Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Samsegger als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schobel, Dr. Melber, Dr. Schlosser und Dr. Redl als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Christian S***, geboren am 10. Juli 1972, infolge Revisionsrekurses der ehelichen Mutter Helga S***, Hausfrau, Roseneckstraße 21, 9210 Pörtschach, vertreten durch Dr. Farhad Paya, Rechtsanwalt in Klagenfurt, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Klagenfurt als Rekursgericht vom 10. Februar 1989, GZ 1 R 61/89-37, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Klagenfurt vom 15. Dezember 1988, GZ 3 P 45/88-30, bestätigt und eine Rekursergänzung der Einschreiterin zurückgewiesen wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Der 16-jährige Christian S*** ist ein eheliches Kind der 39-jährigen Hausfrau (und Geschäftsführerin) Helga S*** und des 75-jährigen Pensionisten Wilhelm S***. Die Ehe ist aufrecht, ein Scheidungsverfahren nicht anhängig. Die Ehewohnung befand sich seit vielen Jahren im Hause Roseneckstraße Nr. 21 in Pörtschach (EZ 83 KG Sallach Grundbuch Klagenfurt), das aufgrund des Übergabsvertrages vom 20. Oktober 1983 im Alleineigentum des Minderjährigen steht. Beiden Eltern ist auf der Liegenschaft ein lebenslängliches und unentgeltliches Fruchtgenußrecht eingeräumt, dem Vater steht überdies bis 31. Dezember 1993 das Recht zu, von diesem Übergabsvertrag zurückzutreten. Während der Minderjährige und Helga S*** im Hause Roseneckstraße Nr. 21 wohnen, hält sich Wilhelm S*** tagsüber in seiner Wohnung im Hause Paradeisergasse Nr. 20 in Klagenfurt bei seiner Lebensgefährtin Melitta H*** auf; dort befindet sich auch ein Büroraum des Unternehmens des Vaters, der in Liquidation befindlichen S*** Gesellschaft mbH. Melitta H*** versorgt den Vater mit Mahlzeiten, reinigt seine Wäsche und verrichtet für ihn Büroarbeiten. Wilhelm S*** kommt täglich gegen 20 Uhr in die Ehewohnung nach Pörtschach, wo sich auch ein Großteil seiner Fahrnisse befindet. Nur wenn er geschäftlich verreist oder sich auf Urlaub befindet, übernachtet er nicht in Pörtschach. Helga S*** bereitet ihrem Ehemann weder Mahlzeiten - mit dem Abendessen versorgt sich Wilhelm S*** selbst - noch reinigt sie seine Wäsche. Seit rund zwei Jahren schlafen die beiden Ehegatten getrennt und unterhalten keine Geschlechtsgemeinschaft mehr. Die Abende verbringt der Vater mit Zeitung lesen und beim Fernsehen. Darüber hinaus unterhält er sich mit seinem Sohn über wirtschaftliche und politische Themen und erkundigt sich nach dessen schulischen Leistungen, insbesondere im Zusammenhang mit Schularbeiten. Er empfiehlt dem Minderjährigen, der derzeit die sechste Klasse des Gymnasiums wiederholt, sich in der Schule anzustrengen, legt aber hiebei keine besondere Strenge an den Tag. Gegen den Bescheid der Klassenkonferenz, nach welchem der Minderjährige in die nächste Schulklasse nicht aufsteigen durfte, ließ der Vater durch einen Rechtsanwalt Berufung einlegen, der allerdings nicht Folge gegeben wurde. Der Vater sprach auch beim Mathematiklehrer des Minderjährigen wegen dessen nicht bestandener Nachprüfung vor. Durch diese Vorgangsweise des Vaters erwuchsen seinem Sohn keine schulischen Nachteile. Während der Woche bringt Wilhelm S*** den Minderjährigen täglich am Morgen mit dem PKW zur Schule. An Sonntagen verläßt der Vater das Haus in Pörtschach im allgemeinen erst gegen 11 Uhr. Die gemeinsame Freizeitgestaltung zwischen Vater und Sohn beschränkte sich seit September 1988 darauf, daß Wilhelm S*** dreimal mit dem Minderjährigen auswärts essen ging und einen Tagesausflug nach Italien unternahm, wo er ihm eine Hose kaufte. Zu Schulbeginn kaufte der Vater seinem Sohn ferner ein Motorfahrrad und kleidete ihn Anfang November 1988 neu ein. Im Winter