Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Flick als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Warta, Dr. Egermann, Dr. Niederreiter und Dr. Schalich als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Konstantin H***, geb. am 8. November 1979, infolge Revisionsrekurses der Mutter Sneja H***, Musikpädagogin, Santa Cruz de Tenerife, Apertado 641, Spanien, vertreten durch Dr. Alfred Haslinger ua., Rechtsanwälte in Linz, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Linz als Rekursgericht vom 8. Februar 1990, GZ. 18 R 77/90-129, womit die einstweilige Anordnung des Bezirksgerichtes Linz vom 1. Februar 1990, GZ. 3 P 73/83-123, abgeändert wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben. Die einstweilige Anordnung des Erstgerichtes vom 1. Februar 1990, ON 123, wird wiederhergestellt.
Text
Begründung:
Die am 26. April 1979 geschlossene Ehe der Eltern des mj. Konstantin - die Mutter ist gebürtige Bulgarin; sie hatte in ihrem Heimatland eine Musikausbildung an einem Konservatorium erhalten und sich ab 1973 in Paris aufgehalten, um sich als Opernsängerin ausbilden zu lassen; der Vater ist Magistratsbeamter in Linz - wurde im September 1984 einvernehmlich geschieden. Die häusliche Gemeinschaft der Ehegatten war schon im Februar 1983 aufgehoben worden. Mit dem vor dem Erstgericht abgeschlossenen Vergleich vom 14. Juni 1983 kamen die Eltern des Minderjährigen überein, daß die Obsorge für das Kind der Mutter allein zusteht. Nach der Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft der Ehegatten lebte die Mutter allein mit dem mj. Konstantin in der Ehewohnung. Da sie die Nostrifizierung ihrer Prüfungen in die Wege leiten wollte, brachte sie das Kind im September 1984 zu ihrem damals 70 Jahre alten Vater nach Bulgarien; sie selbst hielt sich in der Folge wieder in Paris auf. Im Mai 1985 starb der mütterliche Großvater. Die Mutter nahm den mj. Konstantin nun wieder zu sich nach Paris. Es ergaben sich bald Schwierigkeiten mit der Betreuung des Kindes. Mit Einverständnis des Vaters wurde der mj. Konstantin im Juni 1985 ohne Begleitung seiner Mutter zum Vater gebracht und sollte nach Vorstellung der Mutter vorübergehend bis zum Abschluß der Nostrifizierung, von der die Mutter hoffte, es werde dies bis Ende des Jahres 1985 der Fall sein, dessen Obhut anvertraut sein. Mit Beschluß des Erstgerichtes vom 2. Juli 1986 wurde die Obsorge für das Kind dem Vater über seinen (bereits) am 11. Juni 1985 gestellten Antrag übertragen. Die Mutter hatte sich bei ihrer Einvernahme am 6. November 1985 dagegen ausgesprochen. In der Begründung des Beschlusses wurde festgehalten, das Kind habe sich in unbeeinflußter Weise für einen Verbleib beim Vater ausgesprochen. Die Mutter sei zudem nicht erreichbar gewesen. Sie habe Österreich offensichtlich schon wieder verlassen, ohne mit dem Pflegschaftsgericht Verbindung aufzunehmen.
Am 7. Oktober 1986 erschien die Mutter beim Erstgericht. Es wurde ihr der Beschluß vom 2. Juli 1986 ausgefolgt, dessen Zustellung an sie durch Hinterlegung unter der Anschrift der früheren Ehewohnung erfolgt war. Sie gab an, sich stets in Paris unter einer dem Pflegschaftsgericht bekannten Adresse aufgehalten zu haben. Da sie keine Möglichkeit gehabt habe, ein Rechtsmittel gegen den Beschluß zu erheben und auch in Österreich nicht vertreten gewesen sei, beantrage sie, ihr die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rekursfrist zu bewilligen. Gleichzeitig erhob sie gegen den Beschluß vom 2. Juli 1986 Rekurs mit dem Antrag, den Antrag des Vaters auf Übertragung der Obsorge abzuweisen oder ihn zur Verfahrensergänzung aufzuheben. Sollte dem nicht stattgegeben werden, beantrage sie, die Obsorge für das Kind ihr zu übertragen und für die Dauer des Verfahrens eine Besuchsrechtsregelung zu treffen.
