Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Huber, Dr.Maier, Dr.Schwarz und Dr.Graf als Richter in den verbundenen Rechtssachen der klagenden Partei Bernhard G***, Angestellter, 4820 Bad Ischl, Kalvarienberg 1, vertreten durch Dr.Friedrich Wilhelm Ganzert, Rechtsanwalt in Wels, wider die beklagten Parteien L*** O***, Klosterstraße 7, 4010 Linz, und Dr.Manfred O***, Facharzt für Urologie, 8010 Graz, Josefweg 2 e, beide vertreten durch DDr.Heinz Mück, Rechtsanwalt in Linz, wegen jeweils S 350.000,-- sA, infolge Revisionen der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes vom 7. April 1987, GZ 4 R 268,269/86-45, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Zwischenurteil des Kreisgerichtes Wels vom 28. Dezember 1985, GZ 1 Cg 423/84-35, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die vorinstanzlichen Urteile werden aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Der Kläger wurde im Juli 1983 vom Beklagten Dr.O***, einem Facharzt für Urologie, wegen einer Feuchtwarze an der Penisspitze behandelt und sodann von diesem im Krankenhaus Bad Ischl, dessen Rechtsträger die beklagte Partei L*** O*** ist, operiert. In der Folge kam es zu Komplikationen, die zu massivem Gewebeverlust und zu einer teilweisen plastischen Rekonstruktion der Harnröhre des Klägers führten.
Mit den vorliegenden, zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Klagen begehrt der Kläger von den beklagten Parteien aus dem Titel des Schadenersatzes ua die Bezahlung eines Schmerzengeldes von S 350.000,-- mit der Begründung, die Operation und die Folgebehandlung seien unsachgemäß erfolgt und es sei mit weiteren Operationen sowie Spät- und Dauerfolgen zu rechnen. Die beklagten Parteien beantragten Klageabweisung. Die Operation sei fachgemäß durchgeführt worden, es sei keinerlei Komplikation aufgetreten und der Kläger habe beschwerdefrei entlassen werden können. Entgegen der ihm erteilten Anweisung habe er sich aber nach dem Auftreten von Beschwerden nicht sofort an den Beklagten Dr.O*** gewendet und sich auch nicht an die ihm aufgetragenen Vorgangsweisen gehalten.
Das Erstgericht fällte ein Zwischenurteil, wonach der Schmerzengeldanspruch des Klägers dem Grunde nach zu Recht bestehe.
Es hielt folgenden Sachverhalt für erwiesen: Nachdem der Kläger durch einige Wochen Blutspuren in der Unterhose bemerkt hatte ohne Schmerzen oder andere Beschwerden zu haben, begab er sich am 27. Juni 1983 in die Behandlung seines Hausarztes Dr.T***, welcher eine kaum stecknadelgroße, sich etwas in das Orificium hineinziehende Feuchtwarze auf der Penisspitze feststellte. Dr.T*** überwies den Kläger zum Beklagten Dr.O*** als urologischem Facharzt, der damals in Bad Ischl eine Ordination unterhielt und Konsiliararzt des LANDES O*** war. Am 28. Juni 1983 suchte der Kläger die Ordination des Dr.O*** auf, welcher den Harn des Klägers untersuchte, dabei Viren und im übrigen beim Kläger eine Harnröhrenentzündung, einen Wasserbruch und eine Prostatitis feststellte. Nach den Anweisungen des Dr.O*** nahm der Kläger in der Folge die ihm verschriebenen Medikamente ein und ließ bei Dr.T*** tägliche Kurzwellenbestrahlungen vornehmen, um die Entzündung im Prostatabereich zu bekämpfen. Zur operativen Abtragung der Feuchtwarze durch Dr.O*** sollte der Kläger am 14. Juli 1983 in das Landeskrankenhaus Bad Ischl kommen. Im Hinblick auf die festgestellten Entzündungen hätte eine solche Operation "eigentlich nicht vorgenommen werden sollen", zumal mit dem Abklingen der Entzündungen in dem zur Verfügung stehenden Zeitraum nicht zu rechnen war. Dr.O*** wollte jedoch am 5.August 1983 in Urlaub gehen, weshalb er diesen Operationstermin vorsah und dem Kläger einen stationären Aufenthalt von zwei bis drei Tagen in Aussicht stellte. Dieser wollte sich von der Notwendigkeit der Operation überzeugen, begab sich zu diesem Zwecke am 13.Juli 1983 in das