TE OGH 1989/9/19 5Ob604/89

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Veröffentlicht am 19.09.1989
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Marold als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Zehetner, Dr. Klinger, Dr. Schwarz und Dr. Graf als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Marie P***, geb. 22.April 1982, 4822 Bad Goisern Nr.77, infolge Revisionsrekurses der Mutter Anne L***, Ärztin, D-1, Berlin 61, Ritterstraße 65, vertreten durch Dr. Karl Kuprian, Rechtsanwalt in Bad Ischl, gegen den Beschluß des Kreisgerichtes Wels als Rekursgerichtes vom 6.Juli 1989, GZ R 326/89-82, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Bad Ischl vom 9.Februar 1989, GZ P 13/87-66, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neue Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Johann P***, Soziologe, 4822 Bad Goisern Nr.77, der uneheliche Vater der am 22.April 1982 geborenen Marie Viktoria P***, beantragte, ihm das Sorgerecht für dieses Kind zuzuerkennen. Er lebe seit einiger Zeit von der Mutter dieses Kindes getrennt, welche sich seit Oktober 1986 nicht mehr gemeldet habe. Er habe im Oktober 1986 das Kind aus Berlin, wo sie im Haushalt mit der Mutter gelebt hatte, nach Warschau gebracht. Nach drei Monaten seien er und das Kind von dort ausgewiesen worden.

Die Mutter Anne L*** beantragte die Zurückweisung dieses Antrages mit der Begründung, nach dem maßgebenden finnischen Recht komme das Sorgerecht der unehelichen Mutter allein zu. Es gebe keinen Grund, ihr dieses zu entziehen. Der Vater habe das Kind gegen ihren Willen im Herbst 1986 nach Warschau entführt und eine Beziehung des Kindes zu ihr verhindert. Dem Wohl des Kindes entspreche es, wenn es so bald wie möglich zu ihr und der Halbschwester Jenny zurückkommen könnte.

Das Erstgericht entzog der Mutter Anne L*** das alleinige Sorgerecht (Punkt 1.) und bestellte Johann P*** zum Vormund unter gleichzeitigem Ausspruch, daß ihm künftig allein das Recht zustehe, dieses Kind zu pflegen und zu erziehen, es zu vertreten und sein Vermögen zu verwalten (Punkt 2.).

Dieser Entscheidung liegt folgender vom Erstgericht festgestellter Sachverhalt zugrunde:

Die minderjährige Marie Viktoria P***, die ebenso wie ihre Mutter Anne L*** finnische Staatsbürgerin ist, wurde am 22.April 1982 in Varkaus in Finnland als uneheliches Kind des österreichischen Staatsbürgers Johann P***, mit dem die Mutter schon seit 1978 in Lebensgemeinschaft gelebt hatte, geboren. Am 18. Mai 1982 anerkannte Johann P*** vor den finnischen Behörden die Vaterschaft zu diesem Kind. Am 7.Oktober 1982 wurde dieses Anerkenntnis vor den finnischen Behörden angenommen. Das Kind führt seitdem nach finnischem Recht den Familiennamen ihres unehelichen Vaters.

Im Frühjahr 1981 hatte die Mutter ihr deutsches Staatsexamen als Ärztin gemacht, das aber in Finnland nicht anerkannt wurde. Sie absolvierte daher von August 1981 bis Ende März 1982 eine Zusatzausbildung in Finnland und erhielt anschließend die finnische Approbation.

Im August 1982 übersiedelten die Eltern mit Marie und der älteren Tochter Jenny aus der Ehe von Anne L*** nach Warschau und wohnten gemeinsam in einem Haushalt. Anfang 1983 praktizierte die Mutter nochmals für einige Monate in Finnland und nahm ihre Töchter Jenny und Marie zu ihrer Großmutter nach Finnland mit. Mitte August 1983 kehrte sie mit den Kindern wiederum nach Warschau zurück, aber nicht in einen gemeinsamen Haushalt mit dem Vater. Jenny wurde in die deutsche Schule eingeschrieben. Da der von Anne L*** in Polen gestellte Antrag auf Genehmigung des ständigen Aufenthaltsortes abschlägig beschieden wurde und ihr vom Klinikum Steglitz in Westberlin eine unbezahlte Gaststelle für Ausländer angeboten wurde, zog sie schließlich wieder nach Westberlin zu Freunden, in deren Wohnung sie freie Kost und Logis erhielt. Die Kinder Jenny und Marie blieben in Polen und wurden dort neben anderen Personen hauptsächlich von Johann P*** und Jennys Lehrerin von der deutschen Schule betreut. Ab Mai 1985 wurde Anne L*** eine bezahlte Arztstelle in Berlin angeboten.

