Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Kropfitsch und Dr. Schwarz als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj. Stefan K***, geboren am 1. September 1980, Schüler, Ingeborg-Bachmann-Straße 20, 4600 Wels, vertreten durch Dr. Karl Reiter, Rechtsanwalt in Wels, wider die beklagten Parteien 1) Adolf K***, Kraftfahrer,
Billrothstraße 155, 4600 Wels, 2) Firma T*** Gebrüder
B*** KG, Negrellistraße 36, 4600 Wels, und 3) G***
W*** V***, Herrengasse 18-20, 8010 Graz, alle
vertreten durch Dr. Heinz Oppitz und Dr. Heinrich Neumayr, Rechtsanwälte in Linz, wegen S 501.000,- s.A. und Feststellung (S 50.000,-), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes vom 20. April 1989, GZ 13 R 106/88-42, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wels vom 21. Oktober 1988, GZ 2 Cg 218/87-34, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil, das im Umfang der Abweisung des gegen die erstbeklagte Partei gerichteten Klagebegehrens und der Entscheidung über das gegen die zweit- und die drittbeklagte Partei gerichteten Feststellungsbegehrens bestätigt wird, wird im Umfang des Abspruchs über das gegen die zweit- und die drittbeklagte Partei gerichteten Leistungsbegehrens dahin abgeändert, daß die Entscheidung in diesem Umfang zu lauten hat:
Die zweit- und die drittbeklagte Partei sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei den Betrag von S 401.000,- samt 4 % Zinsen aus S 301.000,- vom 10.6.1987 bis 15.9.1988 und aus S 401.000,- seit 16.9.1988 binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen. Das Mehrbegehren der klagenden Partei, die zweit- und die drittbeklagte Partei zur ungeteilten Hand zur Zahlung eines weiteren Betrags von S 100.000,- samt 4 % Zinsen seit 16.9.1988 zu verurteilen, wird abgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der erstbeklagten Partei die mit S 28.197,03 bestimmten Kosten des Verfahrens in erster Instanz (darin Umsatzsteuer von S 2.153,33 und Barauslagen von S 4.510,33), die mit S 16.684,29 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin Umsatzsteuer von S 2.176,21, keine Barauslagen) und die mit S 10.438,93 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin Umsatzsteuer von S 1.739,82, keine Barauslagen) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Die zweit- und die drittbeklagte Partei sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei an Kosten des Verfahrens in erster Instanz den Betrag von S 41.926,47 (darin Umsatzsteuer von S 3.811,50, keine Barauslagen), an Kosten des Berufungsverfahrens den Betrag von S 2.892,69 (darin Umsatzsteuer von S 392,83, keine Barauslagen) und an Kosten des Revisionsverfahrens den Betrag von S 1.541,75 (darin Umsatzsteuer von S 256,96, keine Barauslagen) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 17.12.1986 ereignete sich gegen 7,45 Uhr im Ortsgebiet von Wels auf der Negrellistraße auf Höhe des Hauses Nr 7 ein Verkehrsunfall, an dem der am 1.9.1980 geborene Kläger als Fußgänger und der Erstbeklagte als Lenker des LKW mit dem Kennzeichen O-596.695 beteiligt waren. Die Zweitbeklagte ist der Halter, die Drittbeklagte der Haftpflichtversicherer dieses Kraftfahrzeugs. Der Kläger stürzte am Schulweg vom Gehsteig auf die Fahrbahn und wurde vom LKW überrollt. Dabei wurde er schwer verletzt. Ein wegen dieses Verkehrsunfalls gegen den Erstbeklagten zu 16 U 220/87 des Bezirksgerichtes Wels eingeleitetes Strafverfahren wurde gemäß § 90 StPO eingestellt.
