Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof.Dr.Kuderna als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Gamerith und Dr. Petrag sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Robert Müller und Anton Prager als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Helmut H***, Gerasdorf, Blumenweg 28-30, vertreten durch Dr. Hellfried Stadler, Rechtsanwalt in Mistelbach, wider die beklagten Parteien 1. Karl K***, Arbeiter, Hausbrunn 380, und
2. S*** Zucker-Gesellschaft mbH, Wien 3., Am Heumarkt 13, beide vertreten durch Dr. Dietrich Koth, Rechtsanwalt in Gänserndorf, wegen 112.500 S sA (Revisionsstreitwert 104.250 S), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10. März 1989, GZ 32 Ra 144/88-29, womit infolge Berufung beider Parteien das Urteil des Kreisgerichtes Korneuburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 30. Juni 1988, GZ 15 b Cga 6/87-23, teils bestätigt, teils abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt und beschlossen:
Spruch
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird im Ausspruch über die Abweisung des Klagebegehrens gegen die zweitbeklagte Partei als Teilurteil mit der Maßgabe bestätigt, daß der Kläger der zweitbeklagten Partei die Hälfte der vom Berufungsgericht bestimmten Kosten des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens, das ist 33.271,81 S (darin 6.201 S Barauslagen und 3.106,98 S Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen hat.
Der Kläger ist weiters schuldig, der zweitbeklagten Partei die mit 3.394,71 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin 565,79 S Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen. Im übrigen - das ist in seinem Ausspruch über das gegen die erstbeklagte Partei erhobene Begehren auf Zuerkennung eines Betrages von 104.250 S samt 4 % Zinsen seit Klagstag - wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Rechtssache in diesem Umfang zur weiteren Verhandlung und neuen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind insoweit gleich Verfahrenskosten zweiter Instanz zu behandeln.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 5. Dezember 1983 ereignete sich gegen 11.00 Uhr vormittags im Werksgelände der Zuckerfabrik Hohenau ein Arbeitsunfall, bei dem der Kläger von einem vom Erstbeklagten gelenkten Radlader niedergestoßen und schwer verletzt wurde. Beide Beteiligten waren Arbeitnehmer der zweitbeklagten Partei, die zugleich Halter des auch zum Verkehr auf öffentlichen Straßen zugelassenen Radladers war. Der Kläger beförderte lose Zuckerrübenschnitte (Pellets) mit einem Handwagen in die sogenannte Spitzhalle, während der Erstbeklagte die Aufgabe hatte, Pellets mit dem Radlader auf Traktoranhänger zu verladen. Wegen dieses Unfalles wurde der Erstbeklagte mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes Zistersdorf des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs 1 und 4, erster Deliktsfall, StGB schuldig erkannt, weil er nach rückwärts in das Magazin einfuhr, dort trotz schlechter Sicht reversieren wollte und dabei den Kläger niederstieß.
Der Kläger begehrt von den beklagten Parteien unter Zugeständnis eines Mitverschuldens von einem Viertel die Zahlung eines Betrages von 112.500 S sA an Schmerzengeld. Der Erstbeklagte sei dem Kläger nicht übergeordnet gewesen; die zweitbeklagte Partei hafte dem Kläger als Halterin des Radladers.
Die beklagten Parteien beantragten die Abweisung des Klagebegehrens. Der Erstbeklagte sei im Spitzmagazin und auch im Fahrbereich des Radladers außerhalb dieses Magazins den dort tätigen Arbeitern gegenüber weisungsberechtigt, weil er in seiner Fahrspur durch andere Arbeiter nicht behindert werden dürfe. Der Kläger habe sich entgegen der Anordnung des Erstbeklagten in die Fahrspur des Radladers begeben. In eventu werde daher eingewendet, daß den Kläger das überwiegende Mitverschulden treffe.
Das Erstgericht gab dem gegen den Erstbeklagten gerichteten Klagebegehren mit einem Betrag von 75.066,67 S sA statt und wies das Mehrbegehren sowie das gegen die zweitbeklagte Partei gerichtete Begehren ab.