besuchen Vater und Sohn wöchentlich einmal gemeinsam ein Eishockeyspiel. Der Minderjährige wird im wesentlichen von seiner Mutter, die ihm die Mahlzeiten zubereitet und seine Wäsche versorgt, betreut. Seine Freizeit verbringt er zum Großteil im eigenen Freundeskreis. Mit der Mutter unternimmt er gelegentlich Wochenendausflüge zu Verwandten. In den letzten drei Jahren hat Christian S*** weder mit dem Vater noch mit der Mutter einen gemeinsamen Urlaub verbracht. Christian S*** unterhält zu beiden Elternteilen ein gutes Verhältnis und fühlt sich zu beiden gleich hingezogen. Er verfügt über einen ausgeprägten eigenen Willen und bildet sich eine eigene Meinung. Beide Eltern reden mit dem Sohn über ihre ehelichen Probleme. Dem Minderjährigen wäre es am liebsten, wenn sich die zwischen den Eltern bestehenden Spannungen wieder legen würden und er mit beiden Elternteilen ein normales Familienleben führen könnte. Wilhelm S*** erzählt seinem Sohn nichts näheres über seine Beziehungen zu Melitta H*** und beeinflußt den Minderjährigen auch nicht negativ gegen seine Ehefrau. Mit Beschluß des Landesgerichtes Klagenfurt als Rekursgericht vom 30. Mai 1988, 1 R 270/88, wurde Wilhelm S*** mit Wirkung ab 1. März 1988 zur Leistung eines monatlichen Unterhaltsbeitrages von S 2.000 für Christian S*** verpflichtet. Bislang ist der Vater dieser Unterhaltsverpflichtung nicht nachgekommen.
Mit Schriftsatz vom 5. Oktober 1988 beantragte die Mutter die Zuweisung der elterlichen Rechte und Pflichten gemäß § 144 ABGB hinsichtlich des Minderjährigen allein an sie. Sie führte im wesentlichen aus, die eheliche Gemeinschaft zwischen den Ehegatten sei aufgehoben, der Vater komme den ihm gegenüber dem Minderjährigen obliegenden Pflichten nicht nach. In einer am 14. November 1988 überreichten Ergänzung des Antrages vom 5. Oktober 1988 brachte sie noch vor, der Vater drohe mit der Ausübung des Widerrufsrechtes hinsichtlich der Liegenschaft. Trotz seines Alters und seiner Millionenverluste der letzten Jahre bahne er fragwürdige Geschäfte an. Sein Urteils- und Merkvermögen sei so stark herabgesetzt, daß er hinsichtlich "seiner chaotischen wirtschaftlichen prozessualen Lage" nicht mehr imstande sei, die Erledigungen ohne fremde Hilfe sachgerecht vorzunehmen.
Das Erstgericht wies - ausgehend von dem eingangs dieser Entscheidung wiedergegebenen Sachverhalt - den Antrag der Mutter ab. Es vertrat die Ansicht, die im § 177 Abs 1 ABGB für die Zuteilung der Elternrechte an einen Elternteil bei aufrechter Ehe geforderte nicht bloß vorübergehende Trennung der Eltern liege nicht vor. Gründe, die es rechtfertigen würden, dem Vater die elterlichen Rechte zu entziehen, lägen nicht vor.
Das Rekursgericht gab dem gegen den Beschluß des Erstgerichtes gerichteten Rekurs der Mutter nicht Folge und wies eine von dieser eingebrachte Ergänzung des Rekurses zurück. Die Zurückweisung der Rekursergänzung begründete das Gericht zweiter Instanz mit dem Grundsatz der Einmaligkeit des Rechtsmittels. Im übrigen führte es aus, zwischen den Eltern des Minderjährigen bestehe zwar kein gemeinsamer Haushalt mehr, § 177 ABGB setze jedoch eine vollständige Trennung der Lebensbereiche der Eltern voraus. Erforderlich sei daher auch eine vollständige Trennung in räumlicher Hinsicht, welche hier nicht gegeben sei, weil der Vater in der Lage sei, auf die Erziehung des Minderjährigen Einfluß zu nehmen und sich auch tatsächlich um die seinen Sohn betreffenden Angelegenheiten kümmere. Die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern rechtfertigten noch nicht die Zuteilung der Elternrechte an einen Elternteil allein. Die Behauptung, der Vater halte sich lediglich zur Übernachtung in der Ehewohnung auf, finde in den Feststellungen keine Deckung, da der Vater den Minderjährigen täglich zur Schule bringe, sich