Im vorliegenden Rechtsstreit begehrte der Kläger aus dem Rechtsgrund des Schadenersatzes aus diesem Verkehrsunfall die Verurteilung der Beklagten zur ungeteilten Hand zur Zahlung von S 501.000,- sA (Schmerzengeld S 500.000,- und Sachschaden S 1.000,-); überdies stellte er ein auf Feststellung der Haftung der Beklagten für seine künftigen Unfallschäden gerichtetes Feststellungsbegehren. Er stützte sein Begehren dem Grunde nach im wesentlichen darauf, daß der Erstbeklagte den Unfall dadurch allein verschuldet habe, daß er eine überhöhte Fahrgeschwindigkeit und einen zu geringen Seitenabstand zum rechten Gehsteigrand eingehalten und kein akustisches Warnsignal abgegeben habe, als der Kläger mit weiteren Volksschulkindern auf dem schmalen Gehsteig in Fahrtrichtung des Erstbeklagten gelaufen sei. Der Kläger sei auf Höhe eines den Gehsteig verengenden Lichtmasts gestolpert, auf die Fahrbahn gestürzt und dort vom LKW überrollt worden. Hilfsweise wurde das Klagebegehren auf die Bestimmungen des EKHG gestützt. Die beim Unfall erlittenen Verletzungen rechtfertigten den Zuspruch eines Schmerzengeldes von S 500.000,- an den Kläger. Die Beklagten wendeten im wesentlichen ein, daß der Unfall für den Erstbeklagten ein unabwendbares Ereignis gewesen sei, an dem ihn keinerlei Verschulden treffe. Der Erstbeklagte habe trotz Anwendung jeder erdenklichen Sorgfalt und Aufmerksamkeit den Unfall nicht verhindern können. Der Kläger habe sich bis zum Unfall völlig unauffällig verhalten; er sei aus eigener Unachtsamkeit zu Sturz gekommen und dadurch in die Fahrbahn des LKW geraten. Das verlangte Schmerzengeld sei überhöht.
Die Höhe des dem Kläger zugefügten Sachschadens (S 1.000,-) ist ebenso wie sein Feststellungsinteresse nicht mehr strittig. Das Erstgericht verurteilte die Zweit- und die Drittbeklagte zur ungeteilten Hand zur Zahlung von S 251.000,- sA an den Kläger; es stellte fest, daß die Zweit- und die Drittbeklagte dem Kläger für alle künftigen Schäden aus diesem Verkehrsunfall bis zu den Haftungshöchstbeträgen gemäß den §§ 15 und 16 EKHG, die Drittbeklagte darüber hinaus nur im Rahmen des für das Fahrzeug im Unfallszeitpunkt bestehenden Haftpflichtversicherungsvertrags, ersatzpflichtig sind. Das Mehrbegehren des Klägers wies es ab. Das Erstgericht stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:
Die Negrellistraße verläuft in Nord-Süd-Richtung. Die Breite der Asphaltfahrbahn beträgt 7 m. An die Ränder der Asphaltfahrbahn schließen zu beiden Seiten schmale gepflasterte Rigole an, sodaß sich zwischen den Gehsteigrändern eine Breite von 7,3 m ergibt. Der rechtsseitige Gehsteig - in Fahrtrichtung Norden gesehen - hat zunächst eine Breite von 1,5 m. Er verengt sich auf die Unfallstelle zu auf eine Breite von 1,3 m. Durch einen an der Fahrbahn abgewandten Rand stehenden Lichtmast ist der Gehsteig auf Höhe dieses Lichtmasts nur in einer Breite von 1 m begehbar. Zur Unfallszeit herrschte Tageslicht; der Himmel war bewölkt. Die Fahrbahn der Negrellistraße und der Asphaltbelag der zu beiden Seiten anschließenden Gehsteige waren naß.
Der Kläger besuchte zur Unfallszeit die erste Klasse der Volksschule. Er war in der ersten Schulwoche von seiner Mutter zur Schule begleitet worden; in der Folge war er stets ohne Begleitung erwachsener Personen zur Schule gegangen. Er hatte vor dem Unfall im Rahmen der schulischen Verkehrserziehung einen kurzen Einführungsunterricht in das Verhalten beim Überqueren von Straßen erhalten. Dabei war dem Kläger erklärt worden, daß er vor dem Überqueren einer Straße darauf zu achten habe, daß kein Fahrzeug herannaht.