Landeskrankenhaus Salzburg und ließ sich dort von Dr.KÖHLE ambulant untersuchen, der nach Spreizung der Harnröhrenöffnung an der Eichel "einige Effloreszenzen am Meatus, am ehesten Condylomata acuminata oder auch Urethratumor möglich" feststellte und zu einer Operation riet. Entzündungen wurden nicht festgestellt. Am 14. Juli 1983 erfolgte zwischen 11.00 Uhr und 11.30 Uhr durch Dr.O*** die Operation, wobei dieser die Feuchtwarze mit einer Nadelelektrode entfernte und hierauf wegen einer stärkeren Blutung die blutenden Gefäße elektrisch koagulierte. Da sich ca einen cm vom Orificium entfernt eine weitere Feuchtwarze zeigte, wurde diese anschließend resiziert und abschließend Uromont in die Harnröhre eingetropft. Um 15.30 Uhr besuchte Dr.O*** den Kläger, stellte die Unmöglichkeit des Urinierens und außerdem eine Paraphimose fest, welche er behob. Zur Herbeiführung eines Urinabganges nahm Dr.O*** eine Katheterisierung vor, wobei er versuchte, Katheter verschiedener Größe durch die Harnröhre in die Blase einzuführen, was erst beim sechsten, für den Kläger äußerst schmerzhaften Versuch mit einem ganz dünnen Katheter gelang. Dieser ließ jedoch nicht genügend Urin abfließen, so daß Urin zwischen Harnröhre und Katheter abfloß. Die Fixation des Katheters am geschwollenen, blutverkrusteten Glied mit Zwirnfaden und Leukoplast löste sich in den nächsten Tagen immer wieder, so daß der Katheter 4 bis 5 cm aus der Harnröhre herausrutschte und von der Krankenschwester jeweils wieder zurückgeschoben werden mußte, was für den Kläger mit argen Schmerzen verbunden war. Der Zustand des Klägers verschlechterte sich, er bekam am sechsten postoperativen Tag 37,9 Grad Celsius Fieber und es trat eine beidseitige Nebenhodenentzündung auf, wodurch der Hodensack auf Grapefruit- bzw Kokosnußgröße anschwoll. Um die Entzündung abklingen zu lassen, wurden Medikamente verabreicht und Eichenrindensitzbäder gegeben. Am achten postoperativen Tag wurde der Katheter entfernt, das Urinieren war wieder möglich. Obwohl der Gesundheitszustand des Klägers eine Entlassung noch nicht rechtfertigte, wurde er von Dr.O*** am 2. August 1983 nach der Morgenvisite um 8.30 Uhr entlassen und aufgefordert, noch in die Ordination zu kommen, um sich Verbandszeug und Medikamente verschreiben zu lassen. Der Kläger traf dort nur Frau O*** an, die ihm das gewünschte Rezept verschaffte. In der Folge nahm er vorschriftsmäßig Sitzbäder und Medikamente. Am 4. August 1983 traf er zufällig Dr.O*** und erklärte, er habe Blutungen, worauf dieser meinte, damit müsse er sich noch wochenlang abfinden. Am 6.August 1983 begab sich der Kläger zu Dr.T***, nachdem Dr.O*** am 5.August 1983 ohne Nennung eines Vertreters in Urlaub gegangen war. Dr.T*** gewann aus dem Zustand des Klägers den Eindruck, dieser sei zu früh aus dem Krankenhaus entlassen worden. In der Folge wurde der Zustand des Klägers immer schlechter und er bekam bis zu 39 Grad Fieber und Schüttelfrost. Sein Glied war nur noch ein eitriger, blutiger Klumpen, am 11. August 1983 war er nicht mehr gehfähig. Dr.T*** besuchte ihn täglich, konnte jedoch keinen Urologen beiziehen, weil in Bad Ischl kein weiterer ordinierte. Er versuchte, mit Injektionen und Umschlägen eine Besserung herbeizuführen und wies ihn, nachdem trotz intensiver Behandlung keine Besserung eintrat, am 16.August 1983 in das Landeskrankenhaus Salzburg ein, wo man eine Penisphlegmone feststellte. Es wurde die Harnröhre zwischen Schaft und Hodensack geöffnet, um das Glied beim Urinieren ruhig zu stellen. Der stationäre Aufenthalt dauerte bis 24.September 1983. Danach waren zwei weitere stationäre Aufenthalte und zwar vom 14. bis 26. November 1983 und vom 6. bis 31.März 1984 notwendig, um eine Harnröhrenplastik anzulegen. Der Kläger ist nicht mehr in der Lage, Geschlechtsverkehr auszuüben, da sich nur die ersten drei bis vier Zentimeter des Gliedes versteifen.
