Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 8.August 1989 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Piska als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kießwetter, Dr. Walenta, Dr. Felzmann und Dr. Rzeszut als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Vrabl-Sanda als Schriftführerin in der Entlassungssache des Hans Peter S*** (§ 46 Abs. 1 StG) über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Beschluß des Landesgerichtes Innsbruck vom 22. Mai 1989, GZ 20 BE 300/89-6, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Jerabek, zu Recht erkannt:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.
Text
Gründe:
Der am 18.Februar 1965 geborene Hans Peter S*** wurde mit dem (im zweiten Rechtsgang erflossenen) Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 17.November 1988, GZ 28 Vr 622/88-30, (wegen des Verbrechens nach den §§ 142 Abs. 1, 15 StGB und anderer Delikte) zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Dieses Urteil wurde mit Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 11.April 1989, AZ 11 Os 22/89, bestätigt (ON 37 des Vr-Aktes). Die Freiheitsstrafe wurde sogleich nach Urteilsrechtskraft in Vollzug gesetzt, und zwar nach Anrechnung der Vorhaft vom 19.Februar bis 13.Oktober 1988 und einer sogenannten Zwischenhaft vom 13.Jänner bis 11.April 1989. In der Zeit vom 13.Oktober 1988 bis 13.Jänner 1989 befand sich Hans Peter S*** in Strafhaft. Mit Beschluß vom 13.Oktober 1988 war nämlich die Untersuchungshaft im Verfahren AZ 28 Vr 622/88 des Landesgerichtes Innsbruck infolge des Zwischenvollzuges der vom Landesgericht Innsbruck mit Urteil vom 30.April 1987, GZ 39 Vr 949/87-9, wegen des Vergehens nach dem § 125 StGB verhängten Ersatzfreiheitsstrafe von 125 Tagen aufgehoben worden (ON 25 des Vr-Aktes). Mit Beschluß vom 10.Jänner 1989, GZ 20 BE 902/88-6, ordnete das Landesgericht Innsbruck als Vollzugsgericht entgegen der Äußerung der Staatsanwaltschaft die bedingte Entlassung des Hans Peter S*** gemäß dem § 46 Abs. 2 StGB nach Verbüßung der Mindeststrafdauer von drei Monaten (Strafrest 33 Tage) zum 13.Jänner 1989 an, worauf der Strafhaftentlassene im Verfahren AZ 28 Vr 622/88 des Landesgerichtes Innsbruck wieder in Untersuchungshaft genommen wurde (ON 32). Mit Beschluß vom 22.Mai 1989, GZ 20 BE 300/89-6, bewilligte das Landesgericht Innsbruck als Vollzugsgericht - neuerlich abweichend von der Äußerung der Staatsanwaltschaft die bedingte Entlassung des Hans Peter S*** gemäß dem § 46 Abs. 1 StGB nach Verbüßung der Hälfte der in Rede stehenden zweijährigen Freiheitsstrafe zum 20. Mai 1989. Dabei wurde der Berechnung des Entlassungsstichtages allein die in dieser Strafsache zugebrachte Haftzeit zugrundegelegt. Das Oberlandesgericht Innsbruck gab der gegen diesen Beschluß eingebrachten Beschwerde der Staatsanwaltschaft Innsbruck mit Beschluß vom 31.Mai 1989, AZ 7 Bs 218/89, nicht Folge. Nach Mitteilung der Oberstaatsanwaltschaft Innsbruck wurde Hans Peter S*** hierauf noch am 31.Mai 1989 aus der Strafhaft entlassen. Die Generalprokuratur erblickt in der Beschlußfassung über die bedingte Entlassung des Hans Peter S*** zum AZ 20 BE 300/89 des Landesgerichtes Innsbruck eine Verletzung des Gesetzes in den Bestimmungen der §§ 46 Abs. 4 StGB, 152 a Abs. 1 StVG iVm § 3 StPO und führt hiezu wörtlich aus:
"Hans Peter S*** hat, da die Vorschriften über die bedingte Entlassung nicht nur auf die im Strafvollzug im engeren Sinn zugebrachten Zeiten abstellen (Foregger-Serini, StGB4, Erl II, Kunst in WK Rz 14, jeweils zu § 46) die in Rede stehenden Freiheitsstrafen von 2 Jahren und 125 Tagen unmittelbar nacheinander verbüßt (aM anscheinend Mayerhofer-Rieder, StGB3, Anm 6 zu § 46); bei Zusammenrechnung dieser Strafen gemäß § 46 Abs. 4 StGB wären die zeitlichen Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung nach § 46 Abs. 1 StGB zu einem für den Betroffenen - im Vergleich zum tatsächlich ins Auge gefaßten - günstigeren Stichtag, nämlich nach Verbüßung von 1 Jahr, 2 Monaten und 2 Tagen am 21.April 1989 erfüllt gewesen. Der dieser Zusammenrechnung gemäß § 46 Abs. 4 StGB entgegenstehende rechtskräftige Vorbeschluß des Landesgerichtes Innsbruck vom 10.Jänner 1989, GZ 20 BE 902/88-6, hätte in analoger Anwendung des XX. Hauptstückes der StPO aufgehoben werden können:
Zugunsten eines Angeklagten (bzw Verurteilten) ist nämlich die Wiederaufnahme auch gegen Beschlüsse eines Strafgerichtes möglich (vgl Foregger-Serini, StPO4, Erl II und VII zu § 352; Mayerhofer-Rieder, StPO2, ENr 6 zu § 352 Vorbem., Bertel, Grundriß des österreichischen Strafprozeßrechtes2, Rz 951). Zur Wahrung der Interessen des Strafgefangenen wäre das Landesgericht Innsbruck, da eine diesbezügliche Antragstellung der Staatsanwaltschft nach Lage des Falles auszuschließen war, verpflichtet gewesen, vor der Beschlußfassung über die bedingte Entlassung im Verfahren 20 BE 300/89 den Strafgefangenen gemäß § 152 a Abs. 1 StVG anzuhören und ihn aus diesem Anlaß in Wahrnehmung der im § 3 StPO normierten Belehrungspflicht zu einer sachdienlichen Antragstellung anzuleiten (vgl Mayerhofer-Rieder, StGB3, ENr 19 a zu § 46 erg. OLG Innsbruck)."
Der Oberste Gerichtshof vermag sich diesen Ausführungen der Generalprokuratur aus nachfolgenden Erwägungen nicht anzuschließen:
Die Zusammenrechnungsvorschrift, die auf die Gesamtdauer mehrerer Strafvollzüge abstellt, ist nach dem klaren Wortlaut des § 46 Abs. 4 StGB nur anwendbar, wenn ein Strafgefangener "unmittelbar nacheinander" mehrere Freiheitsstrafen verbüßt. Wird ein Gefangener sofort nach einem Strafvollzug in Untersuchungshaft genommen und diese Untersuchungshaft dann auf eine später ausgesprochene Freiheitsstrafe angerechnet, liegt eine nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut geforderte nahtlose zeitliche Aufeinanderfolge zweier oder mehrerer Strafvollzüge (arg. "unmittelbar") nicht vor, wenngleich tatsächlich zwischen den Strafvollzügen keine Zäsur (durch Leben in Freiheit) entstand. Mangels eines solchen Zusammenhanges zwischen dem Vollzug einer (erst später ausgesprochenen) Freiheitsstrafe mit einem bereits monatelang vorher (vorläufig) beendeten Strafvollzug kann bei der Berechnung der zeitlichen Voraussetzungen für die bedingte Entlassung nach dem § 46 Abs. 1 und 2 StGB die Vorschrift des Abs. 4 dieser Gesetzesstelle nicht zur Anwendung gelangen: Davon geht wohl auch die Generalprokuratur aus, wenn sie meint, der einer Zusammenrechnung entgegenstehende Beschluß über die bedingte Entlassung aus der Ersatzfreiheitsstrafe müsse im Weg einer Wiederaufnahme des Verfahrens beseitigt werden.