Über den Wiedereinsetzungsantrag (auf den im Schriftsatz vom 27. Oktober 1986 noch einmal hingewiesen wurde) und über den Rekurs der Mutter wurde niemals entschieden.
Mit Vergleich vom 12. Juni 1987 wurde der Mutter ein Besuchsrecht derart eingeräumt, daß sie das Kind jeweils am zweiten Wochenende in jedem zweiten Monat ab Juli 1987 jeweils am Freitag und am Samstag von 14 bis 17 Uhr, übergeben erhalte. Dem Vergleich liegt das Gutachten des Psychologen Dr. Rudolf I*** zugrunde, wonach es zwar keine Hinweise gebe, die die Mutter als ungeeignet für die Wahrnehmung der Erziehungsinteressen des Kindes erscheinen lassen, die Beziehung zur Mutter aber nicht problemlos, sondern - vornehmlich nicht auf der Basis eigener Erlebnishorizonte - vom Minderjährigen "negativ besetzt" sei. Bedeutender für das Wohl des Kindes sei die Aufrechterhaltung eines konstanten Beziehungsgefüges.
Im Februar 1988 beantragte die Mutter abermals, ihr die Obsorge für das Kind wieder zu übertragen. Mit Beschluß vom 26. August 1988 wies das Erstgericht diesen Antrag ab; einem von der Mutter dagegen erhobenen Rekurs wurde nicht Folge gegeben.
Am 11. März 1988 holte die Mutter den mj. Konstantin in Ausübung ihres Besuchsrechtes beim Vater ab. Um 16,45 Uhr desselben Tages rief sie den Vater an und erklärte ihm, sie bringe das Kind nicht zurück und gebe auch ihren Aufenthaltsort nicht bekannt. Der Vater erstattete noch am gleichen Tag Anzeige wegen Entziehung des Minderjährigen aus der Macht des Erziehungsberechtigten. Ein Strafverfahren ist bei der Staatsanwaltschaft Linz anhängig gemacht worden. Die eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen blieben lange Zeit erfolglos. Mit Beschluß vom 16. März 1988 setzte das Erstgericht über Antrag des Vaters das der Mutter eingeräumte Besuchsrecht mit sofortiger Wirkung aus. In einem Schriftsatz des Vaters vom 17. Juni 1988 scheint erstmals die Anschrift der Mutter mit Teneriffa auf.
Nach der bestätigenden Entscheidung des Rekursgerichtes gegen jenen Beschluß, mit dem der Antrag der Mutter, ihr die Obsorge für das Kind zu übertragen, abgewiesen worden war, leitete der Vater die Rückführung des Kindes aus Teneriffa auf Grund des Übereinkommens über die Vollstreckung von Sorgerechtsentscheidungen, BGBl. 321/1985, in die Wege.
Am 29. Jänner 1990 stellte die Mutter durch ihren Vertreter neuerlich einen Antrag auf Übertragung der Obsorge. Sie habe einer Zeitungsmeldung entnommen, daß der Vater unterwegs sei, um das Kind in Spanien zu übernehmen. Ein solcher Schritt sei für das Kind derzeit nicht zu verantworten, weil es sich seit März 1988 ausschließlich bei seiner Mutter befunden und eine Beziehung zu dieser entwickelt habe, die ohne schweren Schaden für das Kind nicht abgebrochen werden könne. Das Kind besuche eine deutsche Schule in Teneriffa und weise einen guten Schulfortschritt auf. Die Mutter sei zu jedem persönlichen und finanziellen Opfer für das Kind bereit, während der Vater das Kind, solange es bei ihm gewesen sei, entweder unbeaufsichtigt gelassen habe oder von seiner Lebensgefährtin habe beaufsichtigen lassen. Nach der zweijährigen Unterbringung bei der Mutter in einem für das Kind offenbar sehr vorteilhaften Klima biete die Mutter dafür Gewähr, daß sie sich auch in Zukunft um das Kind ordentlich kümmern werde. Es sei zweifellos zum Wohl des Kindes, daß es bei der Mutter belassen werde und es müsse getrachtet werden, daß nicht durch Vollstreckungsmaßnahmen ein schwerer psychischer Schaden beim Kind angerichtet werde.