Am Unfallstag befand sich der Kläger mit seinem ca 7 1/4 Jahre alten Bruder Martin und einigen anderen Volksschülern auf dem Weg zur Schule. Er ging am östlichen Gehsteig der Negrellistraße in nördlicher Richtung. Neben dem Kläger bzw. leicht schräg nach vorne bzw hinten versetzt gingen die 8 1/4 Jahre alten Schüler Sandro J*** und Rene V*** gleichfalls auf dem östlichen Gehsteig der Negrellistraße in nördlicher Richtung. Knapp dahinter folgte der Bruder des Klägers. In einiger Entfernung vor dem Kläger gingen die 11-jährige Sandra A***, der 10-jährige Robert A*** und die 8 1/2-jährige Jasmin K*** gleichfalls auf dem östlichen Gehsteig der Negrellistraße in nördlicher Richtung. Die meisten dieser Kinder, darunter jedenfalls der Kläger, trugen ihre Schultaschen am Rücken.
Zur gleichen Zeit fuhr der Erstbeklagte mit dem 2,5 m breiten und ca 8 m langen LKW der Zweitbeklagten auf der Negrellistraße in nördlicher Richtung. Als er rund 30 m vor der Einmündung der Billingerstraße in die Negrellistraße fuhr, sah er die vom nördlichen Gehsteig der Billingerstraße in den östlichen Gehsteig der Negrellistraße einbiegenden Kinder. Er hielt zu diesem Zeitpunkt eine Geschwindigkeit von ca 40 km/h ein. Der Erstbeklagte, der bereits vor Ansichtigwerden der Kinder begonnen hatte, seine Geschwindigkeit von vormals rund 48 km/h durch Gaswegnehmen zu reduzieren, verzögerte das von ihm gelenkte Fahrzeug weiter vorerst durch Gaswegnehmen auf eine Geschwindigkeit von rund 23 km/h und schließlich durch Betätigung der Betriebsbremse bis zum Stillstand. Er hielt den LKW vorerst mit der Front ca 8 m vor dem beschriebenen Lichtmast aus ungeklärten Gründen an. Er blieb in der Folge durch eine Zeitspanne von ca 12 Sekunden stehen und fuhr anschließend ohne Abgabe eines akustischen Warnzeichens leicht beschleunigend wieder los.
Während der Stillstandszeit des LKW gingen der Kläger sowie Sandro J*** und Rene V*** am östlichen Gehsteig der Negrellistraße am Fahrzeug vorbei bzw begannen sie, am LKW vorbeizugehen. Anschließend begann der Kläger auf dem östlichen Gehsteig der Negrellistraße in nördlicher Richtung zu laufen. Es kann nicht festgstellt werden, ob der Erstbeklagte vor oder während des Losfahrens den Kläger bei gehöriger Aufmerksamkeit durch die Windschutzscheibe des LKW oder einen der beiden Außenspiegel hätte sehen können. Der Erstbeklagte konnte den östlichen Gehsteig der Negrellistraße nur bis zu einem Bereich etwa 2 m vor der Windschutzscheibe des LKW direkt einsehen. Durch den zweiten rechten Außenspiegel des LKW hätte der Erstbeklagte den Bereich bis auf Höhe der Vorderachse des LKW einsehen können.
