Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 15.Mai 1990 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bernardini als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Friedrich, Dr. Reisenleitner, Hon.Prof. Dr. Brustbauer und Dr. Kuch als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Dr. Fink als Schriftführerin, in der Privatanklage- und Mediensache des Dkfm. Ferdinand L*** gegen 1.) Johannes V*** und
2.) FPÖ-Bundesparteileitung wegen 1.) des Vergehens der üblen Nachrede nach § 111 Abs. 1 und 2 StGB und 2.) Entgegnung nach § 14 Abs. 1 MedG über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Beschlüsse des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 10.Oktober 1989, GZ 9 b E Vr 4673/89 (ON 25 und ON 26), sowie den Vorgang, daß Dr. Fred S*** und Karl B*** in der Hauptverhandlung vom 10. Oktober 1989, dieses Aktenzeichens, zur Ablegung des Zeugnisses verhalten wurden, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Raunig, des Privatanklagevertreters Dr. Charim, des Vertreters des betroffenen Beteiligten Karl B***, Dr. Wildmoser, und des Verteidigers des Angeklagten Johannes V***, Dr. Prader, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten zu Recht erkannt:
Spruch
In den (zu gemeinsamer Beweisaufnahme verbundenen) Verfahren zu den AZ 9 b E Vr 4673/89 und 9 b E Vr 8663/89 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien ist in der Hauptverhandlung vom 10.Oktober 1989 dadurch, daß Karl B*** und Dr. Fred S***
1.
zur Ablegung des Zeugnisses verhalten und
2.
durch die beschlußmäßige Verhängung von Beugestrafen jeweils zur Beantwortung einer bestimmten Frage angehalten wurden, das Gesetz in den Bestimmungen (zu 1.) des § 153 Abs. 1 StPO und (zu 2.) des § 160 StPO verletzt worden.
Diese Beschlüsse werden aufgehoben.
Text
Gründe:
In den im Spruch bezeichneten, von Dkfm. Ferdinand L*** gegen Johannes V*** wegen § 111 Abs. 1 und 2 StGB einerseits und gegen die FPÖ-Bundesparteileitung wegen § 14 Abs. 1 MedG andererseits angestrengten und vom Gericht zur gemeinsamen Beweisaufnahme verbundenen Verfahren sollten in der Hauptverhandlung am 10.Oktober 1989 Karl B*** und Dr. Fred S*** als Zeugen vernommen werden; gegen diese ist beim Landesgericht Linz zum AZ 21 Vr 1193/89 eine Voruntersuchung wegen §§ 302, 320 Z 3 StGB anhängig. Beide Genannten verweigerten im Hinblick auf die weitgehende Identität des im Rahmen der Voruntersuchung gegen sie erhobenen Vorwurfs mit dem hier aktuellen Gegenstand ihrer Vernehmung die Ablegung eines Zeugnisses. Das Gericht konzedierte ihnen zwar der Sache nach, daß für ihre Weigerung an sich Gründe des § 153 Abs. 1 StPO vorlägen, erachtete aber ihre Aussagen wegen deren besonderer Bedeutung als im überwiegenden Aufklärungsinteresse der Öffentlichkeit gelegen, für unerläßlich (§ 153 Abs. 1 StPO); dementsprechend verhängte es über beide Zeugen, nachdem es sie erfolglos zum Zeugnis verhalten hatte, jeweils eine Beugestrafe, um sie hiedurch zur Beantwortung bestimmter Fragen anzuhalten (§ 160 StPO).
Rechtliche Beurteilung
Insoweit sind dem erkennenden Gericht in der Tat die von der Generalprokuratur gemäß § 33 StPO aufgezeigten Verletzungen des Gesetzes in den Bestimmungen der §§ 153 Abs. 1, 160 StPO unterlaufen, obgleich nicht durchwegs aus den geltend gemachten Gründen.
