Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Samsegger als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schobel, Dr. Melber, Dr. Schlosser und Dr. Redl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Kinder 1) Nicola B***, geboren am 24. April 1978, 2) Christian B***, geboren am 28. Dezember 1979, infolge Revisionsrekurses des ehelichen Vaters Richard B***, Angestellter, 1232 Wien, Anton Baumgartner Straße 44/A1/142, vertreten durch Dr. Karl Zach, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Wien als Rekursgericht vom 14. September 1989, GZ. 47 R 628/89-35, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Liesing vom 31. Juli 1989, GZ. 1 P 233/87-32, bestätigt wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Die am 24. April 1978 geborene Nicola B*** und der am 28. Dezember 1979 geborene Christian B*** sind eheliche Kinder des Richard und der Heidi B***. Die Ehe der Eltern wurde mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes Liesing vom 20. Oktober 1988 aus dem alleinigen Verschulden der gegenüber dem Vater um 18 Jahre jüngeren Mutter geschieden. Während die Eltern bereits am 14. Juli 1988 eine Vereinbarung darüber erzielt haben, daß die Obsorge für die Tochter Nicola dem Vater allein zukommen soll und diese Vereinbarung mit dem insoweit in Rechtskraft erwachsenen Beschluß des Erstgerichtes vom 8. Februar 1989, ON 21, pflegschaftsbehördlich genehmigt worden ist, liegen widerstreitende Anträge der Eltern in Ansehung der Obsorge für den Sohn Christian vor. Sowohl der Vater als auch die Mutter wollen für ihn künftig allein zur Obsorge berechtigt und verpflichtet sein. Das Erstgericht sprach zunächst mit Beschluß vom 8. Februar 1989, ON 21, bestätigt durch den Beschluß des Rekursgerichtes vom 20. April 1989, ON 24, aus, daß die Obsorge für den Sohn Christian mit Wirksamkeit bis 31. August 1989 der Mutter allein zukomme, und behielt sich eine endgültige Entscheidung für die Zeit ab 1. September 1989 vor. Dieser vorläufigen Entscheidung über die Obsorge für den Sohn Christian lagen im wesentlichen folgende Tatsachenfeststellungen zugrunde:
Die Mutter unterhielt seit August 1987 ehewidrige Beziehungen zu Helmut F***. Am 20. Oktober 1987 zog sie unter Mitnahme des Sohnes Christian zu Helmut F*** in dessen Wohnung nach Wien 13, Lainzerbachstraße 13/3. Um den Jahreswechsel 1987/88 übersiedelte Helmut F*** mit der Mutter und dem Sohn Christian nach Wien 23, Anton Baumgartner Straße 4/C8/067, in die Nähe der Ehewohnung und der von Christian besuchten Volksschule. Anfang Februar 1988 kehrte die Mutter mit Christian wieder in die Ehewohnung zum Vater und der Tochter Nicola zurück. Sie unterhielt aber weiterhin Kontakte zu Helmut F***, zu dem sie am 3. Juli 1988 - abermals unter Mitnahme des Sohnes Christian - wieder übersiedelte.
Christian hat seinen Lebensmittelpunkt im Haushalt der Mutter, er sucht aber in unterschiedlichen Abständen den Vater auf und nächtigt auch bei ihm. Christian ist sowohl dem Vater als auch der Mutter zugeneigt, jedoch für einen Verbleib im Haushalt der Mutter eingestellt. Er besucht die dritte Klasse Volksschule, ist altersgemäß entwickelt, leidet aber unter den Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen der Eltern. Er wirkt durch die bestehende Situation belastet und sehnt sich nach Ruhe und Ausgeglichenheit. Seine schulischen Leistungen haben zuletzt eine Steigerung erfahren. Ihm ist bewußt, daß die Mutter Anfang Februar 1989 ein Kind erwartet. Er wurde von der Mutter auf das bevorstehende Ereignis vorbereitet. Nach dem Plan der Mutter soll das von Christian derzeit benützte Zimmer so geteilt werden, daß darin auch das von ihr erwartete weitere Kind nächtigen kann. Diese Pläne sollen aber erst ab einem bestimmten Alter des erwarteten Kindes verwirklicht werden.
Zwischen Christian und seiner Schwester Nicola treten zeitweise Spannungen auf. Die beiden Geschwister empfinden ihre Trennung nicht als belastend.