abends mit ihm unterhalte und sich über die schulischen Leistungen informiere. Daß der Vater seine Freizeit und seine Urlaube nicht mit der Familie verbringe und sich tagsüber nicht in der Ehewohnung aufhalte, vermöge daran nichts zu ändern. Sinn der Anordnung des § 177 Abs 1 letzter Fall ABGB, die während aufrechter Ehe eine Ausnahme darstelle, sei es, im Interesse der minderjährigen ehelichen Kinder Entscheidungen über ihre wesentlichen Angelegenheiten auch dann sicherzustellen, wenn durch die faktische Trennung der Eltern mit für die Kinder nachteiligen Verzögerungen gerechnet werden müßte. Selbst ein anhängiges Scheidungsverfahren (das hier noch gar nicht eingeleitet worden sei) lasse in der Regel keinen zwingenden Schluß auf die endgültige Entwicklung der Verhältnisse zwischen den in der Ehekrise lebenden Ehegatten zu. Aus dem derzeit ruhenden persönlichen Verkehr der Eheleute sei noch nicht abzuleiten, daß sie nicht in der Lage oder willens wären, die den Minderjährigen betreffenden notwendigen Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Bisher sei es jedenfalls in der Ausübung der elterlichen Rechte und Pflichten durch beide Ehegatten zu keinen nennenswerten aktenkundigen Schwierigkeiten gekommen, was sich auch der Aussage des Minderjährigen - der im Hinblick auf sein Alter von 16 Jahren erhebliches Gewicht zukomme - entnehjen lasse. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung der Ausnahmebestimmung des § 177 Abs 1 letzter Fall ABGB müsse demnach verneint werden. Aber auch die Voraussetzungen für eine Entziehung der Elternrechte, die als äußerste Notmaßnahme nur bei Gefährdung des Kindeswohles gerechtfertigt sei, lägen nicht vor. Um eine solche Gefährdung annehmen zu können, wäre ein Mißbrauch der elterlichen Befugnisse, jedenfalls aber eine gröbliche Vernachlässigung der elterlichen Pflichten seitens des Vaters oder aber seine Erziehungsuntauglichkeit erforderlich, wobei ein strenger Maßstab anzulegen und die Stellungnahme eines Kindes im Alter über 16 Jahren von entscheidender Bedeutung sei. Insbesondere komme es bei Eingriffen in die Elternrechte immer auf die Gesamtumstände des jeweiligen Einzelfalles an. Die Verletzung der Unterhaltspflicht rechtfertige hier noch nicht die Entziehung der elterlichen Rechte, weil der Vater immerhin die Wohn- und Bekleidung kosten trage, die Freizeitgestaltung des Minderjährigen finanziere, diesem ein Taschengeld gebe und ihn zum Essen ausführe. Von einer dem Minderjährigen drohenden konkreten ernstlichen Gefahr könne daher nicht gesprochen werden. Das gelte auch für das mögliche Rücktrittsrecht vom Übergabsvertrag. Abgesehen davon, daß diese Vereinbarung pflegschaftsbehördlich genehmigt worden sei, habe der Vater dem Minderjährigen versichert, vom Widerrufsrecht keinen Gebrauch machen zu wollen. Inwieweit die wirtschaftlichen Verhältnisse des Vaters bei Entziehung der elterlichen Rechte eine Rolle spielen sollten, sei nicht recht verständlich, weil es sich nicht um eine Frage der Verwaltung des Vermögens des Minderjährigen handle und nicht erkennbar sei, in welcher Weise die wirtschaftliche Lage des Vaters im Falle des Entzuges der Elternrechte eine Änderung erfahren könnte.
Die Mutter bekämpft den Beschluß des Rekursgerichtes mit Revisionsrekurs. Sie beantragt, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß die elterlichen Rechte hinsichtlich des Minderjährigen dem Vater entzogen und der Mutter allein zugewiesen werden.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist nicht zulässig.
Da das Rekursgericht die Entscheidung des Erstgerichtes bestätigte, wäre gemäß § 16 Abs 1 AußStrG eine Anfechtung nur im Falle einer offenbaren Gesetz- oder Aktenwidrigkeit der Entscheidung oder einer begangenen Nullität möglich. Derartige Gründe liegen jedoch nicht vor.