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof ist der Ansicht, daß ein der formellen und materiellen Rechtskraft zugänglicher Beschluß über die bedingte Entlassung (EvBl 1963/20, gestützt auf RZ 1960 S 154, SSt IV/37), der im Zeitpunkt seiner Fassung der Sach- und Rechtslage entsprach, im Zug einer Wiederaufnahme des Verfahrens nicht deshalb aufgehoben werden kann, weil ein im Entscheidungszeitpunkt unbeachtlicher (aber bekannter) Umstand, nämlich die Anhängigkeit eines weiteren Strafverfahrens, später durch den rechtskräftigen Ausspruch einer unbedingten Freiheitsstrafe insofern Bedeutung erlangte, als die Untersuchungshaft nahtlos in den Strafvollzug mündete. Die Grundsätze der Wiederaufnahme des Verfahrens im Sinn der §§ 352 ff StPO finden nach der - von der Generalprokuratur teilweise zitierten - Judikatur des Obersten Gerichtshofes nur Anwendung, wenn durch Hervorkommen neuer Tatsachen und Beweismittel die im Zeitpunkt der Beschlußfassung bekannte Tatsachengrundlage entscheidend erschüttert wurde, nicht aber dann, wenn sich durch eine spätere Entscheidung in einer anderen Sache eine rechtliche Konstellation ergibt, die - hätte sie schon früher bestanden - für die Berechnung der Gesamtstrafzeit im Sinn des § 46 Abs. 4 StGB bedeutsam gewesen wäre. Anders die Rechtslage, wenn - aus welchem Grund immer - eine bedingte Entlassung aus der in Unterbrechung der Untersuchungshaft vollzogenen Strafhaft nicht stattfand und über die bedingte Entlassung aus mehreren Strafhaften zu einem Zeitpunkt entschieden wird, in dem diese Strafvollzüge durch nachträgliche Anrechnung der Untersuchungshaft in einen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang gelangten.
Es bestand daher - entgegen den Ausführungen der Generalprokuratur - für das Vollzugsgericht keine Veranlassung, den Strafgefangenen im Weg der Anhörung nach dem § 152 a Abs. 1 StVG zur Stellung eines Wiederaufnahmeantrages anzuleiten. Eine Anhörung hätte jedenfalls unterbleiben können, weil die bedingte Entlassung ohnehin umgehend bewilligt wurde: Der in der Beschwerde genannte, bei Zusammenrechnung der beiden Strafvollzüge maßgebende frühestmögliche Zeitpunkt für eine bedingte Entlassung nach dem § 46 Abs. 1 StGB (21.April 1989) hätte in dieser Entlassungssache nicht zum Tragen kommen können, weil das Gefangenenhaus, dem die Berechnung der Strafzeiten grundsätzlich obliegt (SSt 43/29, 53/70, 55/2), das Merkblatt über die bedingte Entlassung (StPO-Form BedEnt 29) dem Vollzugsgericht erst am 16.Mai 1989 vorgelegt hatte. Für dieses Gericht bestand daher auch aus dem Gesichtswinkel des § 3 StPO kein Grund, den Strafgefangenen zu der von der Generalprokuratur geforderten Antragstellung anzuleiten, wäre dadurch doch die bedingte Entlassung, die zufolge des Beschwerdeverfahrens mit 20.Mai 1989 nicht durchgeführt werden konnte, noch weiter verzögert worden.
Der von der Generalprokuratur erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gemäß dem § 33 Abs. 2 StPO war daher der Erfolg zu versagen.
Anmerkung
E18210European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1989:0110OS00080.89.0808.000Dokumentnummer
JJT_19890808_OGH0002_0110OS00080_8900000_000