Am 31. Jänner 1990 beantragte der Vertreter der Mutter telefonisch die Erlassung einer einstweiligen Anordnung, die Obsorge für das Kind vorläufig der Mutter einzuräumen und dem Vater die Entfernung des Minderjährigen aus der Pflege und Erziehung der Mutter zu untersagen. Die Ereignisse hätten sich dramatisch zugespitzt. Die Kindesabnahme stehe unmittelbar bevor, der Vater des Kindes sei bereits auf Teneriffa und suche seit drei oder vier Tagen nach dem Kind. Die Mutter halte das Kind versteckt und sei mit ihm auf der Flucht. Das Kind wolle bei der Mutter bleiben und nicht zum Vater zurückkehren.
Mit einstweiliger Anordnung vom 1. Februar 1990 sprach das Erstgericht aus, daß die Obsorgerechte für das Kind vorläufig der Mutter allein zustehen und der Vater vorläufig nicht berechtigt ist, das Kind gegen den Willen der Mutter aus deren Pflege und Erziehung zu entfernen; und daß diese einstweilige Anordnung bis zur endgültigen Entscheidung über den Antrag der Mutter gelte, ihr die Obsorge für das Kind zu übertragen. Das Erstgericht nahm als bescheinigt an, daß der Minderjährige die deutsche Schule in Teneriffa besuche und von seiner Mutter finanziell versorgt werde. Aus den vorgelegten schriftlichen Unterlagen gehe hervor, daß das Kind bei seiner Mutter bleiben wolle. Im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens sei nochmals zu prüfen, ob die Maßnahme nicht dem Kindesinteresse zuwiderlaufe. Eine Rückkehr des Kindes zu seinem Vater nach fast zwei Jahren würde wieder einen einschneidenden Wechsel in der Erziehung und in der sozialen Umgebung des Kindes bedeuten. Wie weit dadurch das Kindeswohl ernstlich gefährdet und dem Minderjährigen ein schwerer psychischer Schaden zugefügt würde, könne erst nach Einholung weiterer Beweise beurteilt werden. Dies rechtfertige die begehrte einstweilige Maßnahme.
