TE OGH 1990/1/23 10ObS150/89

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Veröffentlicht am 23.01.1990
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Rudda (AG), Anton Liedlbauer (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Juliane T***, Weyringergasse 13, 1040 Wien, vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A***, Friedrich

Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension infolge Revision der beiden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. Dezember 1988, GZ 33 Rs 261/88-25, in der Fassung des Beschlusses vom 17. März 1989, 33 Rs 261/88-31, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 6. September 1988, GZ 16 Cgs 4/88-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Beiden Revisionen wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin, die den Beruf einer diplomierten Krankenschwester erlernt hat, war in den letzten 15 Jahren vor der Antragstellung als qualifizierte Krankenschwester, zuletzt als mobile Krankenschwester, tätig. Zufolge gesundheitsbedingter Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit ist sie nur mehr in der Lage, leichte und mittelschwere Arbeiten, vorwiegend im Sitzen, bis zu einem Drittel der Arbeitszeit auch im Gehen oder Stehen, dies jedoch nicht kontinuierlich, während der normalen Arbeitszeit unter Einhaltung der üblichen Pausen zu verrichten. Arbeiten in Nässe und Kälte, auf Leitern und Gerüsten sowie Arbeiten in ständig knieender Position und Arbeiten, die mit häufigem Bücken verbunden sind, sind der Klägerin nicht möglich. Die Klägerin ist nicht mehr in der Lage, als Krankenschwester tätig zu sein, da sämtliche Krankenschwesterberufe wie auch verwandte Berufe vorwiegend (ca 3/4 der Arbeitszeit) Gehen und Stehen erfordern. Die in diesen Berufen erforderliche Gehleistung übersteigt das Leistungskalkül der Klägerin. Das Erstgericht gab dem auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension ab 1. September 1987 gerichteten Begehren der Klägerin statt. Da die Klägerin den Beruf einer diplomierten Krankenschwester erlernt und ausgeübt habe, genieße sie in diesem Rahmen Berufsschutz. Da sie weder als Krankenschwester noch in verwandten Berufen tätig sein könne, seien die Voraussetzungen für die begehrte Leistung erfüllt, zumal eine Verweisung auf andere Berufe nicht zumutbar sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen von Verfahrensmängeln und trat der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes bei. Eine Entscheidung über den in der Berufungsbeantwortung gestellten Antrag der Klägerin, das Ersturteil "mit Maßgabe zu bestäitgen, daß die in § 89 ASGG vorgesehene vorläufige Leistung zugesprochen werde", unterblieb in dieser Entscheidung.

Nachdem das Urteil des Berufungsgerichtes an die Klägerin am 17. Februar 1989 zugestellt worden war, langte beim Erstgericht am 1. März 1989 ein Antrag der Klägerin auf Ergänzung des Urteiles des Berufungsgerichtes durch Auferlegung einer vorläufigen Zahlung von S 336,36 täglich ein, der vom Erstgericht an das Berufungsgericht weitergeleitet wurde, wo er am 9. März 1989 einlangte. Mit Ergänzungsbeschluß vom 17. März 1989 sprach das Berufungsgericht aus, daß eine vorläufige Zahlung nicht auferlegt werde. Die Klägerin beziehe bei aufrechtem Dienstverhältnis bis etwa Ende Juni 1989 Krankengeld und werde im Anschluß daran über einen Abfertigungsanspruch oder Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung verfügen. Es bestehe daher keine Veranlassung, eine vorläufige Zahlung festzusetzen, zumal dabei zu bedenken sei, daß im Falle einer rechtskräftigen Pensionsgewährung eine Aufrechnung der vorläufigen Zahlung mit den für die Vergangenheit zuerkannten Pensionsbeträgen zu erfolgen habe, wobei der Pensionsauszahlungsanspruch überdies teilweise durch ein Ruhen oder Legalzessionsansprüche wesentlich beeinflußt werde. Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes vom 21. 12. 1988 richtet sich die Revision der beklagten Partei. Mit dem Rechtsmittel, in dem Revisionsgründe nicht genannt werden, wendet sich die beklagte Partei gegen die Feststellung des Erstgerichtes, daß die Klägerin lediglich während eines Drittels der Arbeitszeit in der Lage sei, im Gehen oder Stehen zu arbeiten und vertritt die Ansicht, daß verschiedene Verweisungstätigkeiten zur Verfügung stünden, mit denen sich die Vorinstanzen nicht auseinandergesetzt hätten, die die Klägerin jedoch auch unter Berücksichtigung der bestehenden Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit zu verrichten in der Lage sei. Beantragt wird die Abänderung der angefochtenen Entscheidung im Sinn einer Klageabweisung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die klagende Partei beantragt mit ihrem gegen den Ergänzungsbeschluß gerichteten "Rekurs", die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß eine vorläufige Zahlung festgesetzt werde.

