Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Prof.Dr.Friedl als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Gamerith, Dr.Kodek, Dr.Niederreiter und Dr.Redl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden und der widerbeklagten Partei Gertrude M***, geboren am 7.Februar 1923 in Leobersdorf, Pensionistin, Ebenfurth, Hofgrabengasse 3/4, vertreten durch Dr.Josef Wegrostek, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte und widerklagende Partei Heinrich M***, geboren am 16.August 1910 in Ebenfurth, Pensionist, Ebenfurt, Hofgrabengasse 19, vertreten durch Dr.Johann Mayerhofer, Rechtsanwalt in Wiener Neustadt, wegen Ehescheidung, infolge Revision der beklagten und widerklagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 5.Oktober 1988, GZ 14 R 148/88-37, womit infolge Berufung der beklagten und widerklagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wiener Neustadt vom 10.März 1988, GZ 2 Cg 213/87-32, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte und widerklagende Partei ist schuldig, der klagenden und widerbeklagten Partei die mit S 3.706,20 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin S 617,70 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu zahlen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Parteien haben am 11.August 1960 vor dem Standesamt Lichtenwörth die - beiderseits zweite - Ehe geschlossen. Sie sind österreichische Staatsbürger; ihr letzter gemeinsamer Aufenthaltsort war Ebenfurth. Der Ehe entstammen keine Kinder.
Bis zum Jahre 1973 führten die Streitteile eine normale Ehe. In diesem Jahr beauftragte der Beklagte und Widerkläger (im folgenden kurz: Beklagter) seinen Rechtsanwalt, gegen die Klägerin und Widerbeklagte (im folgenden kurz: Klägerin) eine Ehescheidungsklage einzubringen. Er warf der Klägerin im wesentlichen vor, daß sie ehewidrige Beziehungen zu Hans L***, dem Vater ihrer außerehelichen Tochter, Elke Z***, unterhalte. Dieser war nach längerem Auslandsaufenthalt infolge einer Krebserkrankung nach Österreich zurückgekehrt. Zufällig war es zu einem Treffen zwischen ihm, der Klägerin, Elke Z*** und deren Gatten gekommen; in der Folge wurde ein gemeinsamer Ausflug unternommen. Hans L*** war zu diesem Zeitpunkt selbst verheiratet; es bestand ein telefonischer Kontakt zwischen seiner Gattin und der Klägerin. Dadurch wurde diese später auch vom Ableben Hans L*** informiert. Nach dem erwähnten Zusammentreffen hatte die Klägerin von Hans L*** mehrere Briefe erhalten, die als Liebesbriefe zu bezeichnen sind und die der Klägerin so gut gefielen, daß sie sie, ohne damit eine weitere Absicht zu verbinden und offenbar nur zur Erinnerung an die gemeinsame Zeit, aus der die Tochter Elke Z*** stammte, aufbewahrte. Die Klägerin hatte diese Briefe unbeantwortet gelassen. Zufällig kam der Beklagte in den Besitz der Briefe und sah darin den Beweis für eine außereheliche Beziehung seiner Gattin. Nachdem bei einer Aussprache der Streitteile geklärt worden war, daß es zu keinen außerehelichen Beziehungen der Klägerin gekommen war, wurden die Briefe vernichtet; die Überreichung der beabsichtigten Scheidungsklage unterblieb.