Das Rekursgericht hob die Entscheidung ersatzlos auf und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig ist. Ein telefonischer Antrag sei rechtsunwirksam: Doch habe das Gericht jederzeit auch von Amts wegen das Wohl des Kindes zu beachten, wodurch die Rechte der Eltern eine Einschränkung erführen. Selbst rechtskräftig zuerkannte Verfügungsrechte müßten nachstehen. Dies könne jedoch nicht soweit gehen, daß die bloße Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls durch die Vollstreckung einer Entscheidung des Außerstreitgerichts automatisch zur Aussetzung der Vollstreckung führe. Die Rückführung eines entführten Kindes sei bei einer Weigerung des Entführers, das Kind herauszugeben, immer mit einer psychischen Belastung für das Kind verbunden. Die Antragstellung eines nicht obsorgeberechtigten Elternteils, ihm die Obsorge für das Kind zu übertragen, könne nur dann zu einer Aussetzung eines laufenden Vollstreckungsverfahrens führen, wenn Umstände hervorkommen oder glaubhaft gemacht werden, die eine schwere Beeinträchtigung des Kindeswohles im Fall der Durchführung der Zwangsmaßnahme befürchten lassen. Die von der Mutter geltend gemachten Umstände seien nicht so gravierend, daß die Aussetzung der zwangsweisen Rückführung des Kindes zum Erziehungsberechtigten geboten erscheine. Zwar schließe der Umstand, daß die Mutter das Kind listig aus der Pflege des Vaters entführt habe, nicht von vornherein aus, daß sie eine geeignete Pflegeperson für das Kind sei, doch dürfe dieser Umstand bei Würdigung ihrer charakterlichen Eignung als Erzieherin nicht unberücksichtigt bleiben. Zu berücksichtigen sei, daß die Mutter es 1984 vorgezogen habe, das Kind ihrem 70 Jahre alten Vater in Bulgarien, der nicht deutsch gesprochen habe, anzuvertrauen, und es nach dessen Tod wegen weiterer Schwierigkeiten bei der Betreuung in Paris zu seinem Vater geschickt habe. Die Mutter sei demnach jederzeit bereit, die Interessen des Kindes ihrer beruflichen Karriere zu opfern. Gemäß § 13 Abs. 1 Z 3 AußStrG sei auszusprechen gewesen, daß der ordentliche Revisionsrekurs nach § 14 Abs. 1 AußStrG nicht zulässig ist, weil die anstehenden Rechtsfragen im Einklang mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes behandelt worden seien. Der von der Mutter erhobene außerordentliche Revisionsrekurs ist zulässig, zumal das Rekursgericht ungeachtet von im wesentlichen zutreffend wiedergegebenen Rechtssätzen zu einer im vorliegenden Fall nicht zu billigenden Entscheidung gelangt ist, weil es das Gewicht dieser Rechtssätze im einzelnen nicht entsprechend gewürdigt hat.
Rechtliche Beurteilung
Nach der Entscheidung JBl. 1979, 366 (krit. Schwimann), der ein mit dem vorliegenden vergleichbarer Sachverhalt zugrundelag, hat es ein Elternteil, der ein Kind eigenmächtig an sich bringt, nicht in der Hand, das Verfahren so lange hinauszuzögern, bis er unter Hinweis auf die Notwendigkeit einer ruhigen und stetigen Erziehung die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes ablehnen kann:
Vielmehr hat eine solche "faktische Situation" bei der Entscheidung über die Erziehungsberechtigung außer Betracht zu bleiben. In anderen Entscheidungen wird die Ansicht vertreten, auch ein rechtsmißbräuchliches Ansichbringen eines Kindes müsse nicht grundsätzlich dazu führen, daß dem anderen Elternteil die Obsorge für das Kind zuerkannt werde, doch könnten aus dem rechtswidrigen Verhalten eines Elternteils Schlüsse auf seine mangelnde Eignung als Erzieher gezogen werden (EvBl. 1972/244; EvBl. 1974/38; EFSlg. 33.633; EFSlg. 48.431; ÖAmtsVmd 1985, 142).
Zu beachten ist, daß die vorgenannte Judikatur erstmalige Entscheidungen über die Zuerkennung der Obsorge betrifft und, daß die Übertragung der einem Elternteil bereits zuerkannten Obsorge nur unter den Voraussetzungen des § 176 Abs. 1 ABGB angeordnet werden darf (EFSlg. 56.775 ua.). Eine Entziehung der Elternrechte ist nur zulässig, wenn dies im Interesse des Kindes dringend geboten ist, wobei bei Beurteilung dieser Dringlichkeit ein strenger Maßstab anzulegen ist (EFSlg. 56.781 ua.); es müssen besonders wichtige Gründe vorliegen (EFSlg. 56.779).