Der Kläger streifte mit seiner Schultasche den am Gehsteig stehenden Lichtmast, verlor das Gleichgewicht und stürzte auf die Fahrbahn. Es kam etwa 7 Sekunden nach dem Losfahren des LKW und einer zurückgelegten Wegstrecke des LKW von 11 bis 12 m bei einer Geschwindigkeit des LKW von ca 10 km/h etwa auf Höhe des Lichtmasts ca 3 m hinter der Front des LKW zu einer Berührung des Klägers mit dem rechten Tank des LKW. Nach einer Fahrtstrecke von weiteren 2 bis 3 Metern wurde der Kläger von den rechten Hinterreifen des LKW überrollt. Zum Zeitpunkt der Kollision mit dem Kläger hielt der LKW einen Seitenabstand von 0,5 m zur Gehsteigkante des östlichen Gehsteigs der Negrellistraße ein.
Der Erstbeklagte konnte auf das Stolpern des Klägers nicht wirksam reagieren.
Hätte der Erstbeklagte einen Seitenabstand von 1,15 m zur Gehsteigkante des östlichen Gehsteigs der Negrellistraße eingehalten, wäre der Unfall möglicherweise unterblieben. Bei einem Seitenabstand von 1,5 m zur Gehsteigkante wäre es sicher zu keiner Berührung zwischen dem Kläger und dem LKW gekommen. Es kann nicht festgestellt werden, daß zum Unfallszeitpunkt für den Erstbeklagten Gegenverkehr herrschte oder daß am linken Fahrbahnrand der Negrellistraße ein Fahrzeug stand.
Der Kläger erlitt bei diesem Unfall eine Hirnprellung und Hirnquetschung mit Sprengung der linken Lambdanaht und mit Erblindung des linken Auges, eine Brustkorbprellung und Brustkorbquetschung mit beidseitiger Lungenaspiration, beidseitiger Blutbrust und Gasbrust, einen Bruch des linken oberen und unteren Schambeinasts sowie eine Lockerung des rechten Kreuzdarmbeingelenks, eine Weichteilquetschung in der Gesäßgegend mit nachfolgender Hautnekrose sowie einen Unfallschock.
Die Verletzungen waren vorübergehend lebensbedrohlich. Der Kläger wurde nach dem Unfall in die Unfallabteilung des Krankenhauses Wels gebracht, wo sofort mit einer Schockbekämpfung begonnen wurde. Es wurde eine Infusionsbehandlung durchgeführt und der Kläger auch beatmet. Sodann wurde eine Drainage in die linke Brustkorbhöhle eingelegt und eine bronchoskopische Untersuchung durchgeführt, bei der eine Blutung aus dem rechten Oberlappen festgestellt wurde. Es wurde sodann auch eine Drainage in die rechte Brustkorbhöhle eingebracht und der Kläger beatmet. Zur Flüssigkeitsbilanzierung wurden ein Venenkatheter und ein Blasenkatheter eingebracht. Am 23.12.1986 wurde der Bluterguß in der Gesäßregion ausgeräumt, am Tag danach die Drainage aus der rechten Brustkorbhöhle und zwei weitere Tage später die Drainage aus der linken Brustkorbhöhle entfernt. Ab dem 28.12.1986 wurde der Kläger vom Beatmungsgerät entwöhnt und am 1.1.1987 zur weiteren Behandlung von der Intensivpflegestation an die Unfallabteilung verlegt. Nach Demarkierung der Hautnekrose wurde am 20.1.1987 das abgestorbene Gewebe in der Gesäßregion entfernt und der entstandene Hautdefekt mit Spalthaut gedeckt. Nach Einheilen der Spalthaut wurde ein kleiner Restdefekt mit Umschlägen zur Abheilung gebracht. Am 6.2.1987 wurde der Kläger in häusliche Pflege entlassen. Nach ambulanten Kontrollen im Krankenhaus folgten noch Kontrollen bei einem Augenarzt. Ab 22.4.1987 besuchte der Kläger wieder die Schule, konnte jedoch die erste Klasse Volksschule nicht positiv abschließen, sodaß er sie wiederholen mußte.