Beide Parteien beantragen jeweils dem Rechtsmittel des Gegners nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Zur Revision der beklagten Partei:

Die Vorinstanzen haben ihren Entscheidungen zugrunde gelegt, daß die Klägerin Tätigkeiten im Gehen und Stehen nur während eines Drittels der Arbeitszeit verrichten kann und nur für Tätigkeiten geeignet ist, die überwiegend im Sitzen zu verrichten sind. Soweit die Revision unter Hinweis auf den Inhalt einzelner Sachverständigengutachten diese Feststellungen in Zweifel zieht, wird in unzulässiger Weise die Beweiswürdigung bekämpft. Die Ausführungen der Revision, mit denen die beklagte Partei darzulegen versucht, daß die Klägerin als Krankenschwester tätig sein könne, finden in den Urteilsfeststellungen keine Deckung. Das Erstgericht hat alle Einsatzmöglichkeiten für eine diplomierte Krankenschwester dargestellt und die Feststellung getroffen, daß in allen Bereichen dieses Berufes die Tätigkeit während mehr als der Hälfte der Arbeitszeit im Gehen oder Stehen zu verrichten ist. Dabei wurde auch der Einsatz bei administrativen Arbeiten berücksichtigt. Ausgehend von den Urteilsfeststellungen erweist sich die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes, das zum Ergebnis kam, daß die Voraussetzungen des § 273 ASVG erfüllt sind, als zutreffend, so daß es im weiteren genügt, auf diese Ausführungen zu verweisen (§ 48 ASGG).

Zum Rechtsmittel der klagenden Partei:

Gemäß § 89 Abs 2 ASGG kann das Gericht, wenn sich in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 1, 6 oder 8 in der das Klagebegehren auf eine Geldleistung gerichtet und dem Grund und der Höhe nach bestritten ist, ergibt, daß das Klagebegehren in einer zahlenmäßig noch nicht bestimmten Höhe gerichtfertigt ist, die Rechtsstreitigkeit dadurch erledigen, daß es das Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkennt und dem Versicherungsträger aufträgt, dem Kläger bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung zu erbringen; deren Ausmaß hat das Gericht unter sinngemäßer Anwendung des § 273 Abs 1 ZPO festzusetzen. Diese Entscheidung hat im Urteil zu ergehen und bildet einen Teil der Sachentscheidung des Gerichtes. Da das Berufungsgericht seine Entscheidung in Beschlußform fällte, erhob die klagende Partei dagegen folgerichtig Rekurs. Tatsächlich handelt es sich um das Rechtsmittel der Revision. Dem wurde durch ein Verbesserungsverfahren im Zug des Revisionsverfahrens - Einräumung einer Revisionsbeantwortung an die beklagte Partei - Rechnung getragen.