Zu beachten ist auch, daß bei vorläufigen Maßnahmen der endgültigen Entscheidung nicht ohne zwingende Notwendigkeit vorgegriffen werden darf, und daß bei vorläufiger Zuweisung des Sorgerechtes keine für die Kontinuität der Pflege und Erziehung bei der endgültigen Entscheidung unberücksichtigt zu lassende, bloß faktische Situation, sondern ein sehr wohl zu berücksichtigender gesetzmäßiger Aufenthalt des Kindes bei einem Elternteil gegeben wäre. Maßgebend ist jedoch, daß bei Entscheidungen, die das Sorgerecht über Kinder betreffen, das Kindeswohl beachtet wird. Soll durch eine vorläufige Anordnung ein tatsächlich bestehender Zustand gebilligt werden, müssen hiefür ganz besondere und zwingende Gründe vorliegen (SZ 59/160).
Die durch einen Milieuwechsel hervorgerufene Belastung des Kindes kann im Einzelfall je nach der Art der Umstellung, dem Alter und der Sensibilität des Kindes sehr verschieden sein. Demgemäß ist dieser Belastung im Einzelfall auch verschiedenes Gewicht beizumessen (7 Ob 632/77). Bei der Zuteilung der Elternrechte ist das Kindeswohl ausschlaggebend (EFSlg. 54.038 ua.). Eine Änderung der Pflege- und Erziehungsverhältnisse soll nach Möglichkeit vermieden werden, weil ein wesentlicher Grundsatz jeder Erziehung ihre Stetigkeit und Dauer ist (EFSlg. 48.430). Ein Wechsel des Pflegeortes, der stets ein Herausreißen des Kindes aus der gewohnten Umgebung bedeutet und ihm erspart bleiben soll, soll nur ausnahmsweise angeordnet werden, wenn dies wegen einer Änderung der Verhältnisse im Interesse des Kindes notwendig ist (EFSlg. 43.388, EFSlg. XVII/3 = EvBl. 1981/82).
Der mj. Konstantin befand sich nach Auflösung der häuslichen Gemeinschaft seiner Eltern im Februar 1983 bis zum Mai 1985 auf Grund eines vor dem Pflegschaftsgericht abgeschlossenen Vergleiches vom 14. Juni 1983 in Obsorge der Mutter, die die Pflege und Erziehung in der Zeit vom September 1984 bis Mai 1985 durch ihren Vater in Bulgarien ausübte. Im Juni 1985 gab die Mutter das Kind mit Einverständnis des Vaters in dessen Pflege: Es sollte dies jedoch ein vorübergehender Zustand sein, bis sie ihre Ausbildung abgeschlossen habe, was bis etwa Ende des Jahres 1985 der Fall sein sollte. Der Vater stellte allerdings bereits am 11. Juni 1985 den Antrag auf Übertragung der Obsorge für das Kind und es wurde ihm auch bereits mit Beschluß vom 3. Juli 1985 die vorläufige Obsorge übertragen. Nachdem die Mutter am 7. Oktober 1986 erfahren hatte, daß die (endgültige) Obsorge für das Kind mit Beschluß vom 2. Juli 1986 dem Vater übertragen worden war, bemühte sie sich, die Obsorge wiederzuerlangen, während der Verfahrensdauer jedoch ein Besuchsrecht eingeräumt zu erhalten: Über ihre Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rekursfrist gegen den Beschluß vom 2. Juli 1986 und den gegen diese Entscheidung erhobenen Rekurs ist niemals entschieden worden. Der am 2. Februar 1988 neuerlich gestellte Antrag auf Übertragung der Obsorge - über den am 7. Oktober 1986 gestellten Antrag wurde ebensowenig entschieden wie über den Wiedereinsetzungsantrag gegen die Versäumung der Rekursfrist gegen den Beschluß vom 2. Juli 1986 - wurde unter dem Eindruck der Entführung des mj. Kindes durch seine Mutter vom 11. März 1988 ohne Anhörung von Kind und Mutter abgewiesen. Seit März 1988 befindet sich das Kind jedoch tatsächlich bei seiner Mutter auf Teneriffa. Es darf bei der Entscheidung