Bei Vorliegen von Entzündungen der beim Kläger am 28.Juni 1983 gegebenen Art hätten diese richtigerweise zunächst wirksam behandelt werden müssen, was innerhalb von zwei bis drei Wochen nicht möglich gewesen wäre. Sodann hätten die Feuchtwarzen nur durch Koagulieren entfernt werden dürfen. Eine Resektion ist nur bei außerordentlich großen Feuchtwarzen angezeigt; wird sie durchgeführt, dann ist ein Katheter schon während der Operation einzulegen und möglichst früh (nach zwei bis drei Tagen) zu entfernen oder, was noch günstiger ist, die Harnröhre durch Schaffung eines künstlichen Ausganges ruhig zu stellen, um eine Infektion beim Urinieren zu vermeiden. Nach der Operation ist die Anlegung einer Harnableitung nur noch direkt aus der Blase angezeigt. Durch die Art der Katheterisierung und durch die Belassung des Katheters während acht Tagen trotz Entzündung wurde vorliegendenfalls der weitere Krankheitsverlauf wesentlich vorherbestimmt. Der Kläger hätte zwei Tage nach der Entlassung nochmals von einem Facharzt untersucht werden müssen. In seiner rechtlichen Beurteilung vertrat das Erstgericht die Ansicht, der Beklagte Dr.O*** habe die auf Grund des Krankheitsbildes des Klägers angezeigte operative Entfernung der Feuchtwarzen nicht fachgerecht vorgenommen, weil er in der Harnröhre resiziert, sodann Stunden danach in diese einen Katheter eingeführt und ihn trotz starker Schwellung infolge Entzündung des Gliedes und Auftretens von Fieber über acht Tage belassen habe. Schließlich sei der Kläger zu früh aus der stationären Behandlung entlassen, keine Kontrolluntersuchung vorgenommen und von Dr.O*** auch nicht für eine Vertretung während seines Urlaubes vorgesorgt worden. Dr.O*** habe gemäß § 1299 ABGB diese ihm bei Ausübung seines Berufes unterlaufenen Fehler zu vertreten. Die Haftung des LANDES O*** für das Versagen des Dr.O*** als behandelnder
Arzt sei nicht in Frage gestellt worden.
Das Berufungsgericht hielt weder die in der Berufung der beklagten Parteien erhobene Rüge der Mangelhaftigkeit des erstgerichtlichen Verfahrens sowie der unrichtigen Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung noch die Rechtsrüge für gerechtfertigt. Es nahm auf den Seiten 10 bis 15 seiner Entscheidung zu den behaupteten Verfahrensmängeln Stellung und verneinte deren Vorliegen, erachtete aus den auf den Seiten 16 bis 24 der Entscheidung angeführten Gründen die erstgerichtlichen Tatsachenfeststellungen für zutreffend und trat auch der erstgerichtlichen Beurteilung bei, wonach dem Beklagten Dr.O*** mehrere Behandlungs- und Sorgfaltsfehler anzulasten seien. Die Mithaftung der beklagten Partei LAND O*** sei in der Berufung nicht in Frage gestellt worden.
Die berufungsgerichtliche Entscheidung wird von den beklagten Parteien mit einer auf den Anfechtungsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nach § 503 Abs 1 Zif. 2 ZPO gestützten Revision bekämpft und es wird beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Rechtssache an das Berufungsgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Einvernahme eines weiteren Sachverständigen zurückzuverweisen.