Das Erstgericht traf nähere Feststellungen über die Situation an der Unfallstelle, vor dem Unfall erfolgte Warnungen der in der Spitzhalle beschäftigten Arbeiter durch den Erstbeklagten sowie über den Unfallhergang. Es vertrat - allerdings im Rahmen der Sachverhaltsfeststellungen - die Rechtsauffassung, der Erstbeklagte habe in der Arbeitshierarchie gegenüber dem Kläger keine derartige Stellung eingenommen, daß er ihm übergeordnet im Sinn eines Aufsehers im Betrieb gewesen wäre, und ging daher von einer Haftung des Erstbeklagten (unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Klägers von einem Drittel und unter Zugrundelegung eines insgesamt mit 112.600 S bemessenen Schmerzengeldes) aus. Hingegen verneinte das Erstgericht die Haftung der zweitbeklagten Partei gemäß § 333 ASVG auch im Hinblick darauf, daß der Radlader nicht als Fahrzeug auf einer Straße, sondern als Arbeitsmaschine eingesetzt worden sei. Das Berufungsgericht gab nur der Berufung des Erstbeklagten Folge und änderte das im übrigen bestätigte und hinsichtlich der Abweisung eines Betrages von 8.250 S sA in Rechtskraft erwachsene Ersturteil in seinem stattgebenden Teil im Sinn einer gänzlichen Klageabweisung ab. Es erklärte, die Feststellungen des Erstgerichtes zu übernehmen, und vertrat die Rechtsauffassung, daß der Erstbeklagte dem Kläger gegenüber im Bereich des Spitzmagazins weisungsberechtigt gewesen sei, sodaß ihm der Haftungsausschluß nach § 333 ASVG zugutekomme. Die Ausnahmsbestimmung des § 333 Abs 3 ASVG komme bezüglich beider beklagter Parteien nicht zum Tragen, weil eine Teilnahme am allgemeinen Verkehr nur dann anzunehmen sei, wenn sich der Unfall außerhalb des Betriebes ereignet habe, die Beteiligten nicht in Ausübung ihres Dienstes handelten und sich der Unfall nicht in örtlichem, zeitlichem und ursächlichem Zusammenhang mit der Beschäftigung des Verletzten ereignet habe. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der klagenden Partei aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens mit 104.250 S sA gegenüber beiden beklagten Parteien abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagten Parteien beantragen, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist teilweise berechtigt.
1. Zu dem gegen den Erstbeklagten gerichteten Begehren:
Die behauptete Mangelhaftigkeit liegt vor.
Das Berufungsgericht darf auch ergänzende Feststellungen nur nach Beweiswiederholung bzw. -ergänzung treffen; will das Berufungsgericht von der Beweiswürdigung des Erstgerichtes abgehen, so ist es gehalten, sämtliche mit dem fraglichen Beweisthema im Zusammenhang stehende Beweise zu wiederholen, sei es durch unmittelbare Beweisaufnahme vor dem Berufungsgericht oder bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 281 a ZPO durch vollständige Verlesung der Protokolle über die diesbezüglichen Beweisaufnahmen im Verfahren erster Instanz. Eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes liegt auch vor, wenn das Berufungsgericht seine rechtliche Beurteilung unter Abweichen von den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes ohne Durchführung einer Beweiswiederholung oder -ergänzung trifft (siehe SZ 57/142). Das Erstgericht hat seine Rechtsauffassung, der Erstbeklagte habe in der Arbeitshierarchie gegenüber dem Kläger keine derartige Stellung eingenommen, daß er ihm übergeordnet im Sinne eines Aufsehers im Betrieb gewesen wäre, nicht auf entsprechende Tatsachenfeststellungen über den Aufgabenbereich des Klägers und des Erstbeklagten sowie darüber, in welchem Bereich