Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 20.März 1990 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bernardini als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Friedrich, Dr. Reisenleitner, Hon.Prof. Dr. Brustbauer und Dr. Kuch als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Wolf als Schriftführer, in der Strafsache gegen Elisabeth K*** und andere Angeklagte wegen des Verbrechens der Freiheitsentziehung nach § 99 Abs. 1 und Abs. StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten Elisabeth K***, Thomas K***, Christian C*** und Sigrid C*** gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 20.Dezember 1988, GZ 6 Vr 2407/87-82, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Tschulik, der Angeklagten Elisabeth K***, Thomas K***, Christian C*** und Sigrid C*** sowie der Verteidiger Dr. Wallner, Dr. Raabe und Dr. Krainer, der Privatbeteiligten Dr. Kathrin E*** und des Privatbeteiligtenvertreters Dr. Bergmüller zu Recht erkannt:
Spruch
Teils in Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerden und teils nach § 290 Abs. 1 StPO wird das angefochtene Urteil (zur Gänze) aufgehoben sowie die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Mit ihren Berufungen werden die Angeklagten Elisabeth K***, Thomas K***, Michael C*** und Sigrid C*** auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurden Elisabeth K***, Thomas K***, Werner E***, Michael C*** und Sigrid C***
der - von der Letztgenannten zum Teil als Beitragstäterin nach § 12 dritter Fall StGB begangenen - Verbrechen (1.) der schweren Nötigung nach §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 2 StGB und (2.) der Freiheitsentziehung nach § 99 Abs. 1 und Abs. 2 zweiter Fall StGB sowie alle Genannten außer Thomas K*** überdies (3.) des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 2 StGB schuldig erkannt. Darnach haben in Graz und Osterwitz
(zu 1.) sämtliche Angeklagten in der Zeit vom 25. bis zum 29. April 1987 Kathrin K*** mit Gewalt zur Duldung eines (während des gesamten Zeitraums unternommenen verbalen) "Deprogrammierungs"-Versuchs mit Bezug auf ihre geistig-seelische Abhängigkeit von der Sekte "Norweger-Bewegung" durch Ted P*** und Brenda N. genötigt, wobei sie die Genötigte durch die Gewalt längere Zeit hindurch in einen qualvollen Zustand versetzten, indem
a) Elisabeth K***, Thomas K***, E***, P*** und Brenda N. sie vom 25. bis zum 27.dM gegen ihren Willen in ihrer Wohnung gefangen hielten;
b) Thomas K*** und E*** überdies am 26.dM, um sie an Hilferufen und an Fluchtversuchen zu hindern, von den Fenstern und von der Balkontür der im vierten Stock gelegenen Wohnung die Griffe abmontierten;
c) Elisabeth K***, E***, P*** und Brenda N. ihr
vorerst mit einem Handtuch und später mit Leukoplast, welches Sigrid C*** beistellte, den Mund verschlossen, sie in der Folge an einen Sessel fesselten und ihre Hilferufe mittels eines gleichfalls von Sigrid C*** beigestellten Radioapparates übertönten; sowie
d) Elisabeth K***, E***, Michael C***, Sigrid
C***, P*** und Brenda N. sie am 27.dM gefesselt mit einem PKW in die sogenannte "Z***-Mühle" brachten und bis zu ihrer Flucht am 29.dM weiterhin gefangen hielten;
(zu 2.) sämtliche Angeklagten, P*** und Brenda N. durch ihr zuvor angeführtes Verhalten Kathrin K*** auf solche Weise widerrechtlich gefangen gehalten, daß die Freiheitsentziehung der Festgehaltenen besondere Qualen bereitete; und schließlich (zu 3.) Elisabeth K***, E***, Michael C*** und Sigrid C*** durch ihr unter (1.) c und d beschriebenes Verhalten Kathrin K*** am Körper mißhandelt und dadurch fahrlässig verletzt, weil die Mißhandelte hiebei ein Hämatom am linken Unterarm und zufolge der Fesselung an beiden Händen einen subjektiven Kraftverlust erlitt sowie in ihrem seelischen Wohlbefinden nicht unerheblich beeinträchtigt wurde.