Ungeachtet der Bereinigung dieser "Briefaffäre" begannen sich das Eheleben und die Beziehungen zwischen den Streitteilen zu verschlechtern; die bis dahin ohnehin seltenen sexuellen Kontakte unterblieben gänzlich. Hiefür war das Verhalten des Beklagten maßgebend: Er war mit dem Essen, das ihm die Klägerin zubereitete, nicht mehr zufrieden, erklärte ihr, daß sie für ihn nicht mehr zu kochen brauche, und ging in das Gasthaus essen. Ab 1982 kochte die Klägerin daher nicht mehr für den Beklagten. Seit dieser Zeit lehnte er es auch ab, die von der Klägerin für ihn gewaschene Wäsche zu verwenden; er ließ seine Wäsche fortan bei seinem Sohn waschen. Die durch die Briefaffäre entstandenen Spannungen waren durch die Aussprache offenbar nicht bereinigt worden. Zwischen den Ehegatten trat nach und nach eine Entfremdung ein, die auch wörtliche und tätliche Auseinandersetzungen mit sich brachte. Während der Beklagte der Klägerin gegenüber zum Ausdruck brachte, daß er an ihr nicht mehr interessiert sei, ließ sie dieses Verhalten nicht unwidersprochen; manchmal kam es vor, daß sich die Klägerin zu Beleidigungen des Beklagten hinreißen ließ, die dieser gleichfalls mit Beschimpfungen beantwortete. Zweimal endeten solche zunächst wörtlichen Auseinandersetzungen mit Tätlichkeiten, bei denen die Klägerin verletzt wurde:
Im Jahre 1983 gab ihr der Beklagte eine Ohrfeige und drehte ihr die Hand auf den Rücken. Danach war ihre Unterlippe blutunterlaufen; im Bereich ihres linken Handgelenks gab es eine Druckempfindlichkeit und Schmerzgefühle. Diese Folgen währten allerdings weniger als drei Tage. Die Klägerin erstattete deshalb auf anwaltlichen Rat eine Strafanzeige gegen den Beklagten wegen des Vergehens nach § 83 Abs 1 StGB. Mit Beschluß des Bezirksgerichtes Wiener Neustadt vom 20.Juli 1983, 5 U 2977/83-3, wurde dieses Strafverfahren wegen Geringfügigkeit (§ 42 StGB) gemäß § 451 Abs 2 StPO eingestellt. Auch im Jahre 1986 kam es zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen den Streitteilen. Der Beklagte fühlte sich dadurch, daß die Klägerin durch das Wohnzimmer ging, in dem er im Bett lag, gestört, zog sie zu sich aufs Bett, klemmte ihr den Kopf ein und versetzte ihr Schläge. Dabei erlitt die Klägerin eine Quetschung am Kopf mit einer Verstauchung der Halswirbelsäule sowie eine Prellung des rechten Schultergelenks; es kam auch zu einer Druckempfindlichkeit der linken Brustseite. All diese Folgen überschritten nicht die Dauer von drei Tagen. Dieses Strafverfahren wurde mit Beschluß des Bezirksgerichtes Wiener Neustadt vom 3.April 1986, 5 U 2304/86-3, gleichfalls aus den Gründen des § 42 StGB gemäß § 451 Abs 2 StPO eingestellt.
Es kam auch immer wieder vor, daß der Beklagte die Klägerin grundlos beschimpfte. Manchmal fanden solche wörtlichen Auseinandersetzungen auch in Gegenwart Dritter statt. Einmal versetzte der Beklagte der Klägerin einen Stoß. Er neigt auch dazu, die Klägerin anzuspucken, auf den Boden der Wohnung zu spucken und die sanitären Einrichtungen der Wohnung bewußt zu verunreinigen. Die Klägerin verhält sich demgegenüber zumeist passiv. Wird ihr das Verhalten des Beklagten aber zu viel, dann beschimpft sie als Reaktion darauf ihrerseits den Beklagten. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß sich die Klägerin im Zuge solcher Auseinandersetzungen auch dazu hinreißen ließ, ihrerseits den Beklagten zu bespucken, wenn sie vorher von ihm bespuckt worden war. Die Ehe ist völlig zerrüttet.
Beide Parteien begehren die Scheidung der Ehe aus dem Alleinverschulden des anderen Eheteils. In der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 17.September 1986 stützten sie ihr Begehren auch auf eine mehr als dreijährige Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft (§ 55 Abs 1 EheG), beantragten aber, das Verschulden des jeweils anderen Teils an der Zerrüttung (§ 61 Abs 3 EheG) auszusprechen (S 75).
