TE OGH 1989/10/10 10ObS274/89

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Veröffentlicht am 10.10.1989
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Angst und Dr. Kellner als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Franz Köck (Arbeitgeber) und Wilhelm Hackl (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Vasilije B***, Ebersdorf 14, 3200 Obergrafendorf, vertreten durch Dr. Rudolf Müller, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A***, Roßauer

Lände 3, 1092 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 7. April 1989, GZ 31 Rs 65/89-34, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 20. Dezember 1988, GZ 32 Cgs 1001/87-31, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Die Revisionskosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1. Juli 1986 eine Invaliditätspension in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Es traf folgende wesentliche Feststellungen:

Der am 5. September 1922 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er hat in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag als Hilfsarbeiter gearbeitet und 115 Beitragsmonate erworben. Er kann leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen, Stehen und Gehen in der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Pausen verrichten. Schwere Arbeiten sind nicht möglich. Auf einfache Hilfsarbeiten ist der Kläger jedenfalls umstellbar. Der derzeitige Zustand besteht seit Antragstellung und ist nicht besserungsfähig. Wegen seiner Wirbelsäulenbeschwerden befand sich der Kläger 1987 insgesamt drei Monate im Krankenstand. Da sein Wirbelsäulenleiden nicht mehr wesentlich besserungsfähig ist, ist anzunehmen, daß er auch in Hinkunft Krankenstände etwa im selben Ausmaß in Anspruch nehmen wird. Der Kläger ist noch in der Lage, als Park- und Gartenanlagenreiniger, Pferdepfleger oder Straßenreiniger zu arbeiten.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, die Invalidität des Klägers, der das 55. Lebensjahr schon vollendet hat, sei nach § 255 Abs.3 ASVG zu beurteilen, weil er am Stichtag nicht 180 Versicherungsmonate erworben habe. Auf Grund seines Leistungskalküls und der möglichen Verweisungstätigkeiten wäre der Kläger an sich nicht als invalid anzusehen, es könne jedoch einem Dienstgeber nicht zugemutet werden, einen krankheitsbedingten Ausfall eines Arbeitnehmers von mehr als eineinhalb bis zwei Monaten pro Jahr hinzunehmen. Da der Kläger 1987 drei Monate im Krankenstand gewesen sei und nach dem chirurgischen Gutachten anzunehmen sei, daß auch in Zukunft Krankenstände in ähnlichem Ausmaß auftreten werden, sei der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr verweisbar.

Das Berufungsgericht gab der wegen Aktenwidrigkeit, Mangelhaftigkeit des Verfahrens - inhaltlich wurde eine Beweisrüge ausgeführt - und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil im Sinne einer Klageabweisung ab.

Lang andauernde oder häufige Krankenstände könnten zwar bewirken, daß der einem Versicherten verbleibende Rest an Arbeitsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt unverwertbar werde. Soweit aber zur Begründung eines solchen Ausschlusses vom Arbeitsmarkt in der Zukunft zu erwartende Krankenstände herangezogen würden, könne nur eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, daß beim Versicherten Krankenstände in einer größeren Häufung zu erwarten seien, Invalidität begründen. Daß beim Kläger in Zukunft derartige Krankenstände "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" eintreten würden, stehe nicht fest. Die Feststellung, daß solche "möglich bis wahrscheinlich" seien oder daß sie "anzunehmen" seien, reiche für die Annahme eines künftigen Ausschlusses vom allgemeinen Arbeitsmarkt nicht aus.

Die wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Revision des Klägers ist im Sinne des gestellten Aufhebungsantrages berechtigt. Das Erstgericht hat festgestellt, daß der Kläger wegen seiner Wirbelsäulenbeschwerden sich 1987 (nach der Auskunft der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse richtig wohl im Zeitraum Oktober 1986 bis September 1987) insgesamt drei Monate im Krankenstand befand und daß, weil dieses Leiden nicht mehr wesentlich besserungsfähig ist, anzunehmen ist, daß er auch in Hinkunft Krankenstände etwa in dem selben Ausmaß in Anspruch nehmen wird. In der Beweiswürdigung wurde dazu ausgeführt, daß die Prognose des chirurgischen Sachverständigen, es sei wegen der Wirbelsäulenbeschwerden des Klägers drei bis fünf Mal jährlich mit mehrwöchigen Krankenständen zu rechnen, durch die Krankenstände des Klägers im Jahr 1987 bestätigt werde.

Die beklagte Partei hat - zwar unter den unrichtig bezeichneten Berufungsgründen der Aktenwidrigkeit und der Mangelhaftigkeit des Verfahrens - in ihrer Berufung die Beweiswürdigung des Erstgerichtes bekämpft und auf den nach ihrer Meinung vorhandenen Widerspruch zwischen den Ausführungen des Sachverständigen, der die Krankenstände des Klägers nur als möglich bis wahrscheinlich bezeichnet habe, und der Feststellung des Erstgerichtes, die eine solche Einschränkung nicht enthalte, hingewiesen. Das Berufungsgericht hat die Feststellungen des Erstgerichtes übernommen, ohne die Beweisrüge der beklagten Partei zu erledigen und hat in seiner rechtlichen Beurteilung ohne entsprechendes Feststellungssubstrat aus den Ausführungen des chirurgischen Sachverständigen unterstellt, künftige Krankenstände seien nur "möglich bis wahrscheinlich" oder nur "anzunehmen". Es trifft zu, daß häufige oder lang andauernde Krankenstände bewirken können, daß der einem Versicherten verbliebene Rest an Arbeitsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt unverwertbar wird. Es darf zwar nicht übersehen werden, daß eine absolut sichere Aussage zur Frage künftiger Krankenstände medizinisch oft nicht möglich ist, daß aber ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit gefordert werden muß. Wenn der Sachverständige auf die bestehenden Zweifelsfragen hinweist, so muß er diese doch mit hoher naturwissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit beseitigen. Hiezu würde eine Aussage, daß Krankenstände "möglich bis wahrscheinlich sind", nicht ausreichen. Es kann auch nicht darauf ankommen, ob der Versicherte Krankenstände "in Anspruch nimmt", sondern nur darauf, ob diese aus medizinischer Sicht auch notwendig sind.

Rechtliche Beurteilung

Da das Berufungsgericht von einer gar nicht getroffenen Feststellung ausgehend die Beweisrüge der beklagten Partei nicht erledigt hat, ist das Berufungsverfahren mangelhaft geblieben. Sollte das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangen, daß Krankenstände des Klägers von rund drei Monaten im Jahr nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, wird im Hinblick auf die unerledigten Beweisanträge der klagenden Partei auch zu prüfen sein, ob die übrigen Entscheidungsgrundlagen zur Beurteilung der Invalidität des Klägers ausreichen.

Es war daher in Stattgebung der Revision wie im Spruch zu entscheiden.

Die Entscheidung über den Vorbehalt der Revisionskosten beruht auf § 52 ZPO.

Anmerkung

E18752

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1989:010OBS00274.89.1010.000

Dokumentnummer

JJT_19891010_OGH0002_010OBS00274_8900000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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