Während einer Auslandsreise des Vaters im März und April 1985 lebte Marie bei der Mutter in Berlin, wo sich auch Jenny während der Ferienzeit aufhielt. Nach der Rückkehr des Vaters von seiner Reise vereinbarten die Eltern, daß Marie weiterhin beim Vater in Warschau leben sollte. Die Lebensgemeinschaft der Eltern war bereits seit 1984 aufgelöst. Die Sommerferien 1985 verbrachte Johann P*** gemeinsam mit Marie und Jenny in Finnland. Im September 1985 wurde Jenny in Berlin eingeschult und lebt seither im Haushalt ihrer Mutter. Marie blieb beim Vater in Polen. Johann P*** verpflichtete sich, Marie einmal im Monat für einige Tage zu Besuch zu ihrer Mutter in deren dienstfreien Zeit nach Westberlin zu bringen. Im Sommer 1986 verbrachte Anne L*** mit ihren beiden Töchtern einen mehrwöchigen Urlaub in Finnland, von dem sie mit beiden Kindern nach Berlin zurückkehrte. Die Mutter weigerte sich in der Folge, Marie wieder zum Vater nach Warschau reisen zu lassen und wollte das Kind in ihrem Haushalt in Berlin behalten. Während sich die Mutter wegen einer Fehlgeburt - sie lebt in Lebensgemeinschaft mit einem polnischen Musiker - im Krankenhaus aufhielt, brachte sie Marie bei Freunden unter und versteckte sie vor dem Vater. Gegen den Willen der Mutter erzwang Johann P*** nach der Krankenhausentlassung von Anne L*** flüchtige Zusammenkünfte mit seiner Tochter. Die Mutter erzählte Jenny und Marie von ihrer Fehlgeburt und von den Alpträumen, unter denen sie damals zu leiden hatte. In ihren Träumen sei Johann P*** hinter ihr gestanden und habe sie mit einer Hacke umbringen wollen. Die Kinder befanden sich auf Grund dieser Erzählung in dem Glauben, Johann P*** habe tatsächlich den Tod des ungeborenen Kindes verschuldet.

Am 4.10.1986 besuchte Johann P*** Marie im Treppenhaus der mütterlichen Wohnung gegen den Willen der Mutter und reiste anschließend mit Marie nach Polen. In Warschau sprach der Vater unmittelbar nach der Ankunft bei den Behörden vor und ersuchte um Vermittlung und Unterstützung. Die Mutter erstattete am selben Tag gegen den Vater Anzeige wegen Kindesentführung. Anne L*** wandte sich im November 1986 auch an die Österreichische Delegation in Berlin und bat um Unterstützung, um ihr Kind zurückzubekommen, da sie erfahren habe, daß der Vater mit Marie nach Österreich zu reisen beabsichtige. Schließlich fand auch in Warschau zwischen den Eltern ein Treffen statt, auch hatte die Mutter noch einmal Kontakt mit Marie. Im psychoneurologischen Institut in Warschau sprachen die Eltern im Beisein von Prof. Dr. L*** über die gegenständliche Problematik und eine mögliche Lösung. Die Mutter erklärte dem Therapeuten Dr. L*** in diesem Gespräch, daß sie das Kind ganz für sich wolle, andernfalls würde sie den Kontakt zum Kind abbrechen und nur mehr schriftlich mit Marie verkehren. Der Mutter war die damalige Wohnadresse des Kindes in Warschau bekannt. Die polnischen Behörden lehnten eine Entscheidung im gegenständlichen Sorgerechtsstreit ab und verwiesen den Vater und Marie des Landes. Seit Anfang Jänner 1987 lebt Johann P*** mit Marie bei seinen Eltern in Bad Goisern, wo diese ein Hotel betreiben. Die Mutter hatte ständig Kenntnis von Marie's Aufenthaltsorten zunächst in Warschau und dann in Östereich, da der Vater mehrmals versuchte, über gemeinsame Bekannte, die über den Aufenthaltsort Marie's informiert waren, mit der Mutter eine Einigung herbeizuführen und zudem auch die österreichische und die finnische Botschaft in Warschau informiert hatte.

