Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Felix Joklik (Arbeitgeber) und Gerald Kopecky (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Martha C***, 1230 Wien, Dimhirngasse 16/8/18, vertreten durch Dr. Anton Gruber und Dr. Arno Gruber, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A***, 1021 Wien, Friedrich
Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei und Rekurses der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 6. November 1989, GZ 31 Rs 198/89-19, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 29. März 1989, GZ 19 Cgs 108/88-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten. Der Kostenrekurs der Klägerin wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 1. Februar 1988 die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren und trug der beklagten Partei die Erbringung einer vorläufigen Zahlung von 5.000 S monatlich auf. Es gelangte zum Ergebnis, daß die am 20. April 1942 geborene Klägerin, die zuletzt als Laborangestellte tätig war, auf Grund des medizinischen Leistungskalküls, wonach kontinuierliches Gehen, Stehen oder Sitzen nicht länger als 45 Minuten möglich sind und nach dieser Zeit einen Haltungswechsel im Ausmaß von 10 bis 15 Minuten erfordern, weder in ihrem zuletzt ausgeübten Beruf, noch sonst auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar sei und daher als berufsunfähig im Sinne des § 273 Abs 1 ASVG gelte.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen des gerügten Verfahrensmangels und trat der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes bei. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Klagsabweisung, hilfsweise Aufhebung und Zurückverweisung an das Erstgericht. Die Klägerin beantragte, der Revision nicht Folge zu geben. Sie erhob überdies einen Kostenrekurs, weil das Berufungsgericht über die Kosten ihrer Berufungsbeantwortung nicht entschieden habe.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist im Sinne ihres Eventualantrages berechtigt. Wie der Oberste Gerichtshof wiederholt ausgesprochen hat (SSV-NF 2/57, 2/60, 2/71, 3/2; 10 Ob S 188/89 = SSV-NF 3/99 - in Druck - ua) ist der Eintritt des Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit ausschließlich nach der tatsächlichen Berufstätigkeit des Versicherten zu beurteilen. Es kommt daher nicht darauf an, ob er als Arbeiter oder Angestellter eingeordnet war, sondern ob er Arbeiter- oder Angestelltentätigkeiten verrichtet hat. Der Anspruch des Pensionswerbers, der trotz seiner Versicherung als Angestellter Arbeitertätigkeiten verrichtet hat, ist nach dem Invaliditätsbegriff des § 255 ASVG zu beurteilen. Die Bestimmungen des § 255 Abs 1 ASVG und des § 273 Abs 1 ASVG unterscheiden sich in erster Linie dadurch, daß in jenem Fall jede während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag im Sinne des § 255 Abs 2 ASVG überwiegend ausgeübte Berufstätigkeit zu berücksichtigen ist, während es in diesem Fall im allgemeinen auf die zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit ankommt (SSV-NF 1/68, 2/73 mwN ua). War ein - Arbeitertätigkeiten verrichtender - Versicherter nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig, so kann er gemäß § 255 Abs 3 ASVG auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden (SSV-NF 1/4, 2/34, 2/50 ua).
Die noch nicht 55 Jahre alte Klägerin war nach den Feststellungen der Vorinstanzen zuletzt (nach den im Anstaltsakt liegenden Unterlagen in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag ausschließlich) als "Laborangestellte" tätig. Die Art der von ihr effektiv verrichteten Tätigkeiten wurde weder geprüft noch festgestellt; der berufskundliche Sachverständige beschrieb nur ganz allgemein und dabei nahezu wörtlich den Ausführungen im Berufslexikon Band II "Ausgewählte Berufe", 8.Aufl. 1985 S. 287 Stichwort "Laborgehilfe (Sanitätshilfsdienst)" folgend, das Berufsbild eines Laborgehilfen (einer Laborgehilfin). Die Klägerin wurde weder vom berufskundlichen Sachverständigen im Rahmen seiner Befundaufnahme noch vom Erstgericht als Partei darüber vernommen, welche Tätigkeiten sie auf ihrem Arbeitsplatz (bzw. auf ihren Arbeitsplätzen) effektiv verrichtete. Ob dies höhere nicht kaufmännische Dienste im Sinne des § 1 Abs 1 AngG waren, kann mangels ausreichender Feststellungen der Vorinstanzen nicht beurteilt werden. Grundsätzlich wäre ein mit Hilfsdiensten betrauter, unter ständiger Überwachung tätiger Laborant nicht als Angestellter zu qualifizieren (Martinek-Schwarz AngG6 61 unter Hinweis auf ArbG Linz Arb 5831; vgl. auch Dungl, Handbuch des öst.ArbR 35; Spielbüchler in Floretta-Spielbüchler-Strasser, ArbR I3 62 f).