Den von den Angeklagten Elisabeth K***, Thomas K***, Michael C*** und Sigrid C*** gegen dieses Urteil erhobenen Nichtigkeitsbeschwerden kommt insofern Berechtigung zu, als das Erstgericht aus irriger Rechtsansicht Tatsachen nicht festgestellt hat, die bei richtiger Anwendung des Gesetzes der Entscheidung über die Frage zugrunde zu legen wären, ob die Beschwerdeführer irrtümlich einen Sachverhalt angenommen haben, der ihr Tatverhalten wegen (sogenannten "übergesetzlichen") Notstands rechtfertigen würde (§ 8 StGB); derselbe - von den Genannten (zum Teil in Ausführung anderer Rügen) im Kern zutreffend geltend gemachte - Grund (§ 281 Abs. 1 Z 9 lit. b StPO) ist von Amts wegen auch zugunsten des Angeklagten E*** wahrzunehmen, der eine meritorisch zu erledigende Nichtigkeitsbeschwerde nicht ergriffen hat (§ 290 Abs. 1 StPO).
Rechtliche Beurteilung
Rechtlich verfehlt ist zunächst die Auffassung des Schöffengerichts, die Angeklagten hätten zugegeben, sich "der Rechtswidrigkeit ihrer Handlungsweise bewußt" gewesen zu sein (US 13, 15 vso f.). Gewiß haben Elisabeth K*** und E*** ein zur Tatzeit vorgelegenes Wissen ihrerseits (und zwar erstere) von der "Gesetzwidrigkeit" (S 161/I) und vom (grundsätzlichen) "Verboten-Sein" (S 111/II) sowie (letzterer) von der "Ungesetzlichkeit" (S 181/I) ihres inkriminierten Verhaltens eingeräumt, und auch den übrigen Beschwerdeführern kann angesichts der Offenkundigkeit ihrer Gesetzesverletzungen ein dahingehendes (Begleit-) Wissen - ungeachtet dessen, daß der Aktenlage entgegen der relevierten Urteilsbegründung kein Anhaltspunkt für die Annahme zu entnehmen ist, sie hätten das "zugegebenen" - zwanglos unterstellt werden. Jenes Wissen von der Tatbestandsmäßigkeit ihrer an sich verpönten Angriffe gegen die Freiheit und gegen die körperliche Unversehrtheit der Kathrin K*** ist aber im Hinblick auf die Denkbarkeit des Eingreifens von Rechtfertigungsgründen keineswegs auch schon zwangsläufig einem (bereits deswegen bei ihnen vorgelegenen und von ihnen zugestandenen) "Bewußtsein der Rechtswidrigkeit" gleichzusetzen.