Die klagende Partei hat den Antrag auf Urteilsergänzung nach der am 17. 2. 1989 erfolgten Zustellung des Urteiles des Berufungsgerichtes am 1. 3. 1989 beim Erstgericht eingebracht; beim Berufungsgericht langte der Antrag am 9. 3. 1989 ein. Gemäß § 423 ZPO ist der Antrag auf Ergänzung des Urteiles binnen 14 Tagen nach Urteilszustellung bei dem Prozeßgericht einzubringen. Während Fasching in Kommentar III, 820 die Ansicht vertritt, daß der Antrag, der auf Ergänzung eines Urteiles einer höheren Instanz gerichtet ist, nicht beim Erstgericht sondern bei dem Gericht einzubringen ist, welches das unvollständige Urteil gefällt hat, woraus zu schließen wäre, daß die Frist des § 423 ZPO nur dann gewahrt ist, wenn der Antrag innerhalb dieser Frist bei dem Gericht, dessen Urteil ergänzt werden soll, wirksam eingebracht wurde (in diesem Sinn auch SZ 42/27) vertritt derselbt Autor in ZPR Handbuch Rz 1442 nunmehr die Meinung, daß auch die Einbringung des Antrages beim Erstgericht als zulässig anzusehen sei, weil dieses die Zustellung des Urteils an die Parteien verfüge. Ausgehend hievon wäre die Frist durch Einbringung des Ergänzungsantrages beim Erstgericht binnen 14 Tagen ab Zustellung auch dann gewahrt, wenn die Ergänzung des Urteiles einer höheren Instanz angestrebt wird. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, welcher dieser Meinungen zu folgen ist, ist jedoch entbehrlich. Selbst wenn man der zuerst dargestellten Ansicht folgte und damit zum Ergebnis gelangte, daß der Ergänzungsantrag verspätet gestellt wurde, könnte dies im Revisionsverfahren nicht mehr wahrgenommen werden. Das Berufungsgericht hätte unter Annahme einer Verspätung des Antrages durch die Entscheidung hierüber einen einem Verstoß gegen § 405 ZPO entsprechenden Verfahrensverstoß begangen. Dabei handelte es sich um einen Verfahrensmangel, der nur über entsprechende - in der Revisionsbeantwortung geltend zu machende - Rüge der beklagten Partei hätte wahrgenommen werden können. Eine solche Rüge ist jedoch von der beklagten Partei im Revisionsverfahren nicht erhoben worden. Es liegen daher die Voraussetzungen für die Prüfung der Entscheidung des Berufungsgerichtes über den Ergänzungsantrag jedenfalls vor. Wesentliche Bedeutung kommt dabei dem Umstand zu, daß die Klägerin das ihr die Leistung dem Grunde nach zuerkennende, eine vorläufige Zahlung jedoch nicht auferlegende Urteil des Erstgerichtes unbekämpft gelassen hat. Lediglich in der nach Ablauf der Berufungsfrist erstatteten Berufungsbeantwortung wurde der Antrag gestellt, das Ersturteil mit der Maßgabe zu bestätigen, daß eine vorläufige Leistung auferlegt werde. Ein wirksames Rechtsmittel, mit dem die Klägerin die Unterlassung der Auferlegung einer vorläufigen Zahlung durch das Erstgericht angefochten hätte, wurde nicht erhoben, so daß das Berufungsgericht die Entscheidung des Erstgerichtes in diesem Punkt auch nicht überprüfen konnte. Als Grundlage für den in der Berufungsbeantwortung gestellten Antrag der Klägerin und damit für den Urteilsergänzungsantrag könnte § 91 Abs 1 ASGG in Frage kommen, dies allerdings nur, wenn man diese Bestimmung dahin auslegte, daß hiemit eine, der durch § 89 Abs 2 ASGG für die Entscheidung des Erstgerichtes getroffenen Anordnung entsprechende, eigenständige Verpflichtung des Berufungsgerichtes zur Auferlegung einer vorläufigen Zahlung statuiert wird, derzufolge das Berufungsgericht in jedem Fall, in dem dem Klagebegehren vom Erstgericht stattgegeben wurde, ohne Rücksicht auf eine entsprechende Entscheidung des Erstgerichtes eine vorläufige Zahlung aufzuerlegen hat. Hiefür bietet aber diese Bestimmung keine Grundlage.

§ 91 Abs 1 ASVG bestimmt, daß der Versicherungsträger, soweit ein Urteil des Berufungsgerichtes in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 1, 4, 6 oder 8 dem Leistungsgebehren eines Versicherten stattgibt, diesem diese Leistung bis zur rechtskräftigen Beendigung der Rechtsstreitigkeit zu gewähren hat; ergeht im Verfahren ein neuerliches Berufungsurteil, so richtet sich die vom Versicherungsträger an den Versicherten weiterzugewährende Leistung nach diesem Berufungsurteil. Diese Leistungspflicht ist dem Versicherungsträger mit dem jeweiligen Berufungsurteil aufzuerlegen; der § 89 Abs 2 ist hiebei anzuwenden. Der erste Satz der Bestimmung bezieht sich nur auf Fälle, in denen dem Leistungsbegehren dem Grund und der Höhe nach stattgegeben wird. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut (arg "hat ihm der Versicherungsträger diese Leistung" - also die im Leistungsbegehren, dem stattgegeben wurde, begehrte Leistung und nicht eine erst auf Grund dieser Bestimmung festzusetzende Leistung - zu gewähren). Deutlich sprechen dafür auch die erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage des ASGG (7 BlgNR 16.GP, 61 f). Darin wird darauf hingewiesen, daß die angeführte Regelung mit dem § 82 Z 3 (nunmehr § 90 Z 2) ASGG im engen Zusammenhang steht, daß nach dem Abs 1 dem Versicherten die ihm vom Berufungsgericht zugesprochene Leistung auch dann weiterzugewähren ist, wenn das Urteil des Berufungsgerichtes aufgehoben wird, wobei sich dann der Leistungsanspruch nach dem Inhalt des zweiten Berufungsurteils richtet (weshalb keine Leistung mehr zu gewähren ist, wenn damit im zweiten Rechtsgang das das Klagebegehren abweisende Ersturteil bestätigt wird) und schließlich auch darauf, daß für die vorgeschlagene gesetzmäßige Leistungspflicht mit Beziehung auf ein aufgehobenes Urteil im Grundsatz auch § 373 EO Vorbild war. Ein Hinweis darauf, daß die nach § 91 Abs 1 erster Satz ASGG zu erbringende Leistung nicht dieselbe wie jene nach § 89 Abs 2 ASGG ist, bildet ferner der Umstand, daß - anders als in der zuletzt angeführten Gesetzesstelle - das Wort "vorläufig" nicht verwendet wird. Daraus muß geschlossen werden, daß der Gesetzgeber an eine Leistung gedacht hat, die nicht erst später durch einen neuen Bescheid (endgültig) festzusetzen ist, sondern die schon (endgültig, wenn auch nicht rechtskräftig) festgesetzt wurde. All dies spricht dafür, daß § 91 Abs 1 erster Satz ASVG nur jene Fälle regelt, in denen (in erster oder zweiter Instanz) eine Leistung dem Grund und der Höhe nach zugesprochen wurde. Für diese Fälle wird festgelegt, daß die zugesprochene Leistung unter Berücksichtigung eines Berufungsurteiles, das im zweiten (oder einem weiteren) Rechtsgang erging, bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens zu bezahlen ist.

