Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dkfm. Richard Keibl (Arbeitgeber) und Gerald Kopecky (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Kurt D***, ohne Beschäftigung, 2732 Willendorf, Puchberger Straße 53, vertreten durch Dr. Ernst Bollenberger, Rechtsanwalt in Wr. Neustadt, wider die beklagte Partei P*** DER A*** (L*** W***),
1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. Juli 1989, GZ 33 Rs 53/89-28, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wr. Neustadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 18.November 1988, GZ 4 Cgs 1401/87-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.
Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an
das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Berufungs- und Revisionskosten sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Mit Bescheid vom 30.11.1987 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 12.3.1987 auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.
Die dagegen rechtzeitig erhobene, auf die abgelehnte Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab Anfallstag gerichtete Klage stützt sich darauf, daß der Kläger wegen seines Gesundheitszustandes seinen Beruf nicht mehr weiter ausüben bzw. keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen könne.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage, weil der nach seinen Angaben im Pensionsakt immer als Kranführer und Staplerfahrer tätig gewesene Kläger zB noch als Verpacker, Versand-, Transport-, Lager- und Magazinarbeiter erwerbstätig sein könne. Vor dem Sachverständigen für Innere Medizin behauptete der Kläger, in Deutschland zum Kranfahrer (gehobener Facharbeiter) ausgebildet und seit ca. 9 Jahren in Österreich in diesem Beruf tätig gewesen zu sein (ON 8 AS 25).
Im ersten Rechtsgang wies das Erstgericht die Klage im wesentlichen mit der Begründung ab, daß der Kläger, der keinen Beruf erlernt habe und in den letzten 15 Jahren überwiegend als Hilfsarbeiter tätig gewesen sei, noch als Tagesportier arbeiten könne.
Das Berufungsgericht hob dieses Urteil wegen Verfahrens- und Feststellungsmängeln auf und verwies die Sache zur Ergänzung des Verfahrens und Urteilsfällung an das Erstgericht zurück. Vor dem Sachverständigen für Neurologie und Psychiatrie behauptete der Kläger neuerlich, als Kranfahrer beschäftigt gewesen zu sein (ON 17, AS 63).
Auch im zweiten Rechtsgang wies das Erstgericht die Klage ab. Nach seinen Feststellungen kann der am 27.10.1938 geborene Kläger mit seinem im einzelnen festgestellten Gesundheitszustand während der üblichen Arbeitszeit und mit den üblichen Pausen leichte Arbeiten, bei denen die Hebe- und Trageleistung mit 5 kg beschränkt ist, vorwiegend (zu 60 %) im Sitzen leisten. Ausgeschlossen sind Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, an ungeschützten Maschinen und Arbeiten, deren Tempo von Maschinen vorgegeben wird. Er kann täglich bis zu drei oder vier gleichmäßig verteilte, je 30 Minuten dauernde Streßsituationen bewältigen, Arbeitsabläufe überwachen und öffentliche Verkehrsmittel benützen. Der Fußweg zur oder von der Arbeit sollte in der Ebene nicht länger als 1000 m sein. Dabei benötigt er nach einer Wegstrecke von etwa 300 bis 400 m eine kurze Stehpause von 2 bis 3 Minuten. Bergauf kann er höchstens 300 m gehen, wobei er nach 100 m jeweils 2 bis 3 Minuten rasten muß. Er braucht am Arbeitsplatz eine fettreduzierte, salzarme Kost, die er jedoch mitnehmen kann. Er kann unterwiesen und eingeordnet werden. Er hat keinen Beruf erlernt und war als Kranführer und Staplerfahrer beschäftigt. Seine Leistungsfähigkeit reicht für die näher beschriebene, auf dem Arbeitsmarkt ausreichend gefragte Tätigkeit eines Tagesportiers aus. Deshalb sei der Kläger nicht invalid (iS des § 255 Abs 3 ASVG).
In seiner Berufung machte der Kläger als unrichtige rechtliche Beurteilung ua geltend, daß er unter billiger Berücksichtigung seiner bisherigen Tätigkeiten als Kran- und Staplerfahrer nicht mehr verweisbar sei.
Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge, ohne auf die erwähnte Rechtsrüge einzugehen.
In seiner Revision wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) rügt der Kläger im wesentlichen, daß die Feststellungen für eine gründliche Beurteilung, ob er als Kranführer und Stapelfahrer überwiegend einen angelernten Beruf ausgeübt habe und daher als invalid iS des § 255 Abs 1 ASVG gelte, nicht ausreichen. Er beantragt daher die Aufhebung oder die Abänderung des angefochtenen Urteils im klagestattgebenden Sinne.
Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Rechtliche Beurteilung
Die nach § 46 Abs 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Absatzes 2 dieser Gesetzestelle zulässige Revision ist berechtigt. Ob ein angelernter Beruf iS des § 255 Abs 1 und 2 ASVG vorliegt, ist eine Rechtsfrage (SSV-NF 1/48). Sie ist zu bejahen, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Berufe gleichzuhalten sind (Abs 2 leg cit). Der Versicherte muß also hinsichtlich seiner Kenntnisse oder Fähigkeiten den Anforderungen entsprechen, die üblicherweise an Absolventen eines Lehrberufes gestellt werden (SSV-NF 1/48; SSV-NF 3/55 uva). Dabei muß ein angelernter Beruf keinem gesetzlich geregelten Lehrberuf entsprechen, doch müssen die durch praktische Arbeit erworbenen qualifizierten Kenntnisse oder Fähigkeiten an Umfang und Qualität jenen in einem Lehrberuf gleichzuhalten sein (SSV-NF 1/48, 70; SSV-NF 3/55 uva). Daß Kenntnisse oder Fähigkeiten nur ein Teilgebiet eines Tätigkeitsbereiches umfassen, der von gelernten Arbeitern ganz allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht wird, reicht daher nicht aus (SSV-NF 1/48 uva).
Die erstgerichtliche Feststellung, der Kläger habe keinen Beruf erlernt und sei bisher als Kranführer und Staplerfahrer beschäftigt gewesen, die vom Berufungsgericht so wiedergegeben wurde, daß der Kläger keinen Beruf erlernt habe und in den letzten 15 Jahren überwiegend als Hilfsarbeiter, und zwar als Kranführer und Stapelfahrer tätig gewesen sei, reicht zu einer verläßlichen Beurteilung der Rechtsfrage, ob der Kläger überwiegend in angelernten Berufen tätig war, in welchem Fall seine Invalidität nach § 255 Abs 1 ASVG zu prüfen wäre, nicht aus.
Unter Bedachtnahme auf die obigen rechtlichen Ausführungen werden daher genaue Feststellungen über die vom Kläger insbesondere in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtat ausgeübten praktischen Tätigkeiten und die dadurch erworbenen Kenntnisse oder Fähigkeiten sowie deren Verhältnis zu den Anforderungen, die üblicherweise an Absolventen eines Lehrberufes gestellt werden, erforderlich sein. Sollte auf Grund dieser ergänzenden Feststellungen eine überwiegende Tätigkeit des Klägers in angelernten Berufen zu bejahen sein, wäre auch zu klären, ob er diese oder allfällige berufsverwandte Tätigkeiten ausüben kann.
Nach § 496 Abs 1 und 3, § 499 Abs 1, § 510 Abs 1 und § 513 ZPO waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Berufungs- und Revisionskosten beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
Anmerkung
E19371European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1989:010OBS00393.89.1205.000Dokumentnummer
JJT_19891205_OGH0002_010OBS00393_8900000_000