Die Mutter ist jetzt nicht mehr berufstätig und in der Lage, Christian nach dem Schulbesuch ordnungsgemäß zu versorgen und zu betreuen. Auch der Vater wäre zur Betreuung des Sohnes geeignet. Bei ihm müßte er aber doch während einiger Stunden einen Hort besuchen. Der Vater ist durch die Trennungssituation belastet, überwindet diese nur langsam und leidet darunter.
Wie Christian die bevorstehende Geburt des von der Mutter erwarteten Kindes und die sich dann ergebenden Lebensverhältnisse verkraftet und ob diese von ihm bewältigt werden können, ist noch nicht voraussehbar. Derzeit entspricht es seinem Willen, in dem von der Mutter geführten Haushalt zu leben. Seine Beziehungen zu Helmut F*** sind komplikationslos.
Nach dieser vorläufigen Obsorgeentscheidung sprach sich die Wiener Jugendgerichtshilfe in ihrer Stellungnahme vom 21. Juni 1989 gegen eine Änderung der bestehenden Situation aus, weil eine solche weder sinnvoll sei, noch im Interesse des Sohnes Christian liege (ON 25). Der Vater brachte ergänzend vor, Christian sei in den letzten Monaten regelmäßig am Nachmittag bei ihm erschienen und habe um Essen gebeten, weil er bei der Mutter nicht ordnungsgemäß versorgt werde. Der Sohn sei weiterhin verunsichert, leide unter Konzentrationsschwäche und könne in der Nacht nicht schlafen, weil die Mutter mit ihrem Lebensgefährten so laut streite. Diese sei auch angeblich schon wieder im dritten Monat schwanger. Helmut F*** gehe seit März 1989 keiner geregelten Beschäftigung mehr nach, sodaß aus finanziellen Gründen mit einer baldigen Übersiedlung zu rechnen sei. Christian habe aber erklärt, im Falle der Aufgabe der Wohnung in Alt-Erlaa keinesfalls mit der Mutter mitgehen zu wollen. Überdies benütze diese das Auto ihres Lebensgefährten, ohne im Besitz eines Führerscheines zu sein.
Die Mutter hielt dem entgegen, ihr Lebensgefährte habe sein Dienstverhältnis wegen eines besseren Stellenangebotes aufgekündigt. Ihre eigene wirtschaftliche Situation und diejenige ihres Lebensgefährten seien ausgeglichen. Es sei nicht geplant, aus Alt-Erlaa wegzuziehen. Die Mutter und ihr Lebensgefährte seien allerdings bemüht, eine größere Wohnung zu finden. Die Nachtruhe des Sohnes werde nicht gestört, es bestehe auch keine neue Schwangerschaft der Mutter.
Der damals 9 1/2 Jahre alte Christian gab bei seiner Anhörung am 28. Juli 1989 an:
"Ich gehe ab Herbst in die vierte Klasse der Volksschule; in der Schule ist es mir gut gegangen. Ich weiß nicht, warum ich heute zu Gericht kommen muß. Mein kleiner Bruder ist lieb, er schläft nicht in meinem Zimmer. Er schreit in der Nacht kaum, nur wenn er Hunger hat. Ich höre ihn dann aber nicht. Meinen Vater besuche ich, vor allem an Wochenenden. Es soll alles so bleiben, wie es ist. Ich habe meinen Papa und meine Mama gern."
Mit Beschluß vom 31. Juli 1989, ON 32, entschied das Erstgericht, daß die Obsorge für den Sohn Christian ab 1. September 1989 der Mutter allein zukomme und wies den entgegenstehenden Antrag des Vaters ab. Es traf noch folgende weitere Feststellungen:
Durch die Geburt des Sebastian S*** erhielt Christian am 19. Jänner 1989 einen Stiefbruder. Die Mutter lebt seither mit ihren beiden Söhnen und ihrem Lebensgefährten Helmut F*** im gemeinsamen Haushalt. Christian verfügt über ein eigenes Zimmer. Er wird in seiner Nachtruhe weder durch seinen Halbbruder noch durch Auseinandersetzungen der Mutter mit Helmut F*** gestört. Christian verbringt die Wochenenden häufig im Haushalt des Vaters, den er auch an Nachmittagen aufsucht und dabei mit Speisen und Getränken versorgt wird. Seine schulischen Leistungen bieten zu keiner Besorgnis Anlaß. Sein Jahreszeugnis über die dritte Schulstufe weist ein "Gut" in den Fächern "Sachunterricht", "Deutsch", "Lesen" und "Mathematik" auf, sonst lauter "Sehr gut".