Mit ihren Ausführungen, der Tatbestand der nicht bloß vorübergehenden Trennung der Eltern im Sinne des § 177 Abs 1 ABGB sei erfüllt, will die Mutter offensichtlich eine offenbare Gesetzwidrigkeit der angefochtenen Entscheidung aufzeigen. Eine offenbare Gesetzwidrigkeit im Sinne des § 16 Abs 1 AußStrG liegt jedoch nach einhelliger Rechtsprechung nur vor, wenn ein Fall im Gesetz selbst ausdrücklich und so klar geregelt ist, daß kein Zweifel über die Absicht des Gesetzgebe"d aufkommen kann und trotzdem eine damit im Widerspruch stehende Entscheidung gefällt wurde (EFSlg 44.642, 55.638 uva.). Eine Zuteilung der elterlichen Rechte und Pflichten an einen Elternteil allein setzt bei aufrechter Ehe gemäß § 177 Abs 1 ABGB voraus, daß die Eltern nicht bloß vorübergehend getrennt leben. Was unter "getrennt leben" zu verstehen ist, erläutert das Gesetz nicht näher. Die Ansicht der Vorinstanzen, im vorliegenden Fall könne von einem getrennten Leben nicet gesprochen werden, weil der Vater täglich um etwa 8 Uhr abends in die Ehewohnung komme, dort Zeitung lese oder fernsehe, aber sich auch mit dem Minderjährigen unterhalte und sich über schulische Belange informiere, täglich in der Ehewohnung übernachte und den Minderjährigen mit dem PKW zur Schule führe, ist daher keinesfalls offenbar gesetzwidrig. Es sei darauf hingewiesen, daß der Oberste Gerichtshof zu 7 Ob 624/81 ausgesprochen hat, es möge ein getrenntes Leben im Sinne des § 177 Abs 1 ABGB zwar bei einer Benützung derselben Wohnung denkbar sein, doch sei dabei besondere Vorsicht geboten. In der Entscheidung EFSlg 54.062 wurde ausgeführt, die Zuteilung der Elternrechte bei aufrechter Ehe habe eine vollständige Trennung der Lebensgemeinschaft zur Voraussetzung. Mit diesen Entscheidungen steht der angefochtene Beschluß durchaus in Einklang. Nach ständiger Rechtsprechung liegt eine offenbare Gesetzwidrigkeit zwar auch vor, wenn das Kindeswohl gänzlich außer Acht gelassen wurde (EFSlg 52.759 uva.), doch ist dies hier nicht der Fall. Da der Vater täglich in die Ehewohnung kommt, ist nicht einzusehen, weshalb er keine Möglichkeit haben sollte, auf die Erziehung des Minderjährigen Einfluß zu nehmen, und warum ein einvernehmliches Vorgehen bei Ausübung der elterlichen Rechte und Pflichten nicht möglich sein sollte. Eine mangelnde Eignung des Vaters zur Erziehung kann aufgrund des festgestellten Sachverhaltes nicht angenommen werden. Eine solche ergibt sich entgegen den Ausführungen im Revisionsrekurs weder daraus, daß der Vater dem Minderjährigen zwar empfiehlt, sich in der Schule anzustrengen, er dabei aber keine besondere Strenge an den Tag legt, noch aus dem Einlegen einer Berufung gegen einen Bescheid der Klassenkonferenz, noch daraus, daß der Vater dem Minderjährigen Luxusgüter schenkt, den ihm auferlegten Unterhalt aber nicht leistet. Der Hinweis auf wirtschaftliche Dispositionen des Vaters ist ebenfalls nicht zielführend, zumal auch im Revisionsrekurs nicht dargetan wird, welchen Einfluß eine Zuteilung der Elternrechte an die Mutter auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Vaters haben sollte. Die Ansicht der Vorinstanzen, die Voraussetzungen für eine Entziehung der elterlichen Rechte gemäß § 176 ABGB seien im vorliegenden Fall nicht gegeben, ist daher nicht offenbar gesetzwidrig. Als Nullität macht die Mutter geltend, daß das Rekursgericht "unabhängig vom Grundsatz der Einmaligkeit des Rechtsmittels" die in der Rekursergänzung angeführten Umstände nicht berücksichtigt habe. Der Hinweis auf den, der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes entsprechenden Grundsatz der Einmaligkeit des Rechtsmittels (EvBl 1959/123; EvBl 1972/250, EFSlg 39.587 uva.) zeigt, daß die Mutter die Zurückweisung der Rechtsmittelergänzung nicht bekämpft. Auf ein in einem zurückgewiesenen Rechtsmittelschriftsatz enthaltenes Vorbringen kann in der Rechtsmittelentscheidung aber nicht Bedacht genommen werden. Der Hinweis auf die Zulässigkeit von Neuerungen ist daher schon deshalb verfehlt.
Mangels Vorliegens eines im § 16 Abs 1 AußStrG angeführten Grundes mußte der Revisionsrekurs daher zurückgewiesen werden.
Anmerkung
E17051European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1989:0060OB00557.89.0330.000Dokumentnummer
JJT_19890330_OGH0002_0060OB00557_8900000_000