Schon das Erstgericht hat die geminderte Arbeitsfähigkeit der Klägerin nur nach § 273 (Abs 1) ASVG geprüft, dabei aber - auch insoweit dem berufskundlichen Sachverständigen
folgend - ausschließlich auf Angestelltentätigkeiten in der "Verwendungsgruppe 2 oder 3" abgestellt, ohne einen bestimmten Kollektivvertrag zu nennen. Welcher Kollektivvertrag auf das Dienstverhältnis der Klägerin anzuwenden wäre, wurde nicht untersucht; in Betracht kämen etwa die Kollektivverträge für Angestellte oder für Arbeiter der chemischen Industrie. Während das Erstgericht meinte, es gebe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Tätigkeiten "in der Verwendungsgruppe 2 oder 3", die mit dem Leistungskalkül der Klägerin, insbesondere dem Erfordernis des Haltungswechsels, vereinbar wären, ging das Berufungsgericht so weit, ihre Verweisbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt überhaupt und ohne Einschränkung zu verneinen. Die Klägerin muß spätestens nach 45 Minuten, die sie ununterbrochen in einer Körperhaltung gearbeitet hat, im Ausmaß von 10 bis 15 Minuten in einer anderen Körperhaltung weiterarbeiten können. Die erstgerichtliche, auf dem berufskundlichen Gutachten fußende Feststellung, bei der Tätigkeit einer "Laborangestellten" seien leichte Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen zu verrichten, wobei ein Haltungswechsel nach 45 Minuten oder kürzer "vielfach" nicht ermöglicht würde, ist ungenügend, weil der Ausdruck "vielfach" nichts darüber aussagt, ob und wieviele Arbeitsplätze es gibt, die den verlangten Haltungswechsel ermöglichen. Dies betrifft auch die vom Erstgericht geprüften Verweisungstätigkeiten wie die einer Telefonistin, Karteiarbeiten, diverse Arbeiten im Ein- und Verkauf, im Postein- und -auslauf und andere Kanzleihilfstätigkeiten. Es kommt nicht darauf an, ob das Leistungskalkül auf einzelnen Arbeitsplätzen überschritten würde, sondern ob und wieviele Arbeitsplätze es gibt, deren Anforderungen mit dem Leistungskalkül der Klägerin vereinbar sind. Diese Frage kann nach den Feststellungen der Vorinstanzen nicht beantwortet werden.
Das Verfahren erweist sich daher in mehrfacher Hinsicht als ergänzungsbedürftig. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht zunächst die erforderlichen Feststellungen zu treffen haben, um prüfen zu können, ob der Klägerin auf Grund ihres Leistungskalküls die Ausübung der zuletzt effektiv verrichteten Berufstätigkeit weiterhin zugemutet werden kann; wenn dies nicht der Fall ist, ob der Anspruch der Klägerin auf Berufsunfähigkeitspension entsprechend ihrer Leistungszugehörigkeit zur Pensionsversicherung der Angestellten nach § 273 Abs 1 ASVG zu beurteilen ist oder ob hiefür § 255 ASVG maßgebend ist. Je nach dem Ergebnis, das die rechtliche Beurteilung dieser Feststellungen bringt, wird zu prüfen sein, welche Verweisungstätigkeiten die Klägerin auf Grund ihres Leistungskalküls noch verrichten kann und ob hiefür Arbeitsplätze in ausreichender Zahl (vgl. SSV-NF 3/70) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorhanden sind.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
Der Kostenrekurs der Klägerin ist unzulässig. Abgesehen davon, daß auch in Sozialrechtssachen eine Anfechtung der Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz im Kostenpunkt ausgeschlossen wäre (SSV-NF 2/82 ua), hat das Berufungsgericht im vorliegenden Fall eine Kostenentscheidung gar nicht getroffen, wozu bemerkt wird, daß die Berufungsbeantwortung erst am 27. Juni 1989 und damit um einen Tag verspätet zur Post gegeben wurde, weshalb auf sie nicht Bedacht zu nehmen war (Fasching, ZPR2 Rz 1785 mwN).
Anmerkung
E20788European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1990:010OBS00046.9.0327.000Dokumentnummer
JJT_19900327_OGH0002_010OBS00046_9000000_000