§ 153 Abs. 1 StPO gestattet es, Zeugen trotz ihrer darnach an sich berechtigten Weigerung zur Aussage zu verhalten, wenn dies wegen deren besonderer Bedeutung unerläßlich ist. Dem die Beweise aufnehmenden Gericht ist damit zwar ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt (Mayerhofer-Rieder II/122 ENr. 14 ff zu § 153 StPO), doch unterliegt die Ausübung dieses Ermessens jedenfalls insoferne der rechtlichen Nachprüfung gemäß §§ 33, 292 StPO, als es darum geht, ob die in concreto hiefür maßgebend gewesenen Kriterien verkannt wurden. Eben das ist hier der Fall. Denn das Erstgericht stellte im Rahmen der nach § 153 Abs. 1 StPO gebotenen Interessenabwägung (vgl. Foregger-Serini StPO MKK4 zu § 153) bei der Bewertung des Aufklärungsinteresses (als Gegengewicht zum Verweigerungsinteresse der Zeugen) zu Unrecht auf die Bedeutung der (dem Dkfm. L*** vorgeworfenen) Mitwirkung an einer Neutralitätsgefährdung (§ 320 StGB) ab, die den Gegenstand des Wahrheitsbeweises (§ 112 StGB, § 15 Abs. 4 zweiter Satz MedG) bildete. Dementgegen bezieht sich nämlich die Beweismittelfunktion einer Zeugenaussage (unbeschadet allfälliger Nebeneffekte) ihrem Wesen nach im Strafprozeß ausschließlich auf die Stichhältigkeit des Anklagevorwurfs sowie im Entgegnungsverfahren einzig und allein auf die Berechtigung des Entgegnungsbegehrens; die Bedeutung der Zeugenaussagen hätte daher lediglich am Gewicht eines Schuld- oder Freispruchs wegen übler Nachrede (§ 111 StGB) einerseits sowie eines stattgebenden oder ablehnenden Entgegnungserkenntnisses (§ 15 MedG) andererseits orientiert werden dürfen, weil allein dazu die Beweise abzuführen waren und nur darüber zu entscheiden war. Da somit das Erstgericht, ohne daß ihm ein dahingehendes Ermessen eingeräumt war, beim Abwägen der Bedeutung der in Rede stehenden Zeugenaussage zumindest primär ein unrichtiges Kriterium heranzog, hat es hiedurch die Bestimmung des § 153 Abs. 1 StPO verletzt.
War aber solcherart die Beurteilung der Aussageverweigerung durch die Zeugen B*** und Dr. S*** als unberechtigt rechtlich fehlerhaft, dann erstreckte sich diese Fehlbeurteilung (in bezug auf § 153 Abs. 1 StPO) gleichermaßen auch auf die eben darauf beruhende Verhängung der Beugestrafen nach § 160 StPO. Deshalb ist dem Gericht damit zudem ein Verstoß gegen § 160 StPO unterlaufen, worauf die Generalprokuratur in ihrer Wahrungsbeschwerde immerhin jeweils mit dem Wort "auch" Bezug nimmt.
In ihrer insoweit hauptsächlichen Argumentation dahin jedoch, daß gegen beide genannten Zeugen schon auf Grund ihrer Doppelstellung als Zeugen hier, und zum selben Thema als Beschuldigte in einem anderen Verfahren, die Verhängung von Beugestrafen gemäß § 160 StPO "überhaupt ausgeschlossen" gewesen wäre, kann der Beschwerdeführerin nicht gefolgt werden. Denn die zur Begründung dieser Rechtsansicht in erster Linie relevierten Bestimmungen der §§ 202 f, 245 StPO, wonach gewährleistet sein müßte, daß alle prozessualen Erklärungen eines Beschuldigten völlig frei abgegeben werden, gelten nur für das gegen ihn anhängige Verfahren. Soweit er dagegen mit Beziehung auf einen derartigen Umstand ein der Anwendbarkeit des § 160 StPO entgegenstehendes Recht auf Aussageverweigerung in seiner (auch nach Ansicht der Generalprokuratur durch rein formelle Kriterien bestimmten) Stellung als Zeuge in einem anderen Verfahren geltend macht, ist dies dementgegen eben nach § 153 Abs. 1 StPO zu prüfen; danach sieht das Gesetz mithin sehr wohl auch in solchen Fällen unter bestimmten Voraussetzungen einen Aussagezwang vor, zu dessen Realisierung das Gericht nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet ist (§ 3 StPO).
Würde doch die Annahme einer bei derartigen Konstellationen bloß sanktionslosen Aussagepflicht - von der die Generalprokuratur auszugehen scheint, indem sie unter dem Aspekt der in Rede stehenden Doppelstellung lediglich die Verhängung der Beugestrafen als Verstoß gegen § 160 StPO rügt, nicht aber dagegen remonstriert, daß die Zeugen gemäß § 153 Abs. 1 StPO überhaupt zur Aussage verhalten wurden - in Ansehung ihrer Prämissen auf einem dem Gesetzgeber nicht zusinnbaren logischen Widerspruch beruhen: Zum einen läge der Aussagepflicht eine Unerläßlichkeit des Zeugnisses zugrunde, die ein überwiegendes Aufklärungsinteresse voraussetzt, und zum anderen wäre die Sanktionslosigkeit dieser Verpflichtung in einem (damit unvereinbaren) Überwiegen des Verweigerungsinteresses der Zeugen begründet.
Soweit sich die Beschwerdeführerin zur Unterstützung ihrer - demgemäß die Verfassungsmäßigkeit des § 153 Abs. 1 zweite Fallgruppe StPO in Zweifel ziehenden - Gegenansicht auf den in Art. 6 Abs. 1 MRK statuierten Grundsatz der Gewährleistung eines "fair trial" beruft, ist ihr entgegenzuhalten, daß auch nach dieser Verfassungsbestimmung, wonach jedermann (bloß) darauf Anspruch hat, daß "seine" Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb
angemessener Frist geklärt wird und zwar "von einem ... Gericht, das
... über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen
strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat", prinzipiell nur der Angeklagte anspruchsberechtigt ist; Zeugen können sich darauf grundsätzlich nicht berufen.