Am 10.4.1987 wurde Anne L*** über ein Rechtshilfeersuchen des gefertigten Gerichtes vor dem Amtsgericht Schöneberg zum Antrag des Vaters auf Zuerkennung des Sorgerechtes zu Marie an ihn einvernommen.

Mit Schreiben vom 13.11.1987 teilte das finnische Justizministerium dem gefertigten Gericht mit, daß die finnischen Behörden im elterlichen Srogerechtsstreit um Marie keine Entscheidungsbefugnis fordern würden.

Am 18.12.1987 unterbreitete die Mutter über ihre Rechtsanwältin einen Vergleichsvorschlag, der die Betreuung von Marie bis Sommer 1988 im Rahmen einer einverständlichen Regelung festlegen sollte. Demzufolge sollte Marie - je nach dem Wohnsitz des Vaters im Inland oder im Ausland - wechselweise zwischen einer oder zwei Wochen bzw. auch bis zu einem Monat zwischen den Eltern pendeln. Dieser Vorschlag wurde vom Vater unter Hinweis auf die für ein Kind erforderliche stete Betreuungs- und Bezugsperon abgelehnt. Die Mutter lehnte lange Zeit den Kontakt mit dem Vater ab, sie erklärte, keinen Kontakt, sondern das Kind zu wollen. Der erste schriftliche Kontakt zwischen Mutter und Kind ging von Marie aus, die mit Hilfe des Vaters einen Brief an die Mutter verfaßte. Im Herbst 1987 kam daraufhin ein kurzer Antwortbrief von der Mutter an Marie nach Bad Goisern. Im Juli 1987 erhielt Marie von ihrer Mutter ein Paket, in dem Geschenke für Weihnachten und Geburtstag waren, darunter eine Barbie-Puppe, nach Bad Goisern gesandt. Marie bedankte sich schriftlich bei ihrer Mutter für diese Geschenke. Einen zweiten Brief von ihrer Mutter erhielt Marie zum Geburtstag 1988. Auch die mütterliche Großmutter Marie's sandte an deren Adresse nach Bad Goisern ein Weihnachtspaket.

Einer Ladung des Erstgerichtes zu einer Tagsatzung am 27.6.1988 im Beisein des psychologischen Sachverständigen Dr. W*** leistete die Mutter keine Folge, da sie sich den Angaben ihrer Rechtsanwältin zufolge in dieser Zeit - und zwar bis Ende Juli 1988 - in Urlaub befand. Zum Termin 12.8.1988 konnte die Mutter nicht zureisen, beim Ersatztermin am 19.9.1988 war sie krankheitshalber verhindert. Marie wurde zu den verschiedenen Terminen von ihrem Vater auf den bevorstehenden Besuch der Mutter vorbereitet. Johann P*** schlug Anne L*** vor dem Termin 19.9. schriftlich vor, daß sie bereits zwei Tage vorher kommen sollte, damit die erste Kontaktnahme eben nicht vor Gericht, sondern in privater Atmosphäre stattfinden könne. Der Vater erhielt auf dieses Schreiben keine Antwort. Schließlich kam es am 11.10.1988 erstmals nach zwei Jahren zu einem persönlichen Zusammentreffen zwischen der Mutter und Marie. Die Mutter hielt sich zusammen mit Jennifer bis 16.10.1988 in einer Ferienwohnung in Bad Goisern auf. Dieser erste Besuchskontakt erfolgte nach einer genauen Regelung, die vor Gericht von den Eltern vereinbart worden war. Die Eltern erklärten übereinstimmend, daß die Wünsche Marie's vorrangig wären und jeder Elternteil auf etwaige Äußerungen Marie's, sie wolle zum anderen Elternteil gebracht werden, entsprechend reagieren würde. Die Mutter gab zudem vor Gericht die Erklärung ab, Marie nicht eigenmächtig im Zuge des Besuches nach Berlin mitzunehmen. Obgleich jeder Besuchstag und jede Übernachtung - vorbehaltlich der Änderungen durch Marie - genau festgelegt waren, verlief diese erste Besuchswoche anfangs anders als in der festgelegten Weise. So kam es bereits am 12.10.1988 in der Volksschule Bad Goisern zu einem Streit zwischen den Eltern. Der Vater war zur Schule gekommen, um noch einige Sachen für Marie zu bringen und die Mutter mit der Lehrerin bekannt zu machen, damit war aber die Mutter nicht einverstanden. Sie drängte auch entgegen der Vereinbarung auf eine Übernachtung Marie's bei ihr und Jenny bereits an diesem Abend, obgleich dies erst für Donnerstag, den 13.10., vorgesehen war. Es kam schließlich zu einem Streit zwischen der Mutter, Jenny und dem Vater, bei dem Marie in Tränen ausbrach. Nach einem kurzen Spaziergang mit dem Vater beruhigte sich Marie wieder. Letztendlich übernachtete Marie bei ihrer Mutter, weil sie mit Jenny weiter spielen wollte. Einer Lösung in der Weise, daß auch Jenny mit Marie beim Vater übernachten könnte, stimmte die Mutter nicht zu. Anne L*** ist strikt dagegen, daß Johann P*** mit Jenny Kontakt hat.