Die Revisionswerber vertreten die Ansicht, das vom Erstgericht eingeholte Gutachten des Sachverständigen Prof.Dr.R*** sei ungenügend und durch die von ihnen vorgelegten Gutachten und Literaturnachweise eindeutig widerlegt. Der Sachverständige habe sich mit dieser Literatur nicht auseinandergesetzt und das Berufungsgericht habe versucht, die von den Berufungswerbern gestellten entscheidenden medizinischen Fragen selbst zu beantworten statt eine ergänzende Erörterung durch den Sachverständigen durchzuführen. Der Sachverständige habe selbst angegeben, sich mit der von ihnen vorgelegten Literatur noch nicht im einzelnen auseinandergesetzt zu haben. Nach den von den Vorinstanzen als Privatgutachten abgetanen Ausführungen der als Kapazitäten und Spezialisten für Harnröhrenchirurgie bekannten Professoren Dr.L*** und Dr.M*** könne dem Zweitbeklagten keinerlei Kunstfehler bei der Behandlung des Klägers, insbesondere auch nicht wegen des Setzens und Belassens des Katheters, angelastet werden. Die dem inzwischen verstorbenen Sachverständigen Prof.Dr.R*** unbekannte Fachliteratur stehe in Widerspruch zu dessen Gutachten. Aus allen diesen Gründen sei die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens erforderlich.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist im Ergebnis gerechtfertigt.
Die erstrichterlichen Feststellungen über die medizinischen Behandlungsfehler des Beklagten Dr.O*** sowie die nach der Operation aufgetretenen Komplikationen und Gesundheitsschädigungen des Klägers beruhen ausschließlich auf den gutächtlichen Äußerungen des Sachverständigen Univ.Prof.Dr.R***. Dieser führte im schriftlichen Gutachten ON 29 zur Frage der vorliegendenfalls medizinisch sachgerechten Vorgangsweise aus: "Primär sollte versucht werden, Condylome in der Harnröhre nur zu koagulieren. Die Resektion sollte nur bei extrem großen Condylomen erfolgen, wobei die Resektion in der Fossa navicularis außerordentlich problematisch ist, da es hier sehr leicht zu Verletzungen der Harnröhre bzw - bei tiefgreifender Resektion - zur Verletzung der Schwellkörper mit eventueller Bakterieneinschwemmung kommen kann. Daher sollte bei geringstem Verdacht auf eine Verletzung der Harnröhre bzw Entzündung der Schwellkörper unbedingt eine Harnableitung mittels Blasenpunktion (sei es nun durch eine Stichinzision mittels "Zystofix" oder durch eine operative "Zystostomie") erfolgen. Auf jeden Fall ist die Belassung des Dauerkatheters bei der - wie aus allen Aussagen hervorgeht - bestehenden Schwellung des Gliedes kontraindiziert und muß als Fehler angesehen werden. Dazu war noch ungünstig die Katheterfixation am Penis mit Faden und Leukoplast über acht Tage."
Unter Bezugnahme auf vom Beklagten Dr.O*** vorgelegte Literaturauszüge wiederholte der Sachverständige Univ.Prof.Dr.R*** im schriftlichen Gutachten (AS. 127) seine Ansicht, daß bei der endoskopischen Operation eine Resektion möglichst vermieden und der Koagulation der Vorzug gegeben werden sollte. Abschließend erklärte er, bei postoperativ bestehendem Verdacht auf Harnröhrenentzündung mit der Gefahr des Auftretens einer Phlegmone sei eine suprapubische Harnableitung, welche beim Kläger unterlassen wurde, als Therapie der Wahl anzusehen. In der mündlichen Erörterung des schriftlichen Gutachtens erklärte der Sachverständige (ON 34), er bleibe bei seiner Meinung, daß "bei einer infizierten Harnröhre ein Dauerkatheter falsch ist". Auch nach dem Studium der von Dr.O*** vorgelegten Unterlagen müsse er dessen Behauptung, in der medizinischen Literatur werde das Legen eines Katheters in eine frisch geöffnete Harnröhre beschrieben, als unrichtig bezeichnen. Nach dem vom Kläger geschilderten Zustand seines Gliedes im Zeitpunkt der Entlassung aus dem Krankenhaus hätte der Sachverständige die Entlassung nicht zugelassen. Auf jeden Fall hätte der Beklagte Dr.O*** den Kläger ein bis zwei Tage nach der Entlassung noch einmal "anschauen" müssen. Eine chronische Prostatitis, wie sie Dr.O*** beim Kläger anläßlich dessen erster Untersuchung festgestellt habe, lasse sich innerhalb von zwei bis drei Wochen gewöhnlich nicht heilen.