In diesem Sinn Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar S 108 f; die dort
in Anm. 6 zitierte E d. OGH (richtig EvBl. 1978/61, S 159 =
SSt. 48/80 = Ermacora-Nowak-Tretter "Die Europäische
Menschenrechtskonvention in der Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte", S 354, Pkt. 5.35) bezieht sich nur auf die Nichtverpflichtung von Zeugen zur Dartuung (Offenbarung) der Gründe ihrer Zeugnisverweigerung im einzelnen und besagt daher gegen das Erfordernis einer darauffolgenden Interessenabwägung nichts. Ebenso Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention, S 90 f, 99 f, wonach eine Ausdehnung der Anspruchsberechtigung aus Art. 6 Abs. 1 MRK über die Prozeßparteien hinaus auf Zeugen nur in bezug auf den Ausschluß der Öffentlichkeit als Ausnahme vorgesehen ist (Satz 2), sowie Golsong ua, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S 123 (mit Bezugnahme auf Guradze aaO), Ermacora-Nowak-Tretter aaO, S 344, Pkt. 5.17 (mit Beziehung auf 12 Os 82/70) und Ermacora, Grundriß der Menschenrechte in Österreich RN 496 ff; der dort unter RN 494 f erwähnte, dem Art. 6 MRK gegenübergestellte und nicht Verfassungsrang genießende internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (BGBl. 591/1978) besagt in dem zitierten Art. 14 Abs. 3 lit. g lediglich, daß der Angeklagte gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen, nicht gezwungen werden darf, und ist deswegen hier unaktuell, weil in der StPO ein Auftreten als Zeuge in eigener Sache ohnehin nicht vorgesehen ist (vgl. auch Frowein/Peukert aaO S 144; aM nur Schorn, Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 181 f; vgl. auch 12 Os 82/70 = Ermacora-Nowak-Tretter aaO S 344 Pkt. 5.17). Die in § 153 Abs. 1 StPO vorgeschriebene Interessenabwägung begegnet daher keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, zumal umgekehrt gerade im ungerechtfertigten Unterbleiben eines danach auszuübenden Zeugniszwanges, ein Verstoß gegen das Recht des hier Angeklagten auf ein faires Verfahren erblickt werden müßte, wie etwa in einem Fall, in dem ein Zeuge in einem Mordprozeß seine (be- oder entlastende) Aussage mit der Begründung zu verweigern trachtet, daß gegen ihn deswegen ein Verfahren wegen § 289 StGB anhängig sei (vgl. hiezu auch SSt. 50/40 ua). Von einer Umgehung des Verbots von Aussagezwang gegen einen (in einem anderen Verfahren) Beschuldigten, deren Effekt nach dem Gesetz nur de lege ferenda durch ein entsprechendes Verwertungsverbot sachgerecht ausgeschaltet werden könnte, kann demnach in solchen Fällen mit Fug nicht gesprochen werden. Aus dem von der Generalprokuratur weiters in Treffen geführten Argument des Verbotes von Beugestrafen durch Erzwingung der Herausgabe von Beweisgegenständen durch "Besitzer", die "selbst der strafbaren Handlung verdächtig" sind (§ 143 Abs. 2 StPO) läßt sich für die hier aktuelle Problematik deshalb nichts gewinnen, weil diese Sonderbestimmung im Gegensatz zu § 153 Abs. 1 StPO eben nicht auf die prozessuale Stellung des "Besitzers" im betreffenden Verfahren abstellt. Ebenso kann daraus, daß ein Zeuge zur Begründung seiner Aussageverweigerung nach § 153 Abs. 1 StPO nicht die dafür maßgebenden Tatsachen im einzelnen bekanntgeben muß (SSt. 48/80), wie schon oben gesagt, keineswegs abgeleitet werden, daß diese Verweigerung bei Zeugen mit "Doppelstellung" ohne Erfordernis einer Interessenabwägung zwangsläufig in jedem Fall berechtigt wäre. Die mit den Wahrungsbeschwerden zu Recht gerügten Verstöße gegen §§ 153 Abs. 1, 160 StPO sind demgemäß nur durch die eingangs aufgezeigte rechtsfehlerhafte Interessenabwägung unterlaufen, nicht aber (auch) wegen der Verhängung der Beugestrafen über die Zeugen B*** und Dr. S*** trotz ihrer derartigen Doppelstellung. Mit dieser Klarstellung waren sie in Stattgebung der Beschwerden wie im Spruch festzustellen und und nach § 292 letzter Satz StPO zu beheben.
Anmerkung
E21104European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1990:0150OS00027.9.0515.000Dokumentnummer
JJT_19900515_OGH0002_0150OS00027_9000000_000