Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 30.August 1989 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kral als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof. Dr. Steininger, Dr. Lachner, Dr. Massauer und Dr. Markel als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Vondrak als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Hermann M*** wegen des Verbrechens des versuchten Mordes nach §§ 15, 75 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen des Angeklagten sowie der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Geschwornengerichtes beim Kreisgericht Leoben vom 11.April 1989, GZ 12 Vr 37/89-33, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Raunig, und des Verteidigers Dr. Reif jedoch in Abwesenheit des Angeklagten zu Recht erkannt:
Spruch
Der Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil sowie der ihm zugrunde liegende Wahrspruch der Geschwornen gemäß § 349 Abs. 1 StPO aufgehoben und die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Geschwornengericht beim Kreisgericht Leoben verwiesen. Auf diese Entscheidung wird der Angeklagte mit seiner Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung sowie die Staatsanwaltschaft mit ihrer Berufung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem auf dem Wahrspruch der Geschwornen beruhenden angefochtenen Urteil wurde der am 15.Dezember 1964 geborene Maschinist Hermann M*** des Verbrechens des versuchten Totschlags nach §§ 15, 76 StGB schuldig erkannt.
Darnach hat er am 8.Jänner 1989 in Fohnsdorf in einer allgemein begreiflichen heftigen Gemütsbewegung, nämlich aus Verzweiflung, weil seine frühere Lebensgefährtin Beatrix S*** ihn verlassen hatte und nicht mehr zu ihm zurückkehren wollte, dadurch, daß er während der Fahrt in dem von Rudolf F*** gelenkten PKW mit dem polizeilichen Kennzeichen St 917.716, in welchem auf dem Beifahrersitz Beatrix S*** mitfuhr, bei einer Fahrgeschwindigkeit von ca. 120 km/h im Bereich des Straßenkilometers 33.400 plötzlich das Lenkrad ergriff und den PKW nach links lenkte, wodurch dieser gegen die Mittelleitschiene prallte, anschließend nach rechts schleuderte und über die rechte Straßenböschung stürzte, versucht, Rudolf F*** und Beatrix S*** zu töten.
Die Laienrichter hatten die anklagekonforme Hauptfrage nach versuchtem Mord (§§ 15, 75 StGB) verneint und die auf versuchten Totschlag lautende Eventualfrage I stimmeneinhellig bejaht. Die auf das Verbrechen der versuchten schweren Körperverletzung nach §§ 15, 83 (Abs. 1), 84 Abs. 2 Z 1 StGB und auf fahrlässige Körperverletzung unter besonders gefährlichen Verhältnissen gerichteten Eventualfragen (II und III) blieben demzufolge unbeantwortet. Gegen dieses Urteil haben sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Nichtigkeitsbeschwerde erhoben, die von ersterem auf die Gründe nach Z 5, 6, 8, 9 und 10 a des § 345 Abs. 1 StPO, von der Anklagebehörde hingegen auf jene der Z 5 und 6 (sachlich nur Z 6) der zitierten Verfahrensbestimmung gestützt wird. Die Staatsanwaltschaft wendet unter Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes nach § 345 Abs. 1 Z 6 StPO ein, die eingangs bezeichnete Eventualfrage I (nach versuchtem Totschlag) hätte mangels einer allgemein begreiflichen heftigen Gemütsbewegung des Angeklagten im Tatzeitpunkt ihrer Ansicht nach nicht gestellt werden dürfen. Der Antrag des Staatsanwaltes auf Ausschaltung dieser Eventualfrage aus dem Fragenschema wurde vom Schwurgerichtshof abgewiesen. Der öffentliche Ankläger hat sich deshalb sofort die Nichtigkeitsbeschwerde vorbehalten (S 275); ihr kommt Berechtigung zu.
Rechtliche Beurteilung
Bei der Beurteilung, ob entsprechende Schuldfragen (Eventualfragen) an die Geschwornen zu stellen sind, hat der Schwurgerichtshof zu prüfen, ob eine für die Unterstellung der Tat unter ein weniger strenges Strafgesetz - hier §§ 15, 76 StGB - unmittelbar maßgebende Tatsache im Sinne des § 314 Abs. 1 StPO "vorgebracht", also in der Hauptverhandlung geradezu (konkret) behauptet wird oder aber sich doch aus den darin vorgeführten Beweismitteln jedenfalls mittelbar ergibt (ÖJZ-LSK 1978/138; EvBl. 1980/222).
