TE OGH 1989/4/18 10ObS101/89

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Veröffentlicht am 18.04.1989
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Manfred Dafert (AG) und Alfred Klair (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Josef L***, ohne Beschäftigung, 8311 Mitterfladnitz 32, vertreten durch Dr. Reinhard Tögl, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei P*** DER A*** (Landesstelle Graz),

1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 7.Dezember 1988, GZ 7 Rs 205/88-25, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 17.Juni 1988, GZ 30 Cgs 1220/87-20, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 28.April 1987 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 4.September 1986 auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.

Die rechtzeitige Klage richtet sich auf die abgelehnte Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab 1.Oktober 1986 und stützt sich im wesentlichen darauf, daß der Kläger wegen seines näher beschriebenen Gesundheitszustandes keiner Erwerbstätigkeit nachgehen könne. Die beklagte Partei wendete ein, daß der Kläger alle leichten und mittelschweren Arbeiten zu ebener Erde verrichten könne und beantragte deshalb die Abweisung der Klage.

Das Erstgericht erkannte das Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend und trug der beklagten Partei eine vorläufige Zahlung von 3.000 S monatlich auf.

Es traf folgende wesentlichen Feststellungen:

Der am 21.Februar 1945 geborene Kläger leidet neurologisch-psychiatrisch an einer lumbalen Neuralgie ohne Zeichen einer Wurzelkompression, an funktionell bedeutungslosen Sensibilitätsstörungen im Narbenbereich des linken Knies und einem reaktiven Verstimmungszustand ohne Krankheits- oder Psychosewert. Eine allfällige frühere Medikamentensucht ist überwunden. Orthopädisch besteht eine Versteifung des linken Kniegelenkes in Beugestellung von 10o, die zu einem Beckenschiefstand links, einer Gangbehinderung und einem Verkürzungshinken geführt hat. Der Zehenballengang, der Fersengang, der Einbeinstand links und die tiefe Kniebeuge links sind nicht möglich. Eine Wirbelsäulenkrümmung kann durch Hochstellen des linken Beines ausgeglichen werden, das um 4 cm verkürzt ist. Es besteht eine Knickfußbildung des linken unteren Sprunggelenkes mit einer Bewegungseinschränkung des oberen und unteren Sprunggelenkes. Frische, floride osteomyelitische Krankheitsherde bestehen derzeit - diese Feststellung bezieht sich auf die Untersuchung durch den SV für Orthopädie und Unfallchirurgie am 27.Oktober 1987 (ON 15, AS 81) - nicht, doch handelt es sich bei der Osteomyelitis um eine rezidivierende Erkrankung, so daß das Wiederaufflammen der Knocheneiterung nicht auszuschließen ist. Der interne Befund ist für das Leistungskalkül ohne Bedeutung.

Vor allem wegen der orthopädischen Leiden kann der Kläger nur

mehr leichte Arbeiten im Freien und in geschlossenen Räumen

verrichten. Diese Arbeiten sollten überwiegend im Sitzen vor sich

gehen. Arbeiten im Stehen und Gehen sind nur während eines Drittels

des Arbeitstages möglich. "Sofern eine ... Beschäftigung vorwiegend

im Sitzen ausgeübt werden sollte, müßte dem Kläger Gelegenheit

gegeben werden, nach etwa zwei Stunden ... eine Viertel- bis halbe

Stunde zu stehen oder zu gehen". Ausgeschlossen sind das Heben und Tragen von Lasten über 10 kg, Arbeiten in gebückter Haltung und an exponierten Lagen, wie auf Leitern und Gerüsten, und Arbeiten, "die in rascher zeitlicher Abfolge verrichtet werden müssen". Arbeiten an Maschinen und Geräten sind jedoch möglich. Die Fingerfertigkeit ist nicht eingeschränkt. "Auf Witterungseinflüsse ist kein Bedacht zu nehmen". Die normalen Arbeitspausen reichen aus. Der Anmarschweg soll 3 km nicht überschreiten. Wegen der verschiedenen Leiden ist zwei- bis dreimal jährlich mit zwei bis drei Wochen dauernden Krankenständen zu rechnen. Es ist auch anzunehmen, daß dem Kläger eine Kur bewilligt wird, die üblicherweise 23 Tage dauert. Im Anschluß daran kommt es wegen der Kurreaktion üblicherweise zu einem weiteren Krankenstand von ein bis zwei Wochen. Der Kläger kann auf Grund seiner intellektuellen Situation auch auf bisher nicht ausgeübte Tätigkeiten, auch in völlig neuen Bereichen verwiesen werden.