Im Licht dieses Umstandes ist allerdings der nachfolgende zweite Satz nicht ganz verständlich. Die Worte "diese Leistungspflicht" beziehen sich auf die im ersten Satz festgelegte, eben dargelegte Pflicht des Versicherungsträgers, die dem Versicherten zugesprochene Leistung bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens zu erbringen. Es ist daher an sich überflüssig dem Versicherungsträger die Leistungspflicht mit dem Berufungsurteil aufzuerlegen, weil sie sich dem Grunde nach schon aus dem Gesetz und der Höhe nach schon aus dem Ersturteil oder - im Fall der Änderung des Ersturteiles im Sinn des Klagebegehrens - aus anderen Teilen des Berufungsurteiles ergibt. Die Regelung könnte aber noch die Bedeutung einer Ordnungsvorschrift haben, der die Exekutionsbewilligung nach § 373 EO als Vorbild gedient haben könnte. Sie könnte ferner auch im Licht des § 91 Abs 6 ASGG gesehen werden. Diese Bestimmung setzt bei wörtlicher Auslegung voraus, daß das Berufungsurteil einen Leistungszuspruch enthält. Der im ersten Halbsatz des § 91 Abs 1 zweiter Satz enthaltene Auftrag, dem Versicherungsträger die Leistungspflicht aufzuerlegen, könnte daher die Bedeutung haben, daß dadurch gemäß dem nachfolgenden Abs 6 die Behandlung der Zeiten des Bezuges der Leistung als neutrale Zeiten sichergestellt wird. Kann also dem ersten Halbsatz des § 91 Abs 1 zweiter Satz ASGG noch ein Sinn gegeben werden, ist der zweite Halbsatz, wonach § 89 Abs 2 "hiebei", also bei der im ersten Halbsatz angeordneten Auferlegung der Leistungspflicht anzuwenden ist, unverständlich. Da sich "diese Leistungspflicht" um deren Auferlegung es geht, auf die Leistungen des ersten Satzes des § 91 Abs 1 ASGG bezieht und da diese der Höhe nach schon feststehen müssen, ist für die Anwendung des § 89 Abs 2 ASGG kein Raum. Als Anordnung für Fälle, in denen das Berufungsgericht einem vom Erstgericht abgewiesenen Leistungsbegehren stattgibt, wäre die Bestimmung überflüssig, da sich die Verpflichtung des Berufungsgerichtes zur Auferlegung einer vorläufigen Zahlung in diesem Fall bereits aus § 2 Abs 1 ASGG in Verbindung mit § 463 Abs 1 ZPO und § 89 Abs 2 ASGG ergibt. Ob § 91 Abs 1 ASGG auf diese Fälle Anwendung zu finden hat, braucht hier nicht erörtert werden.