Der Unfall führte zu einer völligen Erblindung des linken Auges; es bestehen nach wie vor auch Veränderungen im EEG. Der Kläger ist seit dem Unfall vergeßlich und leidet fallweise an Kopfschmerzen. Es besteht eine relativ ausgedehnte Narbe und ein spalthautgedecktes Feld in der rechten Gesäßgegend mit Übergreifen auf die linke Gesäßgegend, wobei die Spalthaut teilweise zart und verletzlich, teilweise jedoch auch derb ist. Die Unfallsfolgen sind einer dauernden Minderung der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von 30 % gleichzusetzen. Spätfolgen des Unfalls im Sinne von medizinischen Komplikationen sind möglich. Die spalthautgedeckten Felder in der Gesäßgegend sind teilweise zart und verletzlich, sodaß Sekundärschäden nicht auszuschließen sind. Bei dem Unfall kam es auch zu einer Dehnung der Kreuzdarmbeingelenke; die Schambeinbrüche sind mit geringer Verschiebung der Schamfuge geheilt. Es ist nicht auszuschließen, daß es im Rahmen des weiteren Größenwachstums des Klägers zu einer Zunahme der Verschiebung der beiden Beckenhälften gegeneinander und damit zu einer funktionellen Verkürzung eines Beins oder zu einer vorzeitigen Arthrose der Kreuzdarmbeingelenke kommt. Nach der Schädel-Hirnverletzung ist das Auftreten einer posttraumatischen Spätepilepsie möglich. Unmittelbar nach dem Unfall bestand für den Kläger durch einige Tage hindurch Lebensgefahr. Insgesamt hatte der Kläger verletzungsbedingt zwei Tage sehr starke bzw quälende Schmerzen, 10 bis 12 Tage starke Schmerzen, drei Wochen mittelstarke Schmerzen und vier Monate leichte Schmerzen zu ertragen. Der Verlust des Sehvermögens am linken Auge führt auch zu psychischen Beeinträchtigungen. Unfallsunabhängig leidet der Kläger an einer Sehstörung des rechten Auges. An diesem Auge besteht ein geringer Astigmatismus und beträgt das Sehvermögen lediglich sechs Zwölftel. Ob eine völlige Wiederherstellung der intellektuellen Leistungsfähigkeit eintreten wird, kann frühestens in oder nach Abschluß der Pubertät des Klägers geklärt werden.
Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt im wesentlich dahin, daß dem Erstbeklagten ein Verschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls nicht angelastet werden könne, weil er weder eine überhöhte Fahrgeschwindigkeit noch einen zu geringen Seitenabstand von der rechten Gehsteigkante eingehalten habe, zumal für die Verschuldensprüfung davon auszugehen sei, daß der Kläger unauffällig am Gehsteig gegangen sei, sodaß der Erstbeklagte nicht damit rechnen habe müssen, daß der Kläger plötzlich vom Gehsteig auf die Fahrbahn treten oder stürzen werde. Auch die Nichtabgabe eines Hupsignals begründe kein Verschulden des Erstbeklagten, weil ein solches Warnzeichen nicht geeignet gewesen wäre, den Unfall zu verhindern. Mangels Verschuldens scheide eine Haftung des Erstbeklagten für die Unfallsfolgen aus. Dagegen sei den Beklagten der Beweis, daß der Unfall für den Erstbeklagten ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 Abs 2 EKHG gewesen sei, nicht gelungen. Deshalb hafteten die Zweit- und die Drittbeklagte dem Kläger nach dem EKHG für die Unfallsfolgen. Ein Eigenverschulden des Klägers sei auszuschließen, weil er erst 6 1/4 Jahre alt gewesen sei, keine hinreichende Erfahrung im Straßenverkehr gehabt habe und sich der damit verbundenen Gefahren nicht bewußt gewesen sei. Seine Unvorsichtigkeit beim Laufen am Gehsteig und das Stürzen vom Gehsteig auf die Fahrbahn könne dem Kläger nicht als Verschulden angelastet werden. Mit Rücksicht auf die beim Unfall eingetretenen gesundheitlichen Schäden und Folgen sei ein Schmerzengeld von S 250.000,- angemessen. Da unfallsbedingte Dauerfolgen nicht auszuschließen seien, sei auch das Feststellungsbegehren berechtigt; die Haftung der Zweit- und der Drittbeklagten sei betragsmäßig auf die Haftungshöchstbeträge nach dem EKHG einzuschränken. Der gegen diese Entscheidung des Erstgerichts gerichteten Berufung des Klägers gab das Berufungsgericht mit dem angefochtenen Urteil keine Folge. Es sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstands, über den es entschieden hat, hinsichtlich jeder der beklagten Parteien S 300.000,- übersteigt.