Vom 12.11. - 18.11.1988 hielt sich die Mutter ein weiteres Mal mit Jenny in Bad Goisern zu einem Besuch bei Marie in ähnlichem Umfang wie beim ersten Mal auf. Am 15.11. ließ die Mutter Marie durch ihren Rechtsbeistand von der Schule beurlauben, um mit ihr mehr Zeit verbringen zu können. Während dieser Besuchszeit versuchte die Mutter, Marie einen Aufenthalt in Berlin als wünschenswert darzustellen. Sie erzählte Marie von den Möglichkeiten, in Berlin täglich ein Kino oder den Zoo zu besuchen, Marie dürfe auch alleine in die Schule gehen. Die Mutter erfüllte Marie auch alle Wünsche, so kaufte sie Marie alles, was das Kind haben wollte. Anne L*** bedrängte Marie wieder, mit nach Berlin zu kommen.

Anne L*** steht derzeit auch telefonisch in Kontakt mit Marie. Bei diesen Telefonaten versucht sie, das Kind durch Versprechungen und Lockungen für sich einzunehmen.

Marie besucht seit Herbst 1987 in Bad Goisern die Volksschule. Sie hat sich trotz der mit ihrem Vater unternommenen längeren Urlaubsreisen (1 Monat Frankreich, 2 Monate Griechenland und Italien) in ihrer neuen Umgebung gut eingelebt und integriert. Da Marie zunächst nur polnisch sprach, besucht sie einen Deutschkurs. Sie beherrscht bereits den österreichischen Dialekt. Der Vater hält sie dazu an, täglich Tagebuchaufzeichnungen auch in deutscher Sprache zu machen, damit sie deutsch schreiben lernt. Johann P*** versorgt Marie, er macht mit ihr die Hausaufgaben und unterhält einen regelmäßigen Kontakt zu ihrer Klassenlehrerin, um sich über ihren Schulfortgang zu informieren. Marie erhält auch Klavier- und Reitstunden. Sie ist ein freundliches, fröhliches und hilfsbereites Kind und hinterläßt einen sehr gesunden, vitalen und gepflegten Eindruck. Selbst die Mutter bezeichnete Marie als stabiles und kräftiges Kind, das sich normal entwickelt hat.

Marie's Wunsch ist, daß sich ihre Eltern gern haben und nicht miteinander streiten. Sie möchte bei beiden sein und befindet sich in einem für sie schwierigen Konflikt der Loyalität und Gefühlsambivalenz. Marie hängt sehr an ihrer Halbschwester Jenny. Sie verteidigte aber den Vater, als Jenny ihn als Lügner bezeichnet hatte.