Dazu haben sie vielmehr (ganz im Gegenteil) nach dem Sinngehalt ihrer Verantwortungen bei richtiger rechtlicher Beurteilung unmißverständlich einen - in Ansehung seiner Voraussetzungen und Wirkungen aus verschiedenen Normen des bürgerlichen Rechts und des Strafrechts im Weg der Rechtsanalogie erschließbaren und deshalb herkömmlicherweise als "übergesetzlich" bezeichneten (vgl. SSt 47/75 ua), der erstinstanzlichen Rechtsansicht (US 16 vso) zuwider auch zugunsten Dritter zulässigen (idS Nowakowski im WK § 3 Nachbem Rz 6, Kienapfel AT Z 12 RN 30 und in ÖJZ 1975 424, SSt 54/16; aM Leukauf-Steininger Komm2 § 3 RN 59,
SSt 47/75) - rechtfertigenden Notstand geltend gemacht. Denn mit ihrer in den Entscheidungsgründen im Kern durchaus sachgerecht zusammengefaßten Darstellung dahin, sie seien davon überzeugt gewesen, daß Mitglieder der Sekte seit Jahren, möglicherweise mit Mitteln der Hypnose, Einfluß auf die Psyche des zur Tatzeit im 27.Lebensjahr gestandenen Tatopfers ausgeübt und dadurch bei diesem eine "Wesensänderung im Sinne einer tiefgreifenden geistig-seelischen Gesundheitsstörung" herbeigeführt hätten, wobei der verfahrensgegenständliche "Deprogrammierungs"-Versuch nach dem angenommenen Scheitern anderer Behandlungsmethoden die "letzte Alternative" gewesen sei (US 13, 18 vso), haben sich die Angeklagten der Sache nach darauf berufen, die ihnen zur Last fallenden strafbaren Handlungen zur Ermöglichung der Fortsetzung dieses Versuchs als einzig verbliebenes, angemessenes (und aus ihrer Sicht möglichst schonend angewendetes) Mittel zum Zweck der Abwendung eines unmittelbar drohenden bedeutenden Nachteils für ein höherwertiges Rechtsgut begangen zu haben (vgl. Nowakowski aaO Rz 3 ff., Leukauf-Steininger aaO RN 49 ff., Kienapfel AT Z 12 und in ÖJZ 1975 421 ff., Triffterer AT 227 ff.). Daß ein damit reklamierter Rechtfertigungs-Sachverhalt tatsächlich vorgelegen wäre, hat das Erstgericht freilich nach den Urteilsfeststellungen deshalb rechtsrichtig verneint, weil es als erwiesen annahm, daß die Norweger-Bewegung keine "so ... in die Persönlichkeit der" inzwischen mit einem Angehörigen jener Glaubensgemeinschaft verheirateten und zum Doktor der gesamten Heilkunde promovierten "Kathrin E*** eingreifende Macht" ausübe, wie sie von den Angeklagten behauptet werde, und daß die Genannte zur Tatzeit (gleichwie zur Zeit der Urteilsfällung) auch nicht unter einem hypnotischen oder posthypnotischen Einfluß (der Sekte) stand, der die Freiheit ihrer Willensentscheidung (deren Intentionen entsprechend) beeinträchtigt oder aufgehoben hätte (US 9 f., 17 vso, 18 vso, 19 vso): darnach kann von einem (noch dazu eindeutigen) Überwiegen der dem maßgebenden Rechtsgüter- und Interessenvergleich zugrunde zu legenden Rechtsgutgefährdung gegenüber den von den Angeklagten zu deren Abwendung unternommenen erheblichen Eingriffen in die persönliche Freiheit und in die darauf bezogene (nach dem Gesagten objektiv trotz des Sekteneinflusses voll wirksam gewesene) Entscheidungsfreiheit des Opfers in der Tat nicht gesprochen werden. Denn im Fall einer auf freiem Willen beruhenden und (wie nach dem Gesagten festgestellt) mit keiner Gefährdung der psychischen Gesundheit verbundenen Zugehörigkeit eines (insoweit nicht in seiner Geschäftsfähigkeit beschränkten) Menschen zu einer - gleichwohl durch Gruppenzwang und Gruppendynamik autoritär strukturierten sowie einer rigiden Lebensauffassung mit asketischer Grundtendenz verpflichteten (US 9 vso iVm US 3 vso bis 6) - religiösen Gemeinschaft kommen folgerichtig weder dessen Entscheidungsfreiheit noch dessen psychische Gesundheit als bedrohte Rechtsgüter in Betracht. Das demgemäß im vorliegenden Fall - nach der aus objektiver Sicht freiwilligen Hintansetzung anderer (eigener) Interessen durch das Tatopfer in Ausübung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Glaubens- und Gewissenfreiheit (Art 14 StGG RGBl 1867/142, Art 9 MRK) - allein verbliebene mütterliche Interesse der Angeklagten Elisabeth K*** an der Wiederherstellung und Aufrechterhaltung einer durch Sekteneinflüsse ungestörten familiären Beziehung zu ihrer Tochter sowie an einer den herrschenden sozialen und religiösen Vorstellungen entsprechend normalen Lebensführung durch letztere (US 10, 13, 15 vso, 18, 19 f.) jedoch ist, wie das Schöffengericht zutreffend erkannt hat (US 17 vso), nach objektiven Kriterien den durch das Tatverhalten der Angeklagten empfindlich verletzten Rechten der Kathrin K*** auf ihre persönliche Freiheit und auf ihre Freiheit der Willensentscheidung darüber unzweifelhaft nachzuordnen.