Helmut F*** hat sein Dienstverhältnis zur A*** KG per 31. März 1989 wegen eines besseren Stellenangebotes aufgekündigt. Seine neue Berufsstellung konnte er bisher noch nicht antreten, weil er sich in der Zeit vom 30. Mai bis 14. Juni 1989 einer ärztlichen Behandlung im Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel unterziehen mußte. Er bezog bis 30. Juli 1989 Krankengeld. Weder die Mutter noch ihr Lebensgefährte haben die Absicht, den Wohnbereich Alt-Erlaa zu verlassen. Sie streben allerdings die Anmietung einer anderen, größeren Wohnung an. Anläßlich der Krankenhausaufnahme Helmut F*** lenkte die Mutter den für ihn zugelassenen PKW, ohne im Besitz eines Führerscheines zu sein.
In rechtlicher Hinsicht folgerte das Erstgericht daraus, daß die Übertragung der Obsorge für den Sohn allein an die Mutter dem Kindeswohl und dessen Interessen entspreche. Der Sohn sei für seinen Verbleib bei der Mutter eingestellt. Er habe die Geburt seines Halbbruders und die sich daraus ergebende Lebenssituation ohne Schwierigkeiten verkraftet. Von entsprechender Art seien auch seine schulischen Leistungen. Kontakte zum Vater würden von der Mutter nicht verhindert, wodurch auch die Erhaltung der engen Bindungen des Kindes zum Vater sichergestellt erscheine. Hingegen hätte eine Rückführung des Sohnes in den Haushalt des Vaters zur Folge, daß das Kind seinen gewohnten und auch akzeptierten Lebensbereich verlassen müsse. Es hätte dann die gefühlvollere Art der Mutter zu entbehren. Das Rekursgericht gab mit dem angefochtenen Beschluß dem aus den Anfechtungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der unrichtigen Beweiswürdigung sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobenen Rekurs des Vaters nicht Folge. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis eines mangelfreien Verfahrens und einer unbedenklichen Beweiswürdigung. Rechtlich verwies das Rekursgericht darauf, daß die erstgerichtliche Entscheidung gerade dem Gedanken der Kontinuität der Obsorge für einen Pflegebefohlenen Rechnung trage, lebe doch Christian bereits seit Juli 1988 ununterbrochen im Haushalt der Mutter. Die vom Vater neuerlich geäußerte Befürchtung, die Mutter könne die Wohnung im Wohnpark Alt-Erlaa verlassen und woanders hinziehen, entbehre jeglicher konkreter Grundlage. Mit seinen Rekursausführungen zur Trennung der beiden Geschwister zur angeblich negativen Erziehungssituation bei der Mutter und zur Wohnsituation des Sohnes wurde der Vater auf den bestätigenden Beschluß des Rekursgerichts ON 24 verwiesen. Dort war bereits ausgeführt worden, daß der Sohn zum Vater ausgedehnte Kontakte habe, die auch von der Mutter in keiner Weise behindert würden. Dieser Umstand lasse die Trennung der beiden Geschwister in einem anderen Licht erscheinen, weil tatsächlich zwischen ihnen im Hinblick auf das räumliche Naheverhältnis der beiden Wohnungen ausreichende Kontaktmöglichkeiten bestünden. Der vom Vater als unmoralisch empfundene Lebenswandel der Mutter und die daraus abgeleiteten subjektiven Befürchtungen ließen erkennen, daß er die Trennung von ihr und deren nunmehriges Zusammenleben mit einem anderen Partner offenbar noch nicht verkraftet habe. Eine Gefährdung des Kindeswohles sei aber daraus nach den Feststellungen nicht abzuleiten. Die Wohnsituation des Sohnes sei nur im Hinblick auf den inzwischen zur Welt gekommenen Halbbruder überprüfungsbedürftig gewesen.
Der gegen diese bestätigende Entscheidung des Rekursgerichtes aus dem Anfechtungsgrund der offenbaren Gesetzwidrigkeit erhobene außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters ist im Sinne des § 16 Abs. 1 AußStrG unzulässig.