Abschließend führte der Sachverständige bei der mündlichen Erörterung seines schriftlichen Gutachtens noch aus: "Das Legen eines Dauerkatheters nach einer Elektroresektion wird sofort am Operationstisch durchgeführt und (der Katheter) möglichst frühzeitig, nach zwei bis drei Tagen, entfernt. Im konkreten Fall ist der Kläger aber ohne Dauerkatheter nach der Resektion oder Koagulation, was nicht eindeutig festzustellen ist, verblieben und hat erst nachher wegen Harnverhaltung und gleichzeitiger Paraphimose, die ohne Narkose reponiert wurde, einen sechsmaligen Katheterversuch bekommen, worauf das Glied noch stärker angeschwollen ist. Zu diesem Zeitpunkt hätte kein Dauerkatheter angelegt werden dürfen, sondern eine suprapubische Harnableitung durchgeführt werden müssen, womit voraussichtlich alle späteren Komplikationen hätten vermieden werden können."
Weitere gutächtliche Äußerungen über das Vorliegen von Behandlungsfehlern und deren Folgen wurden vom Sachverständigen Univ.Prof.Dr.R*** im Verfahren nicht abgegeben. Damit ist aber das Gutachten ungenügend geblieben, denn es hat vom Sachverständigen zu beantwortende Fragen über prozeßentscheidende Tatsachen nicht geklärt. Hiezu ist auszuführen:
Ein dem Arzt anzulastendes Fehlverhalten bei der Behandlung des Patienten liegt dann vor, wenn er nicht nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung vorgegangen ist oder die übliche Sorgfalt eines ordentlichen, pflichtgetreuen Durchschnittsarztes in der konkreten Situation vernachlässig hat (Reischauer in Rummel, ABGB, Anm. 25 zu § 1299; 3 Ob 560/84; 5 Ob 608/84; JBl 1987, 104, JBl 1987, 670 ua). Die Behandlung muß also entsprechend den Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft und den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgen. Der Arzt handelt nicht fahrlässig, wenn die von ihm gewählte Behandlungsmethode einer Praxis entspricht, die von angesehenen, mit dieser Methode vertrauten Medizinern anerkannt ist, selbst wenn ebenfalls kompetente Kollegen eine andere Methode bevorzugt hätten. Eine Behandlungsmethode kann grundsätzlich so lange als fachgerecht angesehen werden, wie sie von einer anerkannten Schule medizinischer Wissenschaft vertreten wird. Anders wäre es, wenn ein gewichtiger Teil der medizinischen Wissenschaft und Praxis eine bislang akzeptierte Behandlungsmethode für bedenklich hält (Giesen, Ärztliches Haftungsrecht (1981) 5, 8; vgl weiters derselbe, Wandlungen des Arzthaftungsrechtes (1984) 36; Koziol Haftpflichtrecht2 I, 327). Bei Behandlungsfehlern oder Sorgfaltsverstößen im vorgenannten Sinn tritt die Haftung des Arztes für deren gesundheitsschädigende Folgen ein, wenn sie für diese Folgen ursächlich oder mitursächlich waren. Den Beweis des Vorliegens eines Behandlungsfehlers und seiner Kausalität hat im Sinne der allgemeinen Schadenersatzregeln grundsätzlich der Patient zu führen. Dieser muß also als Kläger das Entstehen des Gesundheitsschadens durch das Verhalten des Arztes überwiegend (JBl 1960, 199; RZ 1968, 138) im Sinne eines hohen Grades (5 Ob 209/71; 3 Ob 560/84, 14 Ob 140,141/86 uva; Reischauer in Rummel ABGB Rz 3 zu § 1295) wahrscheinlich machen.