Das Berufungsgericht stellte zusätzlich fest, daß beim Kläger am linken Auge ein geringes Auswärtsschielen besteht. Im übrigen übernahm es die Feststellungen des Erstgerichts.
Rechtlich führte es im wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, ob der Erstbeklagte vor dem Losfahren den Kläger bei gehöriger Aufmerksamkeit durch die Windschutzscheibe oder durch einen der beiden Außenspiegel am LKW sehen hätte können. Bei Prüfung der Verschuldenshaftung des Erstbeklagten sei von der für ihn günstigeren Version auszugehen, nämlich daß er beim Wiederanfahren den Kläger auch bei gehöriger Aufmerksamkeit durch die Windschutzscheibe oder einen der beiden Außenspiegel am LKW nicht sehen hätte können. Wenn man in Betracht ziehe, daß der LKW die auf dem Gehsteig in gleicher Richtung zunächst gehende Kindergruppe mit dem Kläger überholt habe und sodann 12 Sekunden lang stehengeblieben sei, sei zu unterstellen, daß den Kindern während dieser Zeit dieses Fahrzeug sicher nicht verborgen bleiben konnte, weil sie es ja hörten und während der ganzen Zeit, als sie gleichsam wieder auf Höhe des LKW kamen, diesen auch im Blickfeld hatten, sodaß eine Kontaktaufnahme mittels Hupzeichens zu diesem Zeitpunkt nicht erforderlich gewesen sei. Wenn aber weiters davon auszugehen sei, daß beim Wiederanfahren der Erstbeklagte die nachlaufenden Kinder gar nicht mehr ins Blickfeld bekam, sondern sie zuletzt als am Gehsteig in die gleiche Richtung gehend wahrgenommen hatte, habe er vor dem Wiederanfahren auch kein Hupzeichen mehr abzugeben brauchen, weil er nicht damit rechnen habe müssen, daß die Kinder etwa in der Zwischenzeit in den Gefahrenbereich seines stehenden Fahrzeugs gelangt sein könnten. Die Nichtabgabe eines akustischen Warnzeichens begründe daher keinen Schuldvorwurf. Ähnliche Überlegungen hätten auch für die Einhaltung des Seitenabstands von 0,5 m zum Gehsteigrand zu gelten. Dieser Abstand sei zum Passieren der Kindergruppe jedenfalls ausreichend gewesen, weil die Kinder sich ja auf dem Gehsteig befunden hätten und zunächst kein Anlaß zur Annahme vorgelegen sei, sie würden den Gehsteig verlassen. Nach dem Wiederanfahren aus der Stillstandsposition habe für den Erstbeklagten deshalb keine Veranlassung zu einer sofortigen Vergrößerung des Abstands zum rechten Gehsteigrand bestanden, weil zu seinen Gunsten davon auszugehen sei, daß er die aufschließenden und im Bereich seines Fahrzeugs vorbeilaufenden Kinder nicht sehen konnte und deshalb auch nicht damit zu rechnen brauchte, ein von rückwärts heranlaufendes Kind würde vom Gehsteig stürzen und auf diese Art in die Fahrlinie seines Fahrzeugs geraten. Die vom Erstbeklagten gewählte Fahrlinie verstoße daher auch nicht gegen die Bestimmung des § 7 Abs 1 StVO. Der Vorwurf des Einhaltens einer überhöhten Geschwindigkeit werde in der Berufung ohnehin nicht mehr erhoben.