Auch eine Entschuldigung der inkriminierten Straftaten wegen eines das Fehlen einer eindeutigen Höherwertigkeit des bedrohten Rechtsgutes (als rechtliche Voraussetzung eines rechtfertigenden Notstands) betreffenden (also "indirekten") Verbotsirrtums (§ 9 Abs. 1 StGB) hat das Erstgericht mit Rücksicht darauf im Ergebnis zu Recht abgelehnt (US 16), daß ein derartiger Rechtsirrtum wegen der leichten Erkennbarkeit jener Wertrelation und dementsprechend des durch die Rechtsgüterverletzung verwirklichten Tatunrechts für die Täter gleichwie für jedermann (§ 9 Abs. 2 erster Fall StGB) jedenfalls vorwerfbar wäre.
Zur weiteren Frage indessen, ob die Angeklagten in bezug auf jene Rechtsgutgefährdung, zu deren Abwendung sie den "Deprogrammierungs"-Versuch begonnen und in weiterer Folge die inkriminierten strafbaren Handlungen begangen haben, allenfalls irrtümlich einen anderen als den (soeben erörterten) festgestellten Sachverhalt angenommen haben und ob letzterer, wäre er wirklich vorgelegen, ihr an sich verpöntes Verhalten wegen eines "übergesetzlichen" Notstands gerechtfertigt hätte (§ 8 StGB), hat sich das Schöffengericht damit begnügt, ihnen im Hinblick auf ihre Sicht, derzufolge ihre eigene religiöse Überzeugung die einzig richtige, die der Sekte hingegen "verwerflich, ja geradezu gefährlich" sei, weil sie "vermeintlich die ganze Person erfasse, sodaß keine freie Willensbildung mehr möglich wäre", hypothetisch zu "konzedieren", daß sie "aufgrund verschiedener Informationen ... davon ausgehen konnten", die Norweger-Bewegung berge "in psychischer Hinsicht für ihre Mitglieder und insbesondere für Kathrin E*** eine Gefahr der Entfremdung von der Mutter und eine völlige Hinwendung zu dieser fundamentalistischen Religion" in sich (US 18). Mit dieser Einschränkung der Beurteilungsgrundlage - durch die es letztlich zur Auffassung bewogen wurde, vor allem "der überaus lange Deprogrammierungs-Versuch", durch den dem Opfer über jene längere Zeitspanne hin infolge "erheblicher psychischer und physischer Beeinträchtigung" besondere Qualen zugefügt worden seien, hätte "verhältnismäßig sicherlich schwerer" gewogen als der Nachteil, Kathrin K*** "als Zugehörige zur Norweger-Bewegung in dieser Sekte verbleiben zu lassen" (US 13 vso f., 19 vso) - hat es die entscheidenden Kriterien der hier im Rahmen des § 8 StGB aktuellen Notstandsproblematik verkannt.
