Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr. Josef Fellner (Arbeitgeber) und Leo Samwald (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz H***, ohne Beschäftigung, 1120 Wien, Leopoldinenweg 4, vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A***
(L*** W***), 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr. Anton Rosicky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29.Dezember 1989, GZ 34 Rs 238/89-25, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 15.November 1988, GZ 20 Cgs 1180/87-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger binnen vierzehn Tagen die (einschließlich der Umsatzsteuer von 514,50 S) mit 3.087 S bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 9.7.1987 lehnte die beklagte Partei den Antrag des am 17.3.1936 geborenen Klägers vom 10.2.1987 auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.
Die dagegen rechtzeitig erhobene, erkennbar auf die abgelehnte Leistung gerichtete Klage stützte sich im wesentlichen darauf, daß der überwiegend als LKW-Chauffeur tätig gewesene Kläger diesen Beruf nicht mehr ausüben könne.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage, weil der Kläger auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden könne. Im ersten Rechtsgang gab das Erstgericht der Klage statt. Es ging davon aus, daß der Kläger wegen seines körperlichen Zustandes seinen angelernten Beruf als Kraftfahrer nicht mehr ausüben könne und daher invalid im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG sei. Das Berufungsgericht gab der damaligen Berufung der beklagten Partei Folge und verwies die Sache zur Verhandlung und Urteilsfällung an das Erstgericht zurück. Es fehlten ausreichende Feