Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr. Dietmar Strimitzer (AG) und Norbert Kunc (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hanspeter Ü***, Pensionist, 4600 Wels, Grüne Zeile 1c, vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A***, 1021 Wien,
Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Hilflosenzuschusses infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 14. Dezember 1989, GZ 13 Rs 177/89-18, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 5. Juli 1989, GZ 27 Cgs 227/88-15, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger binnen 14 Tage die (einschließlich 257,25 S Umsatzsteuer) mit 1.543,50 S bestimmten halben Revisionskosten zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 23. März 1963 geborene Kläger bezieht von der beklagten Partei seit dem 1. Juli 1988 eine Berufsunfähigkeitspension von 3.220,50 S monatlich, zu der ihm wegen Berücksichtigung seiner Unterhaltsansprüche gegen die im gemeinsamen Haushalt lebenden Eltern keine Ausgleichszulage gebührt.
Mit Bescheid vom 25. November 1988 wies die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 30. September 1988 auf Hilflosenzuschuß ab, weil er nicht ständig der Wartung und Hilfe bedürfe. Die dagegen rechtzeitig erhobene, erkennbar auf den abgewiesenen Zuschuß gerichtete Klage stützte sich im wesentlichen darauf, daß der Kläger wegen seiner schweren Zuckerkrankheit ständig unter der Aufsicht seiner Eltern oder einer anderen im gemeinsamen Haushalt lebenden Person sein müsse, weil es bei ihm nicht absehbar sei, wann er wieder ärztliche Hilfe oder die Hilfe seiner Eltern brauche. Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage, weil der Kläger nicht derart hilflos sei, daß er ständig der Wartung und Hilfe bedürfe.
Bei der Untersuchung durch den zum Sachverständigen bestellten Dr. Ernst S*** gab der Kläger ua an, etwa einmal jährlich ein Koma zu erleiden. Durchschnittlich zweimal im Monat komme es zu einer Blutzuckerentgleisung. Dann benötige er eine Hilfsperson, die ihm Zucker eingebe oder ihn ins Krankenhaus bringe. Nur dazu brauche er Hilfe (S 1 des Befundes und Gutachtens ON 4, AS 7). In diesem Gutachten vertrat der Sachverständige die Meinung, daß der Kläger, der alle dauernd wiederkehrenden lebensnotwendigen Verrichtungen einschließlich der täglichen Blutzuckerbestimmungen und Insulininjektionen selbst ausführen könne, wegen der seit seinem 14. Lebensjahr bestehenden, insulinpflichtigen, aber äußerst schwer einzustellenden und daher häufig zu Blutzuckerentgleisungen führenden Zuckerkrankheit insoweit auf fremde Hilfe angewiesen sei, als es etwa zweimal im Monat notwendig sein werde, ihm beim Auftreten einer Blutzuckerentgleisung Zucker zu geben oder, wenn es besonders arg werde, einen Arzt oder das Rote Kreuz zu verständigen, damit er rasch ins Krankenhaus gebracht werden könne. Ein solcher Zustand entspreche dann etwa einem Anfallsleiden. Während aber bei einem epileptischen Anfall dessen Folgen von selbst abklängen, verschlechtere sich bei einem diabetischen Anfall der Zustand, wenn keine Hilfe geleistet werde, sehr rasch (S 2/3 des Gutachtens ON 4, AS 9/11).
In der Tagsatzung vom 5. Juli 1989 führte der Sachverständige aus, der Kläger gebe an, durchschnittlich zweimal im Monat eine Blutzuckerentgleisung zu erleiden. Trete diese tagsüber auf, merke er es und könne sich manchmal noch selbst Zucker verabreichen. Trete sie nachts ein, dann hätten ihm seine Eltern berichtet, daß er mit den Händen herumschlage und offenbar krampfartige Bewegungen mache. Dann flößten ihm die Eltern Traubenzucker in den Mund. Weil der Kläger solche Blutzuckerentgleisungen nicht vorhersehen könne, benötige er ständiger Beaufsichtigung. Würde nicht sofort eingegriffen und ihm Zucker verabreicht werden, könne es zu einem lebensgefährlichen Zusammenbruch des Zuckerhaushalts kommen. Solche Blutzuckerentgleisungen könnten etwa zweimal im Monat in den verschiedensten Abständen auftreten (ON 14, AS 83/84). Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger einen Hilflosenzuschuß im (nicht präzisierten) gesetzlichen Ausmaß vom 30. September 1988 an zu zahlen.
Seine Feststellungen decken sich mit den bereits wiedergegebenen Ausführungen des ärztlichen Sachverständigen. Weiters stellte es fest, daß wegen der Blutzuckerentgleisungen während des Jahres 1988 sieben bis acht Spitalsaufenthalte erforderlich waren und daß der Kläger im (ersten Halbjahr) 1989 wegen seiner Blutzuckerprobleme bereits fünfmal in Spitalsbehandlung war. Er wurde jeweils wegen heftigster Kopfschmerzen mit Übelkeit, Erbrechen, bei Bing-Horton-Neuralgie und damit drohender diabetischer Stoffwechselentgleisung aufgenommen.
Das Erstgericht vertrat die Rechtsansicht, daß der Kläger wegen der Blutzuckerentgleisungen ständiger Beaufsichtigung bedürfe, wobei die Aufsichtsperson auch Hilfe (Zuckereinflößen, Arztverständigung) zu leisten habe, um den Kläger aus einem lebensbedrohenden Zustand zu retten. Da die Kosten der notwendigen Aufsicht und Hilfe mindestens so hoch seien wie der begehrte Hilflosenzuschuß, sei dieses Begehren berechtigt.
Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung, hilfsweise auch wegen unrichtiger Tatsachenfeststellung, unrichtiger Beweiswürdigung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens erhobenen Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das angefochtene Urteil im klageabweisenden Sinne ab.
Nach ständiger Rechtsprechung begründe die Neigung zu Anfällen jeder Art (epileptischen Anfällen, Angina-pectoris-Anfällen und akuten Anfällen Zuckerkranker) für sich allein noch keine Hilflosigkeit im Sinne des § 105a ASVG. Der Bedarf nach gelegentlicher Hilfe bei einem akuten Anfall und nach allenfalls dauernder Beobachtung während der übrigen Zeit sei dem Bedarf nach ständiger Wartung und Hilfe nur dann gleichzusetzen, wenn solche Anfälle so häufig aufträten und so lange dauerten, daß der Kranke deshalb die lebenswichtigen Verrichtungen nicht mehr selbst durchführen könne. Dies sei beim Kläger nicht der Fall. Nach dem von der Beweisrüge nicht berührten Teil der erstgerichtlichen Feststellungen würden solche Anfälle durchschnittlich zweimal im Monat, und zwar teils am Tag, teils in der Nacht auftreten, wobei sich der Kläger tagsüber sogar manchmal selbst helfen könne. Der Zustand sei derzeit stationär. Diese Anfallshäufigkeit schließe den Kläger noch nicht von den lebensnotwendigen Verrichtungen aus. Er bedürfe auch keiner ständigen aktiven Beaufsichtigung, sondern nur einer Beobachtung, um ihm bei einem Anfall gegebenenfalls Hilfe zukommen zu lassen.
Dagegen richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinne abzuändern.
Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Das nach § 46 Abs 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs 2 dieser Gesetzesstelle zulässige Rechtsmittel ist nicht berechtigt. Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien, das bis 31. Dezember 1986 letzte Instanz in Leistungsstreitsachen war, bedeutete die Notwendigkeit der Beobachtung eines schwer Zuckerkranken nur zum Zwecke der Hilfeleistung im Falle eines akuten Anfalles keine Hilflosigkeit (SVSlg 17.891 = SSV 8/72; SVSlg 21.396). Dies sprachen das Oberlandesgericht Wien (SVSlg 13.676 = SSV 4/95; SVSlg 21.400, 22.993, 25.413, 25.414, 27.071, 28.862, 32.593 ua) und das Oberlandesgericht Linz (SVSlg 32.597 ua) auch hinsichtlich anderer Anfallsleiden aus. Der erkennende Senat hat zu dieser Frage noch nicht ausdrücklich Stellung genommen, sondern nur ausgesprochen, daß jemand, der auch zwischen den Schüben seiner Schizophrenie so antriebslos ist, daß er zwar nicht rund um die Uhr, aber für die Überwachung der täglich dreimal nötigen Medikamenteneinnahme und zur Anleitung bei der Körperpflege und bei den Hausarbeiten, also praktisch zu allen lebensnotwendigen Verrichtungen, einer Pflegeperson bedarf, hilflos im Sinne des § 105a ASVG ist (SSV-NF 2/32).