Haben sich doch die Angeklagten mit ihrer eingangs resümierten Verantwortung essentiell darüber hinausgehend ausdrücklich auch darauf berufen, daß bei Kathrin K*** durch den jahrelangen Einfluß der Sekte auf sie bereits eine "tiefgreifende geistig-seelische Gesundheitsstörung" vorgelegen sei. Zum Beweis für eine dahingehende Überzeugung der Elisabeth K*** (US 13), die jene im Kern auch den übrigen Angeklagten vermittelt habe (vgl. hiezu insbes. S 165/I), wurde nicht nur auf Fachliteratur, wonach die zwanghafte Einflußnahme einiger Sekten auf ihre Mitglieder speziell bei Jugendlichen zu schwersten Gefahren für deren psychische und physische Gesundheit bis hin zur Schizophrenie und zum Selbstmord führen könne (vgl. S 115 bis 145/I und in ./A zu ON 11), sowie auf polizeiliche Ermittlungen (S 427, 431/I) hingewiesen, denen zufolge auch die Norweger-Sekte als besonders jugendgefährdend anzusehen sei (vgl. dazu auch S 491/I, 364/II), sondern zudem auf konkrete Fälle in Österreich mit Selbstmord und Selbstmordversuch (vgl. in ./A zu ON 11, S 353/I) sowie in bezug auf Kathrin K***, die im Alter von 16 Jahren von einem ihrer Mittelschullehrer für diese Sekte angeworben wurde (US 10), auf fachärztliche und fachpsychologische Befunde und Erklärungen, nach denen es sich bei ihr um einen "manipulierten", "entpersönlichten" und "unter Hypnose stehenden" Menschen im Stadium einer "Präparanoia" handle (vgl. S 91, 109/I und ./J zum Hauptverhandlungsprotokoll).
Dazu hätte das Erstgericht bei der Feststellung der für das strafbare Verhalten der Angeklagten maßgebend gewesenen Motivation unter dem darnach sehr wohl aktuellen Aspekt der irrtümlichen Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts unbedingt Stellung nehmen müssen.
Wird nämlich jemand fortlaufend durch massiven psychischen Einfluß, vor allem durch die schon für sich allein als überaus schwerwiegender Eingriff in die Entscheidungsfreiheit zu beurteilende Anwendung von Hypnose, aber auch durch ihr der Art und dem Gewicht nach gleichkommende Methoden derart weitgehend, daß er deswegen - und nicht etwa jeweils aus freiem Entschluß - auf die Wahrnehmung von nach den Maßstäben jenes Kulturkreises, dem er angehört, elementaren Lebensinteressen (wie hier: auf seine Gesundheit) zu verzichten gezwungen ist, seiner Freiheit zur Willensentscheidung beraubt, dann kann eine solche (von den Angeklagten ihrer Darstellung nach angenommene) Rechtsgutgefährdung nach Lage des Einzelfalles aus objektiver Sicht unter Umständen sehr wohl eindeutig schwerer wiegen als gleichwohl an sich ebenfalls gravierende, aber doch zeitlich (hier: mit maximal etwa einer Woche) und in ihren Auswirkungen angemessen begrenzte Eingriffe in seine persönliche Freiheit und in seine darauf bezogene Entscheidungsfreiheit sowie damit verbundene geringfügige Beeinträchtigungen seiner körperlichen Integrität, die letztlich allesamt wieder seinem fundamentalen eigenen Interesse an einem künftigen Schutz seiner bereits schwerstens beeinträchtigten Freiheit der Willensentscheidung dienen sollen.
Bei der Prüfung von einander widerstreitenden Interessen eines Tatopfers sind zur Beurteilung des Ausmaßes der Schutzbedürftigkeit des bedrohten Rechtsgutes einerseits im Vergleich zu der des aufzuopfernden anderseits in der konkreten Lebenssituation im Weg einer jeweils fallbezogen vorzunehmenden Rechtsgüter- und Interessenabwägung insbesondere die Art, die Nähe und die Intensität der drohenden Gefahr, die Dauerhaftigkeit und Bedeutung der zu vergleichenden Nachteile sowie die Größe der Rettungschancen miteinzubeziehen.