Der Vater Johann P*** ist von Beruf Soziologe. Er versucht, an einer österreichischen Universität eine seiner Ausbildung entsprechende Anstellung zu erlangen. Er wohnt dzt. mit Marie bei seinen Eltern in Bad Goisern, in deren Hotelbetrieb er auch aushilft. Daneben fertigt er auf Honorarbasis Übersetzungen aus der russischen und polnischen Sprache an, wodurch er in den Monaten Juni, Juli und August 1988 ca. S 19.500,-- verdiente. Mit seiner ehemaligen Arbeitsstätte in Warschau, dem Institut für Psychologie, steht Johann P*** noch in arbeitsmäßiger Verbindung und bezieht dafür monatlich etwa S 7.000,--. Solange Marie die Schule besucht, will der Vater nur halbtags arbeiten. Er ist bestrebt, mit einer beruflichen Veränderung solange zu warten, bis sich Marie selbst entscheiden kann, wohin sie will. Johann P*** ist mit einer Polin verheiratet, die sich nach wie vor in Polen aufhält. Die Mutter verdient als halbtagsbeschäftigte Anästhesistin an der Berliner Universitäts-Klinik ca. DM 2.100,-- netto monatlich. Sie versieht eine Woche ganztags Dienst von 7,30 Uhr bis 16,00 Uhr, wobei sie meistens aber Überstunden bis etwa 18,00 Uhr machen muß, und hat die darauffolgende Woche dienstfrei. Sie bewohnt in Berlin eine 85 m2 große Dreizimmerwohnung gemeinsam mit ihrer Tochter Jenny und ihrem Lebensgefährten, einem polnischen Musiker, der nicht sehr gut Deutsch spricht und aus beruflichen Gründen erst abends außer Haus geht, da er in der Nacht spielt. Die Mutter plant, daß Marie in Berlin während ihrer Arbeitswoche entweder ganztägig einen Hort besucht oder von ihrem Lebensgefährten betreut werden soll. Durch die Besuche der Mutter bei Marie in Österreich ist sie großen finanziellen und zeitlichen Belastungen ausgesetzt. Ein mehrtägiger Aufenthalt in Österreich beläuft sich samt den Fahrtkosten auf etwa DM 1.000,--.

Zwischen den Eltern und da vor allem von seiten der Mutter bestehen weiterhin gravierende Spannungen. Marie wurde durch die Besuche der Mutter in einen derartigen Loyalitätskonflikt gebracht, daß die Gefühlsambivalenz des Kindes während und besonders nach den Besuchen beinahe unerträglich gesteigert wurde. Da das Zeiterleben eines Kindes länger ist als das eines Erwachsenen, nahm Marie die zweijährige Trennung von der Mutter als eine sehr große Zeitspanne - wie beinahe 12 Jahre im Zeiterleben der Mutter - wahr. Das nunmehrige Drängen der Mutter wirkt auf Marie überfallsartig. Gemäß § 27 Abs.1 und § 9 Abs.1 IPRGesetz sei die gegenständliche Rechtssache nach finnischem Recht zu beurteilen. Gemäß § 28 des Gesetzes vom 5.Dezember 1929, Nr.379, betreffend gewisse familienrechtliche Verhältnisse internationaler Natur fänden die Bestimmungen des finnischen Rechtes über die Vormundschaft für einen minderjährigen finnischen Staatsangehörigen auch dann Anwendung, wenn er in Finnland keinen Wohnsitz habe. Die Vormundschaft über ein minderjähriges nicht eheliches Kind stehe nach finnischem Recht der Mutter des Kindes allein zu.

Bei grobem Mißbrauch oder einer schwerwiegenden Vernachlässigung des Personensorgerechtes, das den Eltern als Recht und Pflicht zustehe, könne dieses durch das Gericht entzogen und entweder dem anderen Elternteil allein oder einem besonders bestellten Vormund übertragen werden.