der Erstbeklagte allfällige Weisungsbefugnisse hatte, gestützt. Das Erstgericht hat jedoch im Rahmen der Beweiswürdigung durch den Satz "aus den Aussagen der vernommenen Zeugen, insbesondere K*** AS 28, Johann und Herbert K*** AS 32 und 33, S*** AS 45, B*** AS 46, H*** AS 47 hat sich ergeben, daß der Beklagte gegenüber dem Kläger keinesfalls weisungsberechtigt war", zu erkennen gegeben, daß es folgenden Aussagen gefolgt ist: Zeugenaussagen Josef K*** "der Fahrer des Radladers ist nicht berechtigt, Weisungen an mich bzw. an andere Mitarbeiter zu erteilen", Johann K*** "der Erstbeklagte hat uns immer darauf aufmerksam gemacht, daß wir vorsichtig sein sollen", Herbert K*** (über Warnungen des Erstbeklagten), Josef S*** "es war dem Erstbeklagten nicht gestattet, Anweisungen an die Gruppe weiterzugeben", Norbert B*** "der Erstbeklagte hatte dieser Partie eigentlich nichts anzuschaffen. Er konnte nicht sagen, daß wir diese oder jene Arbeit machen sollten. Er konnte uns auch nicht sagen, daß an einem bestimmten Tag eine bestimmte Arbeit verrichtet werde und wir aus seinem Weg gehen sollten", und Aussage des Klägers "gleich am Anfang des Tages wurde ich von Herrn S*** zur Arbeit eingeteilt, der mir auch sagte, was ich an diesem Tag zu tun hatte .... Herr K*** durfte mir während dieser Zeit nichts anschaffen. Er war dazu nicht berechtigt". Ferner hat das Erstgericht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung mit dem Satz "der Abteilungsleiter der zweitbeklagten Partei, der Zeuge Horst R***, hat auf AS 51 zwar ausgeführt, daß der Fahrer des Radladers insofern weisungsbefugt ist, als er auf die Gefahr aufmerksam machen muß und dies für den Bereich des Spitzmagazins eingeschränkt gilt, doch konnte daraus noch nicht entnommen werden, daß eine derartige Über- und Unterordnung zwischen den Parteien bestand, daß dies der rechtlichen Qualifikation Aufseher im Betrieb...... entsprechen würde" zu erkennen gegeben, daß es der Aussage des Zeugen Horst R*** lediglich in ihrem mit den oben zitierten Aussagen übereinstimmenden Teil dahin folgte, daß der Erstbeklagte die im Bereich des Spitzmagazins tätigen Arbeiter vor der mit dem Einsatz des Radladers verbundenen Gefahr zu warnen hatte. Dennoch ist das Berufungsgericht nach Wiedergabe weiterer, von den oben zitierten Passagen abweichender Teile der Aussagen der Zeugen Horst R*** und Josef K*** - wonach der Erstbeklagte im Spitzmagazin den dort beschäftigten Arbeitern gegenüber insofern weisungsbefugt gewesen sei, als er ihnen seine Fahrlinie mitteilen und auffordern konnte, ihn dabei nicht zu behindern und weiters anordnen konnte, wo sie die Pellets hinzuschaffen hatten - im Rahmen der Stellungnahme zur Beweisrüge zur Rechtsauffassung gelangt, daß der Erstbeklagte im Bereich des Spitzmagazins zu bestimmen und anzuordnen hatte, sodaß ihm gegenüber dem Kläger im Unfallszeitpunkt die Funktion eines Aufsehers im Betrieb im Sinne des § 333 Abs 4 ASVG zugekommen sei.
Soweit das Berufungsgericht diese Rechtsauffassung auf die von ihm im Rahmen der Behandlung der Beweisrüge wiedergegebenen Aussagen stützt, geht es nicht von den Feststellungen des Erstgerichtes, sondern ohne Beweiswiederholung von Beweisergebnissen aus, denen das Erstgericht nicht gefolgt ist. Da das Berufungsgericht die Beweise weder durch unmittelbare Beweisaufnahme noch durch Verlesung gemäß § 281 a ZPO wiederholt hat, hat es gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz verstoßen. Der gerügte Verfahrensmangel nach § 503 Abs 1 Z 2 ZPO liegt daher vor.