Im vorliegenden Fall wäre daher das Schöffengericht verpflichtet gewesen, sich damit auseinanderzusetzen, ob Elisabeth K*** und (vorwiegend darauf beruhend) auch die übrigen Angeklagten tatsächlich der irrigen Annahme waren, Kathrin K*** sei zur Tatzeit seitens der Sekte fortlaufend durch Hypnose oder durch eine ihr nach Art und Wirkung gleichkommende, also nicht bloß auf der (bis zu einem gewissen Grad normalen) massensuggestiven Wirkung mancher religiöser Veranstaltungen beruhende psychische Beeinflussung in ihrer Freiheit der Willensentscheidung so massiv beeinträchtigt gewesen, daß dadurch - über das Auslösen einer zur Askese und zur Verschrobenheit tendierenden Lebensführung durch sie hinaus sowie neben ihrer Veranlassung zu einer (im mitteleuropäischen Raum doch deutlich aus dem Rahmen fallenden) Unselbständigkeit bei der Berufswahl (US 10) und bei der Auswahl des Ehepartners (US 13) - sogar ihre psychische (und/oder physische) Gesundheit bedroht oder fortdauernd gestört worden sei. Falls es auch insoweit etwa - wie ersichtlich in Ansehung einer hypnotischen Beeinflussung (US 13, 16) - einen bloß bedingten (und deshalb im gegebenen Zusammenhang rechtsunerheblichen) Sachverhalts-Irrtum der Angeklagten als erwiesen angenommen hätte, bei dem sich letztere mit der Möglichkeit des Nichtvorliegens einer Gesundheitsstörung bei Kathrin K*** als rechtfertigender Tatumstand abgefunden haben würden, dann hätte das jedenfalls, wie zur Klarstellung vermerkt sei, im Hinblick auf die Behauptung einer dazu gegenteiligen Überzeugung ihrerseits (US 13) einer ausdrücklichen Begründung bedurft.
Die mithin dem Erstgericht in die aufgezeigte Richtung hin unterlaufenen, sämtliche Angeklagten betreffenden Feststellungsmängel erfordern die Urteilsaufhebung und die Zurückverweisung der Sache in die Tatsacheninstanz zu neuer Verhandlung und Entscheidung, ohne daß es erforderlich wäre, auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen (§ 288 Abs. 2 Z 3 zweiter Satz StPO).
Im zweiten Rechtsgang wird (unter sorgfältiger Auswertung aller zugänglichen Erkenntnisquellen) insbesondere zu beachten sein,
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daß die (hier von den Angeklagten allenfalls angenommene) fortlaufende hypnotische Beeinflussung eines Menschen als dauernde Gefährdung seiner Entscheidungsfreiheit dem Erfordernis eines "unmittelbaren Drohens" dieses bedeutenden Nachteils für ihn jedenfalls entspricht, daß das aber auch beim aktuellen Bevorstehen der Übersiedlung einer unter einem anderen massiven psychischen Einfluß der zuvor beschriebenen Art stehenden Person ins Ausland dann zutrifft, wenn damit (hier: nach der Vorstellung der eine Notstandssituation reklamierenden Täter) das konkrete Herannahen einer künftigen Beeinträchtigung ihrer Freiheit der Willensentscheidung in Ansehung elementarer Lebensbedürfnisse (hier: des Schutzes ihrer Gesundheit gegen Sekteneinflüsse) verbunden wäre;
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daß bei der Gewichtung der hier inkriminierten Rechtsgüterverletzung auch deren Begehung im Familien- und Bekanntenkreis sowie allenfalls eine daraus resultierende faktische Unnötigkeit ernsthafter Besorgnisse der Kathrin K*** um ihre persönliche Sicherheit, wie sie etwa bei einem gleichartigen Tatverhalten Unbekannter oder feindseliger Aggressoren angebracht wären, und zudem eine ihr immerhin gebotene Möglichkeit, jegliche Gewaltausübung gegen sie durch ein Erdulden ihrer damit angestrebten (zeitlich begrenzten) verbalen Inanspruchnahme bei den "Deprogrammierungs"-Gesprächen zu erübrigen, mitzuberücksichtigen sind;