Das festgestellte Verhalten der Mutter sei als schwerwiegende Vernachlässigung des ihr an sich zustehenden Personensorgerechtes zu werten. Sie habe nämlich während langer Zeit keinen persönlichen Kontakt zu dem Kind unterhalten, obgleich ihr dies möglich gewesen wäre. Während der später erfolgenden zwei Besuche habe sie das Kind erheblich belastet und in einen Zwiespalt gebracht. Durch eine Verlagerung des Lebensschwerpunktes des Kindes nach Berlin würde daher die Mutter ihr Personensorgerecht grob mißbrauchen. Das Kind erlebe beim Vater Verläßlichkeit und Geborgenheit in einem konstanten sozialen Bezugsrahmen. Der Vater habe das Kind in den letzten Jahren allein erfolgreich gepflegt und erzogen. Es sei daher erforderlich, der Mutter das alleinige Sorgerecht zu diesem Kind zu entziehen und dessen Vater zum Vormund zu bestellen.

Das Gericht zweiter Instanz bestätigte diesen erstgerichtlichen Beschluß (die Zurückweisung des Rekurses der Mutter gegen die Abweisung ihres Antrages auf Einräumung eines Besuchsrechtes ist nicht mehr Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens). Das Rekursgericht übernahm die erstgerichtlichen entscheidungswesentlichen Feststellungen als Ergebnis unbedenklicher Beweiswürdigung und führte dazu rechtlich folgendes aus:

Die finnische Staatsangehörigkeit des Kindes und der Mutter erfordere nach den §§ 9 und 25 IPRGesetz die Anwendung finnischen Rechtes. Dessen Inhalt sei aber bloß aufgrund der in Bergmann-Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht abgedruckten finnischen Vorschriften nicht hinlänglich geklärt. Da aber die Feststellung der finnischen Regelungen, insbesondere des in der genannten Gesetzessammlung nicht abgedruckten Gesetzes über den Kindesschutz vom 17.Jänner 1936, Nr.52, sowie des finnischen Gerichtsbrauches und der finnischen Lehre erfahrungsgemäß mehrere Monate in Anspruch nehme, sei im Hinblick auf die Tatsache, daß das Pflegschaftsverfahren bereits mehr als zwei Jahre dauere und im Interesse des Kindes eine Regelung dringend erforderlich sei, gemäß § 4 IPRGesetz die Anwendung österreichischen Rechtes zulässig. Bei Anwendung österreichischen Rechtes sei aber die erstgerichtliche Entscheidung aus folgenden Gründen zutreffend:

Die Gefährdung des Kindeswohles als Voraussetzung für die Entziehung der Elternrechte nach § 176 ABGB sei erfüllt, wenn der Verbleib des Kindes bei einem an sich erziehungstauglichen Elternteil ohne dessen Verschulden für das Kind schädlich wäre, insbesondere dann, wenn dieser Elternteil in einer die Interessen des Kindes beeinträchtigenden Weise auf seinen Rechten bestehe, zum Beispiel das Kind aus der gewohnten Umgebung reißen wolle. Zwar solle eine durch die Entführung eines Minderjährigen geschaffene Situation grundsätzlich nicht sanktioniert werden, doch müsse in jedem konkreten Fall das Kindeswohl vorrangig berücksichtigt werden. Durch die Entziehung des Kindes im Herbst 1986 aus der Erziehungsgewalt der Mutter, bei der sich das Kind nach einem Urlaub befunden habe, sei nur ein vorher mit Zustimmung der Mutter cirka zwei Jahre dauernder Zustand fortgesetzt worden. Seither befinde sich das Kind weitere zweieinhalb Jahre beim Vater, sodaß eine kontinuierliche Erziehung des Kindes durch ihn seit rund viereinhalb Jahren gegeben sei. Auch habe sich dieser Aufenthalt des Kindes beim Vater für dieses durchaus positiv ausgewirkt. Eine Rückkehr des Kindes zur Mutter würde nicht nur dem Grundsatz der Kontinuität von Pflege und Erziehung widersprechen, sondern auch bedeuten, daß sich das Kind in einem völlig veränderten Milieu zurechtfinden müsse. Die Betreuungssituation sei jedenfalls derzeit beim Vater besser als bei der Mutter.