Der gegenüber Mord (§ 75 StGB) vom Gesetz mit geringerer Strafe bedrohte (privilegierte) Totschlag (§ 76 StGB) ist dadurch charakterisiert, daß sich der Täter zur vorsätzlichen Tötung eines anderen in einer allgemein begreiflichen heftigen Gemütsbewegung hinreißen läßt. Um - als objektives Kriterium für
Totschlag - "allgemein begreiflich" zu sein, muß demnach der für das spontane Fassen des Tatentschlusses kausale und im Tatzeitpunkt noch nicht abgeklungene Affekt des Täters zum einen tiefgreifend und zum andern derart entstanden sein, daß sich auch ein (rechtsgetreuer) Durchschnittsmensch vorstellen könnte, in dessen Situation (unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles) gleichfalls in eine solche Gemütsverfassung zu geraten; nicht die Tat (als Ausfluß dieses Ausnahmezustandes), sondern die konkrete Gemütsbewegung des Täters in ihrer gesamten, zum Zurückdrängen verstandesmäßiger Erwägungen und zur Überwindung starker sittlicher Hemmungen geeigneten Dimension, also einschließlich ihrer tatkausalen Heftigkeit, in Relation zu dem sie herbeiführenden Anlaß unterliegt rechtsethischer Bewertung und muß (auch) sittlich verständlich sein. Eine (wenn auch heftige) Gemütsbewegung kann dann nicht als allgemein begreiflich beurteilt werden, wenn sie in einem psychisch abnormen Persönlichkeitsbild des Täters, somit in einem Charakter oder in seinen allenfalls vorhandenen verwerflichen Leidenschaften, Veranlagungen oder Neigungen, nicht aber in den äußeren Tatumständen wurzelt (vgl. Leukauf-Steininger Komm.2 § 76 RN 5 ff).
Im vorliegenden Fall hat sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung, wie im wesentlichen auch bereits im Vorverfahren (S 71, 86), damit verantwortet, daß er sich über die dem inkriminierten Tatverhalten vorangegangene Äußerung des F***, er solle Beatrix S*** "in Kraut lassen", zwar geärgert habe (S 236), durch das Erfassen des Lenkrades jedoch F*** bloß "schrecken" und Beatrix S*** zur Wiederaufnahme der Lebensgemeinschaft mit ihm habe veranlassen wollen (vgl. S 233, 237, 240), keinesfalls aber an Selbstmord (vgl. S 235) oder daran gedacht habe, es könnten durch sein Verhalten zwei (weitere) Menschen zu Tode kommen (vgl. S 242).
Da auch der psychiatrische Sachverständige Dr. Z*** in seinem Gutachten zum Ergebnis gelangte, daß die Verantwortung des Angeklagten in der Hauptverhandlung keinen Anhaltspunkt dafür erkennen läßt, "daß eine Affektbeeinflussung bestanden hat entsprechend § 76 StGB" (S 271), fehlten in Ansehung der Tatbestandsmerkmale des Totschlags nach § 76 StGB "... sich in einer
... heftigen Gemütsbewegung ... hinreißen läßt" konkrete
Anhaltspunkte dafür, daß beim Angeklagten zur Tatzeit ein tiefgreifender, mächtiger Erregungszustand der Gefühle nach Art eines "Affektsturmes" vorgelegen hat, der die verstandesmäßigen Erwägungen zurückdrängt und eine ruhige Überlegung ausschließt, sowie nicht nur die normale Motivationsfähigkeit des Täters auszuschalten, sondern sogar stärkste sittliche Hemmungen, wie sie gegen die vorsätzliche Tötung eines Menschen bestehen, hinwegzufegen geeignet ist und der tatsächlich für den späteren, während des Andauerns der beschriebenen Gefühlsimpulse zu fassenden und zu realisierenden Tatentschluß kausal wird (vgl. Leukauf-Steininger aaO RN 8; Kienapfel BT2 RN 18 f; Foregger-Serini StGB4 Anm. I; Moos im WK Rz 12, 21 bis 25 je zu § 76).
Auf Grund der (bisherigen) Verfahrensergebnisse war sohin die von der Staatsanwaltschaft gerügte Fragestellung (nach Totschlag) verfehlt und aus den dargelegten Gründen geeignet (§ 345 Abs. 4 StPO), einen die Anklage beeinträchtigenden Einfluß auf die Entscheidung zu üben (vgl. ÖJZ-LSK 1978/209 = EvBl. 1979/6). Die rein theoretische Möglichkeit einer Tatbegehung durch den Angeklagten in einem von § 76 StGB geforderten "besonderen Affekt" allein, ohne daß in der Hauptverhandlung darauf hinweisende Tatsachen vorgebracht worden wären, konnte jedenfalls (nach § 314 StPO) noch nicht die Zulässigkeit der bekämpften Eventualfrage bewirken.
Der Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft war daher Folge zu geben und der Wahrspruch der Geschwornen sowie das darauf beruhende Urteil aufzuheben und dem Geschwornengericht die Verfahrenserneuerung aufzutragen.
Mit seiner (auf die Nichtannahme eines bei ihm vorgelegenen Tötungsvorsatzes abzielenden) Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung war der Angeklagte ebenso wie die Staatsanwaltschaft mit ihrer Berufung auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.
Anmerkung
E18238European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1989:0140OS00075.89.0830.000Dokumentnummer
JJT_19890830_OGH0002_0140OS00075_8900000_000