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daß in Ansehung der von den Angeklagten angenommenen Aussicht auf einen Erfolg des Rettungs-Versuchs ausschließlich die ihnen vorgelegenen Beurteilungsgrundlagen, jene aber vollständig und aus ihrer Sicht zur Tatzeit zu prüfen sowie zum (Miß-) Erfolg der jahrelang vorausgegangenen Bemühungen, Kathrin K*** dem aus den dargelegten Gründen als schädlich betrachteten Einfluß der Sekte zu entziehen (vgl. US 6 vso f., 10 f.), in Relation zu setzen sind, wobei eine Verquickung dieser Frage mit der prinzipiellen Strafbarkeit des Tatverhaltens sachlich nicht indiziert ist;
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daß bei den Überlegungen dazu, ob der verfahrensgegenständliche Versuch einer "Deprogrammierung" der Kathrin K*** das letzte und mit möglichster Schonung eingesetzte Mittel zur damit angestrebten Rettung des bedrohten Rechtsgutes war, primär zu bedenken ist, ob die Genannte zur Tatzeit (noch) bereit war, sich einer konventionellen Betreuung durch Ärzte oder durch andere ihr wohlgesinnte Personen zu unterziehen, und ob eine solche angesichts ihrer bevorgestandenen Übersiedlung nach Norwegen überhaupt noch durchführbar gewesen wäre;
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daß hiebei des weiteren zunächst darauf abzustellen ist, ob bei der geplanten "Behandlung" durch Ted P*** (US 10 ff.) von vornherein der Einsatz von Zwangsmitteln vorgesehen war und erwartet wurde sowie bejahendenfalls inwiefern und in welchem Ausmaß;
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daß bei der Beurteilung der späteren Gewaltanwendung (unter dem Aspekt einer möglichst schonenden Anwendung des Rettungsmittels) eine mit der Ablehnung weiterer Gespräche durch die "Behandelte" nach außen hin anscheinend verbunden gewesene Steigerung der Imminenz der angenommenen Rechtsgutgefährdung einerseits sowie eine möglicherweise gerade aus jener Reaktion abgeleitete gesteigerte Hoffnung auf einen baldigen "Behandlungs"-Erfolg anderseits (vgl. etwa S 107 f., 121 f./II uva) nicht außer Betracht bleiben dürfen; und schließlich
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daß in die Frage, ob eine Rechtfertigung des inkriminierten Tatverhaltens durch "übergesetzlichen" Notstand allenfalls wegen einer auf die obersten Prinzipien und Wertbegriffe der Rechtsordnung bezogenen Unangemessenheit der Rettungshandlungen, vor allem infolge einer nach der Auffassung des Schöffengerichts damit verbundenen Verletzung der Menschenwürde der von ihnen Betroffenen (US 14), auszuschließen sei, wohl auch der "Deprogrammierungs"-Versuch als solcher (in seiner Bedeutung als unmittelbares Ziel der Tathandlungen einerseits und zugleich Mittel zur Rettung des bedrohten Rechtsgutes anderseits) einzubeziehen ist, daß die in zeitlichem Konnex damit ausgeübte inkriminierte Gewalt jedoch dann, wenn sie nicht ein Teil dieser "Behandlung" (vgl. Art 3 MRK) war, sondern (gleichwohl deliktisch, im hier aktuellen Zusammenhang aber doch) "nur" zur Aufrechterhaltung des dazu erforderlichen Gesprächs-Kontaktes eingesetzt wurde, einer Beurteilung des (für die involvierte Familie menschlich sehr tragischen) Gesamtgeschehens als sozialethisch (gerade noch) billigenswerte Lösung nach der besonderen Lage des Falles nicht entgegensteht.
Anmerkung
E20211European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1990:0150OS00041.89.0320.000Dokumentnummer
JJT_19900320_OGH0002_0150OS00041_8900000_000