollte zur Feststellung der Leistungsanforderungen in möglichen Verweisungstätigkeiten und der sonstigen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt die Ergänzung des berufskundlichen Gutachtens erforderlich sein, dann müßte dieser Sachverständige auch zu den diesbezüglichen Ausführungen des Berufungsgerichtes, aber auch denen in der Revision Stellung nehmen.

Wegen der aufgezeigten Mängel waren die Urteile beider Vorinstanzen aufzuheben und die Sache zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht die für eine gründliche Beurteilung der Invalidität des Klägers nach § 255 Abs 3 ASVG erforderlichen Feststellungen zu treffen haben. Diesbezüglich wird auf SSV-NF 1/11 und 20 hingewiesen. Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Revisionskosten beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Anmerkung

E16962

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1989:010OBS00052.89.0307.000

Dokumentnummer

JJT_19890307_OGH0002_010OBS00052_8900000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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