Einen Sinn könnte die Bestimmung nur dann ergeben, wenn man die Reihenfolge der zwei Halbsätze des § 91 Abs 1 letzter Satz ASGG umkehrte. Würde man sie so lesen, daß sie lauten "§ 89 Abs 2 ASGG ist anzuwenden; diese Leistungspflicht ist dem Versicheruntsträger mit dem Berufungsurteil aufzuerlegen" so könnte dies dafür sprechen, daß mit der Bestimmung eine eigenständige, originäre, von der Entscheidung des Erstgerichtes unabhängige Verpflichtung des Berufungsgerichtes zur Auferlegung einer vorläufigen Zahlung begründet werden sollte. Nur bei einem solchen Verständnis könnte der von Kuderna (FS Schnorr 399 f) vertretenen Ansicht beigetreten werden, daß das Berufungsgericht bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 89 Abs 2 sowohl im Fall einer Abänderung eines klageabweisenden Urteiles erster Instanz oder auch, falls das Erstgericht (zu Unrecht) der beklagten Partei eine vorläufige Zahlung nicht auferlegt hat, eine solche Zahlung unter sinngemäßer Anwendung des § 273 Abs 1 ZPO in seinem Berufungsurteil festzusetzen hat, ohne daß eine Bekämpfung der Unterlassung der Auferlegung der vorläufigen Zahlung durch den Kläger notwendig wäre. Der beklagten Partei wäre nach dieser Ansicht eine vorläufige Zahlung durch das Berufungsgericht im Fall der Unterlassung eines solchen Ausspruches durch das Erstgericht auch dann aufzuerlegen, wenn die Entscheidung des Erstgerichtes nur von ihr angefochten wird. Dieses Ergebnis würde ein Abgehen vom Grundprinzip des Verbotes der reformatio in peius im Zivilprozeß bedeuten. Eine Auslegung in diesem Sinn hätte zur Voraussetzung, daß sich aus der Gesetzesbestimmung selbst, oder im Zusammenhang mit anderen Bestimmungen und den Gesetzesmaterialien eindeutige Hinweise auf einen solchen Regelungsinhalt ergeben. Für ein solches Verständnis des § 91 Abs 1 ASGG, zu dem man nur nach entscheidender Modifikation des Gesetzestextes - Umstellung der Reihenfolge der gesetzlichen Anordnung - gelangen könnte, besteht jedoch keine Grundlage, zumal nicht einmal die Gesetzesmaterialien einen solchen Regelungszweck erwähnen. Dies führt zwar zum Ergebnis, daß dem letzten Halbsatz des § 91 Abs 1 ASGG - diese Bestimmung ist auch in anderen Punkten nicht widerspruchsfrei ausformuliert, da etwa die Erwähnung des § 65 Abs 1 Z 4 ASGG im ersten Satz keinerlei Sinn ergibt, zumal eine vorläufige Zahlung in diesem Fall überhaupt nicht in Frage kommen kann - kein Regelungsinhalt zugewiesen werden kann, ändert jedoch nichts daran, daß für eine Auslegung in dem zuvor dargestellten Sinn die Grundlagen fehlen.

Es ergibt sich daher, daß die Unterlassung des Ausspruches über die Festsetzung einer vorläufigen Zahlung durch das Erstgericht in den Fällen, in denen ein Anspruch als dem Grund nach zu Recht bestehend erkannt wird, vom Berufungsgericht nur dann wahrgenommen werden kann, wenn dieser Verstoß von der klagenden Partei in einem Rechtsmittel geltend gemacht wird. Es handelt sich dabei um einen Verfahrensmangel (§ 496 Abs 1 Z 1 ZPO) der nur über Rüge durch die verletzte Partei aufgegriffen werden kann. Im vorliegenden Fall hat lediglich die beklagte Partei Berufung gegen das Urteil des Erstgerichtes ergriffen, so daß dem Berufungsgericht die Möglichkeit verwehrt war, die Unterlassung der Auferlegung einer vorläufigen Zahlung durch das Erstgericht zum Gegenstand seiner Entscheidung zu machen. Die Festsetzung einer vorläufigen Zahlung durch das Berufungsgericht konnte zufolge Unterlassung der Anfechtung des Urteils des Erstgerichtes, das eine vorläufige Zahlung nicht festsetzte, durch die klagende Partei nicht in Frage kommen. Der Revision der klagenden Partei kommt daher schon aus diesem Grund keine Berechtigung zu, so daß es entbehrlich ist, auf die Ausführungen des Berufungsgerichtes im Rahmen der Begründung seiner Entscheidung einzugehen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

Anmerkung

E19863

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1990:010OBS00150.89.0123.000

Dokumentnummer

JJT_19900123_OGH0002_010OBS00150_8900000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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