Der Revisionswerber befindet sich in einer ganz anderen Lage. Er ist praktisch immer körperlich und geistig imstande, alle wiederkehrenden lebensnotwendigen Verrichtungen, wie sie zB in der Grundsatzentscheidung des erkennenden Senates SSV-NF 1/46 aufgezählt sind, selbst auszuführen und bedarf dazu auch keiner Anleitung. Nur während der höchstens zweimal monatlich auftretenden schweren Stoffwechselentgleisungen, bei denen es zu einem hyperglykämischen Koma kommen kann, kann es vorkommen, daß er die dann zur Abwendung eines lebensgefährlichen Zusammenbruches des Zuckerhaushaltes notwendige Zuckermenge nur mehr mit fremder Hilfe einnehmen kann. Der Revisionswerber braucht daher praktisch keine Hilfe für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, sondern rasche, allerdings jeweils nur kurzdauernde Hilfe bei der Einnahme von Zucker, allenfalls zur Verständigung des Arztes und einer Krankentransporte durchführenden Einrichtung im Falle der erwähnten anfallsartigen Entgleisungen. Damit ist der Revisionswerber aber nur während dieser höchstens zweimal im Monat auftretenden schweren Stoffwechselentgleisungen hilflos, aber nicht derart hilflos, daß er ständig der Wartung und Hilfe bedarf (ähnlich auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung III 65. Nachtrag 560n mwN, insb auf die Rechtsprechung des BSG und die schon zit E des OLG Wien SSV 8/72). Kuderna, Der Begriff der Hilflosigkeit im ASVG
DRdA 1968, 188 (190f), und Der Anspruch auf Hilflosenzuschuß im Wandel der Judikatur DRdA 1988, 293 (300), hat darauf hingewiesen, daß dem im § 105 a ASVG gebrauchten Tatbestandsmerkmal "ständig" eine zweifache Bedeutung zukommt: es erstreckt sich einerseits auf die Häufigkeit der einzelnen Betreuungsmaßnahmen, also auch auf die Frequenz innerhalb einer Zeiteinheit, anderseits auf die Gesamtdauer der notwendigen Pflege. Die Betreuungsmaßnahmen müssen daher innerhalb gewisser kurzer Zeitabstände immer wieder notwendig sein und der Zustand der Hilflosigkeit muß während eines bestimmten längeren Zeitraumes andauern. Der erkennende Senat hält dies für richtig (so schon SSV-NF 3/34).
Muß einem Kranken höchstens zweimal im Monat geholfen werden, wobei die Hilfsmaßnahmen (Verabreichen von Zucker, allenfalls Veranlassen ärztlicher Hilfe und jeweiliger Betreuung während des Anfalls) jeweils nur kurze Zeit beanspruchen, dann kann von einer ständigen Wartung und Hilfe im erstgenannten Sinne noch nicht gesprochen werden.
Während ein kritik- und antriebsloser Mensch einer ständigen Beaufsichtigung und Anleitung bedarf, so daß er praktisch zu allen lebensnotwendigen Verrichtungen eine Pflegeperson braucht (siehe SSV-NF 2/32), ist eine solche Beaufsichtigung und Anleitung, also ein Tätigwerden und Eingreifen eines Dritten, beim Revisionswerber nur während der höchstens zweimal im Monat auftretenden diabetischen Entgleisungen notwendig. Sollte dieses Eingreifen eine ständige Beobachtung des Anfallsgefährdeten voraussetzen, die wahrscheinlich nur unter einer Intensivstation ähnlichen Bedingungen gewährleistet wäre, dann würde es sich dabei nicht um eine ständige Wartung und Hilfe bei der Verrichtung der wiederkehrenden Tätigkeiten des täglichen Lebens handeln, sondern um eine Maßnahme zur Abwendung der bei Anfällen möglichen gesundheitlichen Schäden. Dazu ist aber der Hilflosenzuschuß, der keine Gefährdungszulage ist, nicht gedacht (ähnlich Brackmann aaO mwN und auch BSG 27. 2. 1963, Medizin im Sozialrecht B 290/31a und 19. 2. 1964, aaO B 290/33a). Der Revision war daher nicht Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Unter Bedachtnahme auf die rechtlichen Schwierigkeiten des Verfahrens und die Einkommensverhältnisse des Revisionswerbers war ihm trotz seines gänzlichen Unterliegens gegenüber dem Versicherungsträger ein Anspruch auf Ersatz der halben Revisionskosten zuzubilligen (SSV-NF 1/66; 2/29).
Anmerkung
E20767European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1990:010OBS00090.9.0313.000Dokumentnummer
JJT_19900313_OGH0002_010OBS00090_9000000_000