über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter nicht unbeachtet bleiben, daß sie die Ausübung der Pflege und Erziehung des Kindes durch den Vater, als sie diesem das Kind im Juni 1985 "überließ", als etwas Vorübergehendes ansah, daß sie vom Verfahren zur Entscheidung über den Antrag des Vaters vom 11. Juni 1985, die Obsorge ihm zu übertragen, im wesentlichen ausgeschaltet war, und daß über den von ihr gegen den Beschluß vom 2. Juli 1986 erhobenen Rechtsbehelf bisher nicht entschieden wurde. Hat aber auch die Unterlassung der Zurückstellung des Kindes nach Ausübung des Besuchsrechtes am 11. März 1988, seine Verbringung nach Teneriffa und sein Verbleiben bei der Mutter gegen die gerichtlichen Anordnungen verstoßen, kann doch nicht übersehen werden, daß sich das Kind seit zwei Jahren in Pflege und Erziehung seiner Mutter befindet, ohne daß etwas Nachteiliges dagegen vorgebracht worden wäre. Ist das Wohl des Kindes der oberste Grundsatz bei pflegschaftsgerichtlichen Entscheidungen und soll eine Änderung der Pflege- und Erziehungsverhältnisse nach Möglichkeit vermieden werden, erscheinen die Voraussetzungen für die Erlassung einer vorläufigen Maßnahme, die dahin zielt, jahrelange, wenn auch nur faktisch bestehende Verhältnisse bis zur Entscheidung über den Antrag der Mutter, ihr die Obsorge für das Kind zu übertragen, nicht zu verändern, gegeben. Der erkennende Senat schließt sich auch für den Fall einer neuerlichen Entscheidung über die Zuerkennung der Obsorge der Ansicht an, ein rechtsmißbräuchliches Ansichbringen des Kindes müsse nicht dazu führen, daß dem andern Elternteil die Obsorge für das Kind zuerkannt wird, und daß lediglich aus dem Verhalten des "Entführers" Schlüsse auf dessen Eignung als Erzieher gezogen werden können. Der Umstand, daß die Mutter das Kind zunächst für etwa ein halbes Jahr in Pflege des mütterlichen Großvaters gab und in der Folge für etwa ein Jahr in Pflege des Vaters geben wollte, um ihre Ausbildung beenden zu können, spricht mit Rücksicht auf das Verhalten der Mutter im übrigen, insbesondere ab Oktober 1986, entgegen den Ausführungen des Rekursgerichtes keineswegs dafür, daß die Mutter jederzeit bereit sei, die Interessen des Kindes ihren beruflichen Interessen zu opfern und spricht auch nicht gegen ihre Eignung als Erzieherin. Die Mutter konnte auch nicht wohl vorhersehen, daß der Vater, nachdem er sich bereit erklärt hatte, "vorübergehend" das Kind in seine Pflege zu übernehmen, nach nur wenigen Tagen den Antrag stellen würde, ihm die Obsorge zu übertragen, und in der Folge bestrebt sein werde, ihren Kontakt mit dem Kind zu unterbinden.
Eine bis zur Entscheidung über den Antrag der Mutter, die Obsorge für das Kind ihr zu übertragen, allenfalls nur vorübergehende Umstellung auf jene Verhältnisse, die das Kind bei seinem Vater vorfände, würde für das Kind eine schwere Belastung bedeuten, die mit jener der Unterbringung in einem Internat entgegen der Ansicht des Rekursgerichtes nicht verglichen werden kann. Eine derartige Umstellung widerspräche daher sowohl dem Grundsatz der Kontinuität der Erziehung als auch jenem des Wohles des Kindes. Es war deshalb dem Rekurs stattzugeben und die Entscheidung des Erstgerichtes wiederherzustellen.
Anmerkung
E20992European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1990:0070OB00568.9.0405.000Dokumentnummer
JJT_19900405_OGH0002_0070OB00568_9000000_000