Der Erstrichter schied die Ehe der Streitteile aus dem überwiegenden Verschulden des Beklagten. Die Ursache der Ehezerrüttung sei darin zu erblicken, daß die Klägerin die an sie gerichteten Liebesbriefe Hans L*** aufbewahrt, nicht aber vernichtet oder an den Absender zurückgestellt habe. Die Aufbewahrung der Briefe sei geeignet gewesen, den Eindruck zu erwecken, sie unterhalte zu deren Verfasser ehewidrige Beziehungen. Diese "Briefaffäre" sei allerdings durch eine Aussprache der Eheleute und die abschließende Vernichtung der Briefe bereinigt worden; der Beklagte habe sich auch ohne Vorbehalt bereit erklärt, die Ehe mit der Klägerin fortzusetzen. Damit sei er auch verpflichtet gewesen, mit der Klägerin wieder ein normales Eheleben zu führen. Statt dessen habe er sich von ihr abgewendet und sich ihr gegenüber aggressiv verhalten. Er habe damit auf die von der Klägerin durch die Aufbewahrung der Briefe begangene, jedoch verziehene Eheverfehlung unangemessen reagiert und sein anfängliches Desinteresse schließlich in Beschimpfungen und tätliche Aggressionshandlungen münden lassen. Der Zerrüttungsprozeß habe sich über 10 Jahre hingezogen und einen ersten Höhepunkt in der Mißhandlung der Klägerin vom Jahre 1983 erreicht, der eine weitere Mißhandlung mit Verletzungsfolgen im Jahr 1986 gefolgt sei. Dafür sei nicht das Verhalten der Klägerin, sondern die innere Einstellung des Beklagten ausschlaggebend gewesen. Soweit die Klägerin den Beklagten beschimpft oder bespuckt habe, sei dies nur eine Reaktion auf das Verhalten des Beklagten gewesen, der grundlos Streitigkeiten provoziert und die Klägerin beschimpft habe. Dem Beklagten sei daher das überwiegende Verschulden an der Ehezerrüttung anzulasten. Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Daß die Klägerin die, wenn auch ohne ihr Zutun, an sie gerichteten Liebesbriefe des Vaters ihrer außerehelichen Tochter bei sich behalten habe, sei zwar in Anbetracht der Verpflichtung jedes Ehegatten, alles zu unterlassen, was den objektiv begründeten Anschein ehewidriger Beziehungen zu erwecken geeignet sei, als Eheverfehlung zu werten; es sei aber in Rechnung zu stellen, daß ein Recht des Beklagten, die Privatpost der Klägerin zu lesen, weder behauptet noch bewiesen worden sei. Der Beklagte, der selbst zugegeben habe, daß er die Briefe im Kasten der Klägerin "gefunden" habe, sei somit für die daraus entstandenen ehelichen Spannungen mitverantwortlich. Im weiteren Verlauf habe er der Klägerin diese Eheverfehlung vorbehaltlos und in Kenntnis der für die Verzeihung maßgeblichen Umstände verziehen; ein anderer Schluß lasse sich aus seinem Gesamtverhalten - vor allem dem Absehen von der Einbringung der Scheidungsklage - nicht ableiten. Eine solche Verzeihung könne durch einen nachträglichen Willensentschluß nicht mehr wirkungslos gemacht werden. Nichts habe demnach den Beklagten berechtigt, der Klägerin die kalte Schulter zu zeigen, ihr Essen und die von ihr gewaschene Wäsche zurückzuweisen, sie zu beschimpfen und zu mißhandeln. Die festgestellten körperlichen Mißhandlungen stünden jedenfalls außerhalb des Rahmens, in dem Reaktionshandlungen auf ein vorangegangenes ehewidriges Verhalten des anderen Ehegatten im Zusammenleben normal gesitteter Eheleute noch verständlich und entschuldbar sein könnten und nicht als schwere Eheverfehlungen zu werten wären. Im Jahre 1986 sei der Beklagte massiv handgreiflich geworden, ohne daß ihn die Klägerin in irgendeiner Weise provoziert habe. Der Beklagte habe sich jahrelang der Klägerin gegenüber in gröbster Weise unleidlich verhalten und dadurch den entscheidenden Beitrag zum Scheitern der Ehe geleistet. Demgegenüber könnten die der Klägerin angelasteten Eheverfehlungen - Beschimpfungen und An- bzw. Ausspucken - als überwiegend entschuldbare Reaktionshandlungen nur in wesentlich geringerm Maße ins Gewicht fallen; der Verschuldensanteil der Klägerin sei daher so augenscheinlich geringer, daß der Ausspruch des überwiegenden Verschuldens des Beklagten an der Ehezerrüttung ohne jeden Zweifel gerechtfertigt sei.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Allein-, zumindest aber das überwiegende Verschulden der Klägerin an der Zerrüttung der Ehe ausgesprochen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht berechtigt.