Vorliegendenfalls geht aus dem Gutachten des Sachverständigen Univ.Prof.Dr.R*** zunächst hinsichtlich einiger vom Sachverständigen kritisierten Verhaltensweisen des Beklagten Dr.O*** nicht eindeutig hervor, ob sie im Sinne der Regeln der ärztlichen Kunst und Wissenschaft bereits als Kunstfehler zu werten sind oder nach diesen Regeln immerhin noch vertretbar erschienen. Der Sachverständige führte, wie oben dargestellt, mehrfach aus, was "primär versucht werden sollte", "möglichst vermieden werden sollte" bzw "ungünstig" war und weiters, daß er die Entlassung des Klägers nicht zugelassen und Dr.O*** den Kläger ein bis zwei Tage nach der Entlassung jedenfalls noch einmal "anschauen" hätte müssen, ohne jedoch darzulegen, ob das gegenteilige Verhalten des Dr.O*** bereits einen vorwerfbaren, weil eindeutigen Regelverstoß darstellt oder aber noch vertretbar ist. Klar und ausdrücklich als Kunstfehler bezeichnete der Sachverständige dagegen die Belassung des Dauerkatheters durch mehr als acht Tage trotz bestehender Schwellung des Gliedes des Klägers, ohne allerdings zu erklären, daß dieses Vorgehen entgegen der Behauptung des Beklagten Dr.O*** von der Schulmedizin allgemein abgelehnt werde.
Vor allem enthält das Sachverständigengutachten jedoch keine hinreichende Beantwortung der Frage, ob und welche der kritisierten Vorgangsweisen des Beklagten Dr.O*** die Ursache oder Mitursache für die beim Kläger nach der Operation aufgetretenen Komplikationen und Gesundheitsschäden bildeten. Der Sachverständige führte diesbezüglich lediglich am Ende der mündlichen Erörterung seines Gutachtens aus (ON 34 AS 149): "........ Zu diesem Zeitpunkt hätte kein Dauerkatheter angelegt werden dürfen, sondern eine suprapubische Harnableitung durchgeführt werden müssen, womit voraussichtlich alle späteren Komplikationen hätten vermieden werden können".
Wie bereits dargelegt ist der Nachweis der Kausalität eines festgestellten Fehlverhaltens des behandelnden Arztes dann erbracht, wenn überwiegende Gründe im Sinne einer hohen Wahrscheinlichkeit für diese Kausalität sprechen. Die vorstehende gutächtliche Ausführung, es hätten "voraussichtlich" alle späteren Komplikationen vermieden werden können, läßt jedoch nicht erkennen, welcher Grad der Wahrscheinlichkeit für die Kausalität des angeführten Fehlverhaltens gegeben ist. Die Frage, ob ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß einer oder mehrere dem Beklagten Dr.O*** zu unterstellende Kunstfehler ursächlich oder mitursächlich für die aufgetretenen Komplikationen und Gesundheitsschädigungen des Klägers waren, wurde somit vom Sachverständigen nicht beantwortet. Damit ist sein Gutachten aber im Sinne des § 362 Abs 2 ZPO ungenügend geblieben.
Nach der Rechtsprechung hat das Gericht grundsätzlich von Amts wegen dafür zu sorgen, daß ein beschlossenes Sachverständigengutachten vollständig abgegeben wird (RZ 1975/70; SZ 49/34). Im Berufungsverfahren wurde das ungenügende Sachverständigengutachten von den beklagten Parteien in der auf die beantragte, jedoch unterbliebene Ergänzung des Gutachtens bzw Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens gestützten Mängelrüge und im Rahmen ihrer Beweisrüge, inhaltlich jedoch auch hier im Sinne einer Mängelrüge, bekämpft. Das Berufungsgericht hat den solcherart gegebenen Verfahrensmangel aber nicht behoben und ist seinerseits dem die Bestimmung des § 362 Abs 2 ZPO verletzenden Sachverständigengutachten gefolgt. Demgemäß ist der von den Revisionswerbern geltend gemachte Anfechtungsgrund des § 503 Abs 1 Z 2 ZPO gegeben.
Der Revision war daher Folge zu geben und die Rechtssache nach Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile an das Erstgericht zur Ergänzung des Sachverständigengutachtens bzw zur Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens und zur neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gründet sich auf § 52 ZPO.
Anmerkung
E17396European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1989:0080OB00525.88.0316.000Dokumentnummer
JJT_19890316_OGH0002_0080OB00525_8800000_000