Nach dem Besuch der Volksschule, wo er zwei Klassen wiederholen mußte, erlernte der Kläger keinen Beruf, sondern war von 1963 bis 1966 als Hilfsarbeiter, von 1966 bis 1969 als Oberbauarbeiter, von 1969 bis 1974 als Wachorgan, von 1974 bis 1977 als Magazineur, 1977 bis 1978 als Hilfsmaurer und 1978 bis 1983 wieder als Wachorgan beschäftigt.

Weil Wachorgane mehr als ein Drittel der Arbeitszeit im Gehen und Stehen arbeiten müssen, kann der Kläger diese in den letzten 15 Jahren (vor dem Stichtag) überwiegend ausgeübte Tätigkeit nicht mehr verrichten. Verweisungstätigkeiten können aus berufskundlicher Sicht nicht genannt werden, weil Arbeiten im Produktionsbereich, die im Sitzen oder Stehen verrichtet werden, ebenso gänzlich ausfallen wie Tätigkeiten im Handel, im Bau- und Baunebengewerbe und in der Gastronomie. Für Sitzkassiere in Selbstbedienungstankstellen gibt es keine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen. Ein Tankwart an solchen Tankstellen muß mehr als ein Drittel seiner Arbeitszeit im Stehen und Gehen verbringen. Portiersposten werden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt grundsätzlich nicht angeboten, weil sie praktisch ausschließlich mit Invaliden aus dem eigenen Betrieb besetzt werden. Platzmeister und Billeteure müssen mehr als ein Drittel ihrer Arbeitszeit im Gehen und Stehen arbeiten. Mangels vorhandener Verweisungsmöglichkeiten und weil der Kläger wegen der jährlichen Krankenstände und des allfälligen Kuraufenthaltes, worauf er einen interessierten Dienstgeber aufmerksam machen müßte, nur durch dessen besonderes Entgegenkommen einen Arbeitsplatz erhalten könnte, erachtete das Erstgericht den Kläger als invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der wegen "unrichtiger rechtlicher Beurteilung" erhobenen Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil im klageabweisenden Sinn ab. Es nahm als gerichtsbekannt an, daß der Arbeitsplatz eines Portiers in der österreichischen Arbeitswelt noch so häufig (mindestens 100 Arbeitsplätze) vorkommt, daß von einer abgekommenen Tätigkeit nicht gesprochen werden kann, daß auch diese Arbeitsplätze einem ständigen Besetzungswechsel unterliegen und zumindest nach den Kollektivverträgen entlohnt werden und daß Männer bei der Besetzung von Portierstellen nicht ausgeschlossen sind. Der Kläger könne daher auf die (seiner Arbeitsfähigkeit entsprechende) Tätigkeit eines Portiers verwiesen werden.