Die behauptete offenbare Gesetzwidrigkeit erblickt der Rechtsmittelwerber darin, daß die Zuteilung der Obsorge an die Mutter den Grundsätzen der Kontinuität der Erziehung und des gemeinsamen Aufwachsens von Geschwistern widerspreche und der negativen Erziehungssituation bei der Mutter nicht ausreichend Rechnung trage, weil diese die Familie durch Ehebruch zerstört habe und dem Sohn durch ihr weiteres Zusammenleben mit einem anderen Mann völlig falsche Wertmaßstäbe vermittle.
Entgegen der Ansicht des Rechtsmittelwerbers liegt aber nach ständiger Rechtsprechung eine offenbare Gesetzwidrigkeit nur dann vor, wenn das Rekursgericht im Widerspruch zu einer ausdrücklichen und klaren gesetzlichen Regelung entschieden hat (SZ 39/103;
SZ 44/180; SZ 46/98; NZ 1980, 46; NZ 1981, 8; EFSlg. 49.930, 52.757, 55.638; MietSlg. 38.818 uva.), oder wenn seine Entscheidung mit den Grundprinzipien des Rechtes im Widerspruch steht (SZ 23/289;
EFSlg. 44.647, 52.758 uva.). Die Frage, welchem Elternteil nach erfolgter Ehescheidung die Obsorge für ein Kind künftig allein zukommen soll, ist in den §§ 177 und 178 a ABGB nicht bestimmt gelöst. Es sind nur Kriterien genannt, welche in die Ermessenserwägungen des Gerichtes einzubeziehen sind (2 Ob 563/86; 8 Ob 600/88 ua.). Die Zuteilung der Obsorge ist daher eine Ermessensentscheidung, die nur dann offenbar gesetzwidrig sein kann, wenn das entscheidende Grundprinzip des Kindeswohles verletzt wird (EFSlg. 44.657, 52.781, 55.679 uva.). Danach haben sich zwar in der Rechtsprechung gewisse Leitlinien herausgebildet, wie etwa auch die vom Rechtsmittelwerber angesprochene Wahrung der Kontinuität der Erziehung sowie der Vorzug eines gemeinsamen Aufwachsens von Geschwistern. Diese Grundsätze dürfen aber nie verallgemeinert werden: Ihre Berechtigung ist in jedem Fall auf Grund der faktisch gegebenen Situation zu prüfen. Bei einer Kollision verschiedener Leitgedanken kommt es auf die vorzunehmende Gesamtschau an (EFSlg. 48.422; 4 Ob 523/88).
Im angefochtenen Beschluß wurde ausreichend dargelegt, weshalb das Rekursgericht - in Übereinstimmung mit dem Erstgericht und der zuständigen Jugendwohlfahrtsbehörde - trotz des Umstandes, daß der Vater hier grundsätzlich zur Obsorge für den Sohn gleich wie die Mutter geeignet ist, die seit nunmehr mehr als einem Jahr bestehende Unterbringung des Kindes bei der Mutter dennoch als dessen Wohl besser entsprechend beurteilte. Dabei wurden im Sinne des § 178 a ABGB bei sonst gleichwertigen Verhältnissen die Bedürfnisse und Entwicklungsmöglichkeiten des minderjährigen Christian insgesamt - hiefür ist nicht nur der Vater als Bezugsperson maßgebend - als entscheidendes Kriterium gewertet. Den Scheidungsursachen ist dabei kein entscheidendes Gewicht beigemessen worden, weil sie hier keine zwingenden Rückschlüsse auf die bessere Eignung des einen oder anderen Elternteiles zur Pflege und Erziehung des Kindes zulassen (vgl. EFSlg. 36.014 ua.). Da somit bei der zu treffenden Ermessensentscheidung alle maßgeblichen Kriterien, und damit auch das entscheidende Grundprinzip des Kindeswohles, berücksichtigt worden sind, liegt die behauptete offenbare Gesetzwidrigkeit der rekursgerichtlichen Entscheidung nicht vor (EFSlg. 49.963, 52.782, 55.650 ua.).
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs mußte demnach als unzulässig zurückgewiesen werden.
Anmerkung
E19089European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1989:0060OB00710.89.1116.000Dokumentnummer
JJT_19891116_OGH0002_0060OB00710_8900000_000