Dem Erstbeklagten sei daher kein Verschulden am Zustandekommen dieses Verkehrsunfalls anzulasten.
Die Bemessung des dem Kläger zugesprochenen Schmerzengelds mit S 250.000,- sei zu billigen. Die beim Kläger möglichen Spätfolgen (funktionelle Verkürzung eines Beins, Arthrose der Kreuzdarmbeingelenke und posttraumatische Spätepilepsie) könnten bei der Schmerzengeldbemessung nicht berücksichtigt werden, weil mit dem Schmerzengeld nur abzugelten sei, was an Beeinträchtigungen im Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung in erster Instanz als Folge vorhersehbar und in den Auswirkungen überschaubar sei. Ob die möglichen Spätfolgen tatsächlich eintreten würden, sei nicht absehbar. Mögliche, aber nicht vorhersehbare Spätfolgen müßten bei der Schmerzengeldbemessung zunächst außer Betracht bleiben. Auch für seelische Schmerzen gebühre Schmerzengeld. Schmerzengeld sei auch für die mit dem unfallsbedingten Verlust des linken Auges verbundenen, das ganze Leben des Klägers begleitenden seelischen Beeinträchtigungen zuzusprechen. Es sei allerdings zu berücksichtigen, daß in annähernd vergleichbaren Fällen ein wesentlich geringeres Schmerzengeld zugesprochen worden sei, als es der Kläger verlange. Mit dem vom Erstgericht zugesprochenen Schmerzengeldbetrag seien alle seelischen und körperlichen derzeit überschaubaren Unfallsfolgen beim Kläger in angemessener Weise abgegolten.
Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die Revision des Klägers. Er bekämpft sie in ihrem klagsabweisenden Teil aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, allenfalls es dahin abzuändern, "daß seiner Berufung gegen das Ersturteil Folge gegeben und seinem Klagebegehren vollinhaltlich stattgegeben werde".
Die Beklagten haben eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag erstattet, der Revision des Klägers keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig und sachlich teilweise berechtigt. Soweit der Kläger mit seinen Revisionsausführungen allerdings darzutun versucht, daß dem Erstbeklagten ein Verschulden an dem hier zu beurteilenden Verkehrsunfall anzulasten sei, kann ihm nicht gefolgt werden. Mit seinen diesbezüglichen Rechtsmittelausführungen bekämpft der Kläger weitgehend in im Revisionsverfahren unzulässiger Weise die Richtigkeit der Feststellungen der Vorinstanzen; er geht in weitem Umfang nicht von den Feststellungen der Vorinstanzen aus. Insoweit ist die Rechtsrüge des Klägers nicht dem Gesetz gemäß ausgeführt und kann dazu nicht Stellung genommen werden. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Behauptungs- und Beweislast für die Tatumstände, aus denen ein die Haftung für die Unfallsfolgen begründendes Verschulden des Erstbeklagten abgeleitet wird, den Kläger trifft und daß jede in dieser Richtung verbleibende Unklarheit in tatsächlicher Hinsicht zu Lasten des Klägers geht (ZVR 1985/153 mwN uva).
Da im vorliegenden Fall nicht festgestellt werden konnte, ob der Erstbeklagte, als er den von ihm gelenkten LKW nach dem 12 Sekunden dauernden Anhalten wieder in Bewegung setzte, auch bei gehöriger Aufmerksamkeit die Kindergruppe, die sich anschickte, auf dem rechten Gehsteig am LKW vorbeizugehen, überhaupt hätte sehen können, kann ihm keinesfalls die schuldhafte Übertretung von Verkehrsvorschriften angelastet werden, wenn er den LKW ohne Abgabe eines Warnzeichens mit einem Seitenabstand vom rechten Gehsteig von 0,5 m wieder in Bewegung setzte und bis zum Unfall auf eine Geschwindigkeit von ca 10 km/h beschleunigte, zumal für ihn bei der gegebenen und für ihn wahrnehmbaren Verkehrssituation keinerlei Grund für die Annahme bestand, daß eines der von ihm früher wahrgenommenen, am Gehsteig befindlichen Kinder in gefährliche Nähe des LKW kommen könnte.