Wenn daher die Mutter unter Außerachtlassung des beim Kind seit der Trennung im November 1984 eingetretenen Entwicklungsprozesses weiterhin auf ihrem Recht beharre, so beeinträchtige sie damit die Interessen des Kindes in einer solchen Weise, welche die Entziehung der Elternrechte rechtfertige. Überdies habe sie auch früher die Kontaktaufnahme mit dem Kind trotz Bekanntheit des Aufenthaltes unterlassen. Bei den Besuchen im Herbst 1988 habe sie in einer dem Kind abträglichen Weise versucht, bei ihm den Wunsch nach einem Wechsel des Aufenthaltsortes zu wecken. Der im Pflegschaftsverfahren erstattete Vergleichsvorschlag, nach welchem das Kind in mehrwöchigen Abständen zwischen dem Vater und der Mutter hin- und herpendeln sollte, wäre gleichfalls dem Kindeswohl abträglich gewesen.

Dem Rekurs hätte daher der Erfolg versagt werden müssen. Gegen diesen Beschluß richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter nach § 16 AußStrG wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahin abzuändern, daß ihr das alleinige Sorgerecht für die minderjährige Marie Viktoria P*** zuerkannt werde. Hilfsweise stellte sie einen Aufhebungsantrag.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist berechtigt.

Gemäß § 16 Abs.1 AußStrG ist gegen eine bestätigende Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz der Rekurs an den Obersten Gerichtshof nur im Falle einer offenbaren Gesetz- oder Aktenwidrigkeit oder wegen Nichtigkeit zulässig. Nicht zu den zulässigen Gründen eines nur auf diese Gesetzesstelle stützbaren Revisionsrekurses gehört daher die Mangelhaftigkeit des Verfahrens oder die unrichtige Beweiswürdigung durch die Vorinstanzen. Auf die Ausführungen in Punkt IV. der Rechtsmittelschrift (Bekämpfung des Sachverständigengutachtens; noch dazu ohne konkrete Ausführungen, sondern nur durch den unzulässigen Hinweis auf die Ausführungen in einer anderen Rechtsmittelschrift) ist daher nicht weiter einzugehen. Ebenso kann nicht Gegenstand eines Revisionsrekurses nach § 16 AußStrG die in Punkt V. der Rechtsmittelschrift enthaltene Rüge sein, die Vorinstanzen hätten es unterlassen, mit den Parteien die Stellungnahme des Sachverständigen zu den Ausführungen im Rekurs ON 70 der Mutter zu erörtern. Selbst wenn darin ein Verfahrensverstoß gelegen wäre, hätte er doch nicht das Gewicht einer Nichtigkeit (vgl. EFSlg.39.788).

Die Ausführungen in Punkt II. der Rechtsmittelschrift bekämpfen größtenteils unzulässigerweise die von den Vorinstanzen getroffenen Tatsachenfeststellungen.

Es bleibt daher nur noch zu prüfen, ob in der Nichtanwendung finnischen Rechtes (Punkt I. des Revisionsrekurses), in der Nichtberücksichtigung des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, BGBl.1988/512 (Punkt II. des Revisionsrekurses) sowie gegebenenfalls letztlich in der Auslegung des § 176 ABGB (Punkt III. der Rechtsmittelschrift) durch das Rekursgericht eine offenbare Gesetzwidrigkeit gelegen ist. Im einzelnen ist zu den von der Revisionsrekurswerberin unter dem Gesichtspunkt der offenbaren Gesetzwidrigkeit aufgeworfenen Rechtsproblemen folgendes zu sagen:

1. Zur Nichtberücksichtigung des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, BGBl.1988/512:

Gemäß seinem Artikel 4 wird dieses Übereinkommen auf jedes Kind angewendet, das unmittelbar vor einer Verletzung des Sorgerechts oder des Rechts auf persönlichen Verkehr seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Vertragsstaat hatte. Weder Polen noch die Bundesrepublik Deutschland, dessen Gebiet in diesem Zusammenhang Westberlin zuzurechnen ist, sind aber Staaten, von denen das genannte Abkommen nach den bisher erfolgten Veröffentlichungen im Bundesgesetzblatt ratifiziert bzw. genehmigt wurde oder dem sie beigetreten sind. Die Bestimmungen dieses Abkommens sind daher schon aus diesem Grund zutreffend bei der Entscheidung von den Vorinstanzen nicht berücksichtigt worden.