Häufig und/oder langdauernde Krankenstände könnten bewirken, daß der dem Versicherten verbliebene Rest an Arbeitsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt unverwertbar werde. Dabei handle es sich um die sozialversicherungsrechtlich allein bedeutsame Eigenschaft des krankheitsbedingten Absinkens der Arbeitsfähigkeit unter eine bestimmte Mindestgrenze. Wann diese bei zu erwartenden Krankenständen erreicht sei, hänge von deren Dauer und Häufung ab. Sowohl kurze, aber häufige wie auch wenige, aber lange Krankenstände könnten vom Arbeitsmarkt ausschließen. Vier drei Wochen dauernde Krankenstände pro Jahr seien als Ausschluß angesehen worden, zwei drei bis vier Wochen, zwei je einen Monat oder zwei etwa zehn Tage und zusätzlich noch eine Woche dauernde Krankenstände pro Jahr jedoch noch nicht. Hingegen seien Krankenstände von 33 bis 44 Tagen wegen ihrer Verteilung auf jeweils ein bis zwei Tage pro Woche wieder als ausschlußbegründend beurteilt worden. Im vorliegenden Fall sei davon auszugehen, daß der Kläger voraussichtlich zweimal jährlich durchgehend drei Wochen oder dreimal zwei Wochen fehlen werde. Die Obergrenze von dreimal drei Wochen könne nicht als Grundlage der Beurteilung herangezogen werden, weil ein Rahmenzeitraum festgestellt worden sei und der Kläger das voraussichtliche Zutreffen der Obergrenze nicht bewiesen habe. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, daß jeder Arbeitgeber auch bei Besetzung einer Portierstelle mit erwerbsfähigkeitsgeminderten Betriebsangehörigen oder begünstigten Invaliden mit gegenüber ganz gesunden Menschen gehäuften Krankenständen rechnen müßte, so daß die vom Erstgericht berücksichtigte Auskunftspflicht des Klägers über seinen Gesundheitszustand nicht von der angenommenen abschreckenden Wirkung sein könne. Ein voraussichtlicher Kuraufenthalt sei überhaupt nicht in Rechnung zu stellen, weil heute die Mehrzahl der Arbeitnehmer zumindest einmal im Verlauf ihres Arbeitslebens einen Kuraufenthalt absolviere, der sich, wenn überhaupt, nur in mehrjährigen Abständen wiederhole und im besonderen beim Kläger nur für möglich, jedenfalls aber nicht für mehrmals notwendig erachtet worden sei. Es verblieben daher voraussichtlich 30 bis 36 Arbeitstage (je nach Fünf- oder Sechstagewoche), die der Kläger pro Jahr, aufgeteilt auf zweimal 16 (18) oder dreimal 10 (12) Arbeitstage, krankheitsbedingt fehlen werde. Dies schließe ihn auf dem Arbeitsmarkt gegenüber anderen Bewerbern um einen Portiersposten noch nicht aus. Deshalb sei er nicht invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.

Dagegen richtet sich die von der beklagten Partei nicht beantwortete Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, das Berufungsgericht durch Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern oder es aufzuheben.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs 2 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist nicht berechtigt. Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit und Aktenwidrigkeit (§ 503 Abs 1 Z 2 und 3 ZPO) liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 leg cit; vgl auch SSV-NF 2/59).

Nach den wiedergegebenen, rechtlich zu beurteilenden Feststellungen ist zwei- bis dreimal jährlich mit zwei bis drei Wochen dauernden Krankenständen zu rechnen. Daraus ergibt sich, daß beim Kläger jährlich durchschnittlich kaum mehr als sechs Krankenstandswochen zu erwarten sind, die sich auf zwei bis drei Krankenstände aufteilen werden.

Berücksichtigt man, daß im Jahre 1986 in Österreich auf 1.000 Beschäftigte insgesamt 1.056 Krankenstandstage kamen (vgl Österreichisches Statistisches Zentralamt, Statistisches Handbuch für die Republik Österreich XXXIX. Jg NF 1988, 85; BMAS, Bericht über die soziale Lage 1987, 346), dann zeigt sich, daß beim Kläger jährlich nur etwa die dreifache Zahl von Krankenstandstagen zu erwarten ist wie durchschnittlich bei allen österreichischen Beschäftigten. Da es sich dabei um einen Durchschnittswert der Beschäftigten aller Altersgruppen handelt, wird deutlich, daß die beim Kläger zu erwartende jährliche Anzahl und Dauer von Krankenständen nicht so ungewöhnlich hoch ist, daß seine Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr bewertet würde und er daher von diesem ausgeschlossen wäre. Ein möglicher Kuraufenthalt ist in diesem Zusammenhang aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen, aber auch deshalb nicht besonders zu berücksichtigen, weil sich eine Kur auf die Zahl und Dauer der Krankenstände vermutlich günstig auswirken wird. Die unter Zugrundelegung offenkundiger Tatsachen (vgl SSV-NF 2/59) vorgenommene rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes, daß der Kläger infolge seines körperlichen und geistigen Zustandes noch imstande ist, durch die auf dem (gesamtösterreichischen) Arbeitsmarkt noch bewertete und ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zumutbare Tätigkeit eines Portiers (bei Behörden, Ämtern, Versicherungsgesellschaften etc) wenigstens die Hälfte des regelmäßigen Entgeltes eines gesunden Portiers zu erwerben, ist richtig (vgl auch SSV-NF 1/22).

Der Revision war daher nicht Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

Anmerkung

E17482

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1989:010OBS00101.89.0418.000

Dokumentnummer

JJT_19890418_OGH0002_010OBS00101_8900000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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