Ergänzend sei bemerkt, daß dieser Verfahrensmangel auch entscheidungswesentlich ist, weil die vom Erstgericht festgestellte Befugnis (und Verpflichtung) des Erstbeklagten, die im Spitzmagazin Beschäftigten vor den mit dem Betrieb des Radladers verbundenen Gefahren zu warnen, nicht über die jedem Lenker eines Kraftfahrzeuges oder einer mit ähnlicher Betriebsgefahr verbundenen Arbeitsmaschine ganz allgemein obliegende Pflicht hinausgeht, die mit der Betriebsgefahr des von ihm bedienten Fahrzeuges oder Gerätes verbundene Gefährdung von Personen möglichst gering zu halten. Diese "Befugnisse", die etwa auch durch die Abgabe von Warnsignalen ausgeübt werden können, begründen jedenfalls nicht eine Aufsehereigenschaft im Sinne des § 333 Abs 4 ASVG. Diese erfordert eine über die aus der ganz allgemeinen Verpflichtung zur Vermeidung der Gefährdung absoluter Rechte Dritter erfließenden Pflichten und Weisungsbefugnisse - etwa im Sinne einer von dem im Gefährdungsbereich befindlichen Personen zu beachtenden Warnung - hinausgehende Überwachungs- oder Anordnungsbefugnis gegenüber Mitbeschäftigten zur Erreichung des Betriebszweckes (vgl. Arb. 8.943, Arb. 9.094; SZ 51/128; SZ 57/189 = Arb. 10.429 = DRdA 1986/21 !Grillberger = JBl 1985, 565; JBl 1988, 117; RdW 1989, 30). Wäre der Erstbeklagte hingegen befugt gewesen, den Kläger und Josef K*** anzuweisen, wo sie die von ihnen transportierten Pellets zu lagern hatten, wie dies den vom Berufungsgericht zitierten Aussagen sowie der Aussage des Zeugen Josef S*** AS 46 und den Angaben des Erstbeklagten im Strafverfahren AS 23 und 39 des Strafaktes zu entnehmen wäre, dann wäre dem Erstbeklagten bezüglich der vom Kläger im Unfallszeitpunkt verrichteten Arbeit Weisungsbefugnis und damit dem Kläger gegenüber die Stellung eines Aufsehers im Betrieb im Sinne des § 333 Abs 4 ASVG zugekommen.
Der Revision war daher, soweit sie sich gegen die Entscheidung des Berufungsgerichtes über den wider den Erstbeklagten erhobenen Anspruch richtet, Folge zu geben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
2. Zu dem gegen die zweitbeklagte Partei gerichteten Begehren:
Hingegen hat das Berufungsgericht zutreffend erkannt, daß eine Teilnahme am "allgemeinen Verkehr" im Sinne des § 333 Abs 3 ASVG nicht vorlag. Von einer solchen kann nur dann gesprochen werden, wenn sich der Unfall außerhalb des betrieblichen Geschehens ereignet hat, die Beteiligten nicht in Ausübung ihres Dienstes handelten und der Unfall nicht in örtlichem, zeitlichem oder ursächlichem Zusammenhang mit der Beschäftigung des Verletzten stand (siehe SZ 57/189 mwH; RdW 1989, 30). Da im vorliegenden Fall keine dieser negativen Voraussetzungen zutraf - der Unfall ereignet sich im Betrieb, beide Beteiligten handelten in Ausübung ihres Dienstes - waren die Voraussetzungen des Ausnahmstatbestandes nach § 333 Abs 3 ASVG nicht erfüllt, auch wenn der Radlader zum Verkehr auf Straßen geeignet und damit als Kraftfahrzeug im Sinne des KFG anzusehen war.
Der Revision war daher, soweit sie sich gegen die Entscheidung des Berufungsgerichtes über den gegen die zweitbeklagte Partei gerichteten Anspruch richtet, ein Erfolg zu versagen. Der Kostenzuspruch an die zweitbeklagte Partei beruht auf den §§ 41, 50 ZPO, der Kostenvorbehalt bezüglich des Erstbeklagten auf § 52 ZPO.
Anmerkung
E18308European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1989:009OBA00210.89.0913.000Dokumentnummer
JJT_19890913_OGH0002_009OBA00210_8900000_000