2. Zur Nichtanwendung finnischen Rechts:

Nach dem Personalstatut des Kindes sind sowohl die Wirkungen seiner Unehelichkeit (§ 25 Ab.2 IPRG) als auch die Voraussetzungen für die Anordnung und Beendigung einer Vormundschaft oder Pflegschaft sowie deren Wirkungen (§ 27 Abs.1 IPRG) zu beurteilen. Das Personalstatut der minderjährigen Marie Viktoria P*** richtet sich nach ihrer Staatsangehörigkeit (§ 9 Abs.1 IPRG). Daraus folgt, daß die Entscheidung über den Antrag des Vaters Johann P*** auf Übertragung des Sorgerechtes über die minderjährige Marie Viktoria P*** auf ihn wegen der finnischen Staatsbürgerschaft des Kindes nach finnischem Recht zu erfolgen hat. Nur dann, wenn dieses fremde Recht trotz eingehendem Bemühen innerhalb angemessener Frist nicht ermittelt werden könnte, wäre gemäß § 4 Abs.2 IPRG österreichisches Sachrecht anzuwenden. Es handelt sich dabei um eine Kollisionsnorm, die subsidiär die Anwendung österreichischen Rechtes vorsieht, damit bei Vorliegen der inländischen Gerichtsbarkeit überhaupt eine Sachentscheidung ergehen kann.

Eine offenbare Gesetzwidrigkeit einer Entscheidung kann auch in der unrichtigen Anwendung von Kollisionsnormen liegen, wenn dadurch die Anwendung von Sachnormen einer nichtberufenen Rechtsordnung bewirkt wird (7 Ob 504/80; 5 Ob 664/78). Dieser Fall ist hier gegeben, weil die Vorinstanzen es unterließen, überhaupt nur Versuche zu unternehmen, den Inhalt des finnischen Gesetzes vom 17. Jänner 1936, Nr.52, über den Kinderschutz zu ermitteln, in dem die Voraussetzungen, unter denen den Erziehungsberechtigten das Erziehungsrecht entzogen werden kann, geregelt sind. Wurden überhaupt keine Versuche unternommen, den Inhalt dieser maßgebenden Rechtsnorm festzustellen, so kann gesetzeskonform weder eine Entscheidung unter Anwendung des finnischen Rechtes (wie es die erste Instanz tat) noch eine solche nach österreichischem Recht unter Berufung auf § 4 Abs.2 IPRG erfolgen (wie es die zweite Instanz tat). Die Beschaffung dieser Norm wäre den Vorinstanzen im Wege einer Rechtsauskunft des Bundesministeriums für Justiz gemäß § 41 RHE. Ziv.1986, JABl Nr.53, möglich gewesen (siehe ON 58). Die Unterlassung dieser Vorgangsweise stellt nicht einen im Verfahren über einen Revisionsrekurs nach § 16 AußStrG nicht wahrnehmbaren Verfahrensmangel dar, sondern die offenbar unrichtige Anwendung der materiellrechtlichen Bestimmung des § 4 Abs.2 IPRG durch die zweite Instanz, bzw. des § 27 Abs.1 IPRG durch die erste Instanz. Die Unterlassung der Feststellung des maßgebenden ausländischen Rechtes führt zur Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen (ZfRV 1977, 292), weil erst nach Feststellung der maßgeblichen Normen des finnischen Rechtes und allenfalls dadurch notwendig werdender Ergänzungen der Sachverhaltsgrundlage beurteilt werden kann, in welchem Umfang der Mutter eines unehelichen Kindes Sorge- und Vormundschaftsrecht entzogen werden können, inwieweit allenfalls bestehende finnische Regelungen dem österreichischen ordre public widersprechen, sowie ob nicht - bei längerdauernder Erfolglosigkeit bei Ermittlung des finnischen Rechtes trotz geeigneter Schritte hiezu - doch gemäß § 4 Abs.2 IPRG österreichisches Recht anzuwenden ist. Derzeit bietet die Verfahrenslage keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Entscheidung (z.B. wegen Gefährdung des Kindeswohles) nicht wegen der Notwendigkeit geeigneter Schritte zur Ermittlung finnischen Rechtes aufgeschoben werden könnte.

Es war daher wie im Spruch zu entscheiden.

Anmerkung

E18541

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1989:0050OB00604.89.0919.000

Dokumentnummer

JJT_19890919_OGH0002_0050OB00604_8900000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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