Mit Recht haben die Vorinstanzen unter diesen Umständen eine Verschuldenshaftung des Erstbeklagten für die Unfallsfolgen verneint und demgemäß das gegen den Erstbeklagten gerichtete Klagebegehren abgewiesen.
Daß die Zweit- und die Drittbeklagte für die dem Kläger zugefügten Schäden nach den Bestimmungen des EKHG einzustehen haben, wird von ihnen nicht bestritten.
Mit Recht wendet sich der Kläger aber gegen die von den Vorinstanzen vorgenommene Schmerzengeldbemessung.
Für die Bemessung des Schmerzengeldes sind die Dauer und die Intensität der Schmerzen nach deren Gesamtbild, die Schwere der Verletzung und die Schwere der Beeinträchtigung des Gesundheitszustands maßgebend (ZVR 1983/125; ZVR 1986/5 uva). Die bei der Schmerzengeldbemessung gebotene Berücksichtigung der Umstände des vorliegenden Einzelfalls läßt fast immer einen Vergleich mit Schmerzengeldzusprüchen in anderen Fällen problematisch erscheinen; dies gilt auch für die vom Berufungsgericht zitierten Entscheidungen, die zum Teil schon längere Zeit zurückliegen und auch hinsichtlich der dort beurteilten Verletzungen nicht mit dem vorliegenden Fall ohne weiteres vergleichbar sind.
Hier steht im Vordergrund, daß der Kläger bei dem Unfall eine Mehrzahl von schweren Verletzungen erlitt, durch die er in einen zunächst lebensbedrohenden und qualvollen Zustand versetzt wurde. Wenn auch die dem Kläger zugefügten schweren körperlichen Verletzungen - wohl bedingt durch sein jugendliches Alter - in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum abheilten, verblieben doch beträchtliche und schwerwiegende Folgen, so eine (derzeit noch nicht abschließend beurteilbare) Verminderung seiner intellektuellen Leistungsfähigkeit (Vergeßlichkeit, fallweise Kopfschmerzen) und vor allem eine völlige Erblindung seines linken Auges. Gerade der letztgenannten Dauerfolge muß um so höheres Gewicht beigemessen werden, als der Kläger unabhängig vom Unfall an einer Sehstörung des rechten Auges leidet und an diesem Auge sein Sehvermögen lediglich sechs Zwölftel beträgt. Zieht man Art und Ausmaß der dem Kläger zugefügten somatischen Schmerzen und das Ausmaß der mit den verbleibenden Dauerfolgen zweifellos verbundenen seelischen Beeinträchtigung des Klägers in Betracht, dann kann nach den Umständen des vorliegenden Falls mit dem dem Kläger von den Vorinstanzen zugesprochenen Schmerzengeld von S 250.000,- nicht das Auslangen gefunden werden. Der erkennende Senat hält vielmehr nach diesen hier gegebenen Umständen ein Schmerzengeld von S 400.000,-
zur Abgeltung der derzeit überschaubaren Folgen der dem Kläger zugefügten Verletzungen für erforderlich, aber auch für ausreichend. Es war daher in teilweiser Stattgebung der Revision des Klägers wie im Spruch zu entscheiden.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens in erster Instanz beruht auf den §§ 43 Abs 1 und Abs 2, 46 Abs 1 ZPO, die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens auf den §§ 43 Abs 1, 46 Abs 1, 50 ZPO.
Anmerkung
E18493European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1989:0020OB00082.89.0926.000Dokumentnummer
JJT_19890926_OGH0002_0020OB00082_8900000_000