TE OGH 1990/5/29 10ObS196/90

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Veröffentlicht am 29.05.1990
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Josef Fellner (Arbeitgeber) und Leo Samwald (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dobrila S***, Pensionistin, YU-18220 Aleksinac, Ratka Zunica bb, Jugoslawien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei P*** DER A***, 1092 Wien, Roßauer

Lände 3, vertreten durch Dr. Anton Rosicky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Entziehung des Hilflosenzuschusses, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 6. Februar 1990, GZ 31 Rs 1/90-17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 5. Juli 1989, GZ 18 Cgs 48/89-11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 1. März 1987 anerkannte die beklagte Partei den Anspruch der am 4. Oktober 1932 geborenen Klägerin auf Hilflosenzuschuß zur Invaliditätspension ab 15. Dezember 1986. Mit Bescheid vom 24. Februar 1989 setzte die beklagte Partei die Invaliditätspension ab 1. Mai 1989 um den auf den Hilflosenzuschuß entfallenden Betrag mit der Begründung herab, daß die Voraussetzungen gemäß § 105 a ASVG nicht mehr gegeben seien. Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klagestatt und verurteilte die beklagte Partei, der Klägerin über den 30. April 1989 hinaus den Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß binnen 14 Tagen zu gewähren. Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Bei der Klägerin besteht ein Zustand nach Blinddarmentfernung vor Jahren ohne negative Folgen, ein Zustand nach Entfernung der rechten Brust im Jahr 1981 mit restrierender mäßiggradiger Beweglichkeitseinschränkung in der rechten Schulter sowie eine gutartige Neubildung in der linken Brust. Weiters liegen altersmäßige Aufbraucherscheinungen am Stützapparat ohne wesentliche Funktionseinschränkungen vor. Die Achselhöhle der Klägerin ist frei von Lymphknoten, das Schultergelenk ist in seiner Beweglichkeit in dem Maße eingeschränkt, daß ein Vorheben des Armes in ca. 45 Grad, ein Seitabheben ca. 30 Grad und ein Rückwärtsführen in ca. 20 Grad möglich sind. Ellbogen-, Hand- und Fingergelenke sind in allen Funktionen frei. Dies bedeutet, daß die Klägerin alle Arbeiten in Tischhöhe verrichten kann. Sie kann mit der rechten Hand den Kopf erreichen und sich auch mit Hilfe der rechten Hand die Kleidungsstücke, die vorne zu knöpfen sind, allein anziehen, die Kleidungsstücke, die über den Kopf gezogen werden müssen, jedoch nicht. Außerdem hat die Klägerin kleine Steine in der Niere und eine Nierenbeckenentzündung; sie leidet an Bluthochdruck und chronischer koronarer Herzinsuffizienz. Dieses Zustandsbild besteht seit der Entziehung. Zum Zeitpunkt der Gewährung bestand bei der Klägerin ein Zustand nach einer Amputation der rechten Brust, ein Tumor in der linken Brust sowie Lymphknoten in der Achselhöhle. Gegenüber dem Gewährungsgutachten ist eine Besserung nur insofern eingetreten, als damals vermutet wurde, daß die Klägerin in der linken Brust einen bösartigen Tumor habe. Dies konnte jedoch nach den letzten Untersuchungen widerlegt werden. Die Klägerin konnte auch damals (bei Gewährung des Hilflosenzuschusses) sämtliche lebensnotwendigen Verrichtungen allein machen. Lediglich wenn der Krebs fortgeschritten wäre, wäre die Klägerin hilflos geworden. Daher ist gegenüber dem Gewährungszeitpunkt keine wesentliche Besserung gegeben.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, daß gemäß § 99 Abs 1 ASVG eine Entziehung von Leistungsansprüchen nur dann gerechtfertigt sei, wenn die Voraussetzungen des Anspruches auf die laufende Leistung nicht mehr vorhanden seien. Zwischen den für die Gewährung maßgeblichen und den im Zeitpunkt der Entziehung maßgebenden Umständen müsse eine wesentliche Änderung eingetreten sein. Im vorliegenden Fall sei der Zustand der Klägerin, soweit er ihre Fähigkeit betreffe, die notwendigen Verrichtungen selbst durchzuführen, seit der Gewährung unverändert. Auch damals sei die Klägerin in der Lage gewesen, sämtliche lebensnotwendigen Verrichtungen allein vorzunehmen. Eine Änderung bzw. Besserung sei nur insoweit gegeben, als zum Zeitpunkt der Gewährung ein bösartiger Tumor angenommen worden sei, welche Annahme sich nicht bestätigt habe. Ein zum Zeitpunkt der Gewährung unterlaufener Irrtum oder auch eine spätere Änderung der ärtzlichen Auffassung sei kein Grund für die Entziehung einer Leistung. Ein im wesentlichen unveränderter, jetzt nur anders beurteilter Sachverhalt rechtfertige selbst dann nicht die Entziehung der Leistung, wenn die Zuerkennung seinerzeit nicht zu Recht erfolgt sei.

Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es erachtete die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes für zutreffend (§ 500 a ZPO).

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Partei ist nicht berechtigt. Voraussetzung für die Entziehung einer Leistung - hier des Hilflosenzuschusses - gemäß § 99 Abs 1 ASVG ist, daß gegenüber dem für die Gewährung maßgeblichen Zeitpunkt eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Wesentlich und damit rechtlich bedeutend ist eine Änderung dann, wenn sie eine Besserung des zuvor bestandenen geistigen oder körperlichen Zustandes mit sich bringt, die zur Folge hat, daß lebensnotwendige Verrichtungen, die zum Gewährungszeitpunkt ausgeschlossen waren, nunmehr wieder möglich sind (SSV-NF 1/44, 2/43, 2/90 ua). Im vorliegenden Fall steht fest, daß die Klägerin im Gewährungszeitpunkt, obwohl damals bei ihr das Vorliegen eines bösartigen Tumors in der linken Brust vermutet wurde, sämtliche lebensnotwendigen Verrichtungen ohne fremde Hilfe vornehmen konnte. Bei diesem Sachverhalt lagen im Gewährungszeitpunkt die Voraussetzungen der Hilflosigkeit nach § 105 a ASVG nicht vor, gleichgültig, ob man diese Frage nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien als damaligen Höchstgerichtes in Leistungsstreitsachen oder nach der neueren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes (SSV-NF 1/46 = SZ 60/223 uva) beurteilt. Den Vorinstanzen ist daher beizupflichten, daß sich in dem für die Gewährung des Hilflosenzuschusses maßgeblichen geistigen oder körperlichen Zustand der Klägerin im Zeitpunkt der Entziehung nichts geändert hat, weshalb irrelevant ist, ob bei Gewährung des Hilflosenzuschusses mit hoher medizinischer Wahrscheinlichkeit ein Tumor in der linken Brust vorlag oder nicht. Der vorliegende Fall unterscheidet sich damit wesentlich von dem der Entscheidung des erkennenden Senates vom 24. April 1990, 10 Ob S 123/90, zugrundeliegenden Sachverhalt: Dort wurde eine Entziehung der Invaliditätspension nicht allein deshalb für gerechtfertigt erachtet, weil sich ein zunächst angenommenes Karzinom in der Folge als unwahrscheinlich erwies, sondern weil eine wesentliche Besserung des Allgemeinzustandes festgestellt wurde, so daß der Kläger, der bei Gewährung der Leistung aus ärztlicher Sicht arbeitsunfähig gewesen war, wieder leichte Arbeiten verrichten kann und nicht mehr als invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG gilt. In der jahrelangen Rezidivfreiheit hinsichtlich des Karzinoms und in der positiven Änderung des Allgemeinzustandes wurde eine wesentliche Besserung des körperlichen Zustandes und somit der objektiven Grundlagen der seinerzeitigen Leistungszuerkennung erblickt. Im Gegensatz dazu war im vorliegenden Fall die Klägerin auch im Zeitpunkt der Gewährung des Hilflosenzuschusses nicht hilflos iS des § 105 a ASVG, da sie sämtliche lebensnotwendigen Verrichtungen ohne fremde Hilfe durchführen konnte. Die Vorinstanzen haben daher zutreffend die Möglichkeit einer Entziehung des Hilflosenzuschusses gemäß § 99 Abs 1 ASVG verneint.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Anmerkung

E21264

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1990:010OBS00196.9.0529.000

Dokumentnummer

JJT_19900529_OGH0002_010OBS00196_9000000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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