Nach Meinung des Beklagten könne auf Grund der Feststellungen nicht davon ausgegangen werden, daß er der Klägerin die "Briefaffäre" verziehen habe. Dieser Frage kommt aber hier keine Bedeutung zu, weil die Verzeihung nur zur Folge hat, daß der verletzte Ehegatte das Recht auf Scheidung wegen Verschuldens auf Grund des von ihm verziehenen Verhaltens verliert (§ 56 EheG); für den - hier allein zu prüfenden - Verschuldensausspruch sind aber gemäß § 59 Abs 2 EheG auch solche Eheverfehlungen zu berücksichtigen, auf die wegen Verzeihung (oder wegen Fristablaufes nach § 57 EheG) eine Scheidungsklage nicht gegründet werden könnte (EFSlg 38.783, 41.280, 48.826, 51.657 uva).
Nach ständiger Rechtsprechung ist der Ausspruch des überwiegenden Verschuldens an der Zerrüttung der Ehe nur dann gerechtfertigt, wenn das Verschulden des einen Ehegatten erheblich schwerer ist als das des anderen und dessen Verschulden fast völlig in den Hintergrund tritt (EFSlg 43.692, 51.658 uva); der Unterschied muß dabei augenscheinlich hervortreten (EFSlg 43.691, 51.660 uva). Die Prüfung, ob die Schuld des einen Ehegatten überwiegt, hat sich aber nicht nur auf die Schwere der Verfehlungen an sich, sondern auch darauf zu erstrecken, in welchem Umfang die beiderseitigen Verfehlungen zu der schließlich eingetretenen Zerrüttung der Ehe beigetragen haben (EFSlg 36.383, 41.284 uva); maßgebend ist, wer den ersten Anstoß zur Zerrüttung der Ehe gegeben hat und wodurch diese Zerrüttung in erster Linie zu einer unheilbaren wurde (EFSlg 41.274, 51.646, 51.647 ua). Mag auch die Aufbewahrung der Briefe Hans L*** durch die Klägerin den ersten Anstoß zu der Ehekrise gegeben haben, so kann dennoch kein Zweifel daran bestehen, daß erst das Verhalten des Beklagten zu der unheilbaren Zerrüttung der Ehe geführt hat und gegenüber der Schwere seiner Verfehlungen ein etwaiges Fehlverhalten der Klägerin ganz in den Hintergrund tritt. Auch wenn man ihr das bloße Aufbewahren der Briefe Hans L***, des Vaters ihrer Tochter Elke Z***, zum Vorwurf machen will, ist dies doch nur eine geringfügige Verfehlung, die das vom Beklagten in den folgenden Jahren an den Tag gelegte Verhalten in keiner Weise rechtfertigen kann. Daß das häufige Beschimpfen und sogar Bespucken, vor allem aber die zwei schweren Mißhandlungen der Klägerin durch den Beklagten schwere, ja besonders grobe Eheverfehlungen sind, bedarf keiner näheren Begründung. Ob der Beklagte objektive Gründe dafür hat, daß er mit dem von der Klägerin zubereiteten Essen nicht mehr zufrieden war, ist bei dieser Sachlage unerheblich. Daß die Reaktionshandlungen der Klägerin - nämlich ihr gelegentlicher Gebrauch von Schimpfworten und ihr Zurückspucken - bei der Verschuldensabwägung nicht ins Gewicht fallen können, sieht offenbar auch der Beklagte, der diese Umstände in der Revision gar nicht mehr erwähnt, selbst sein.
Die Revision mußte mithin erfolglos bleiben.
Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.
Anmerkung
E16792European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1989:0040OB00511.89.0314.000Dokumentnummer
JJT_19890314_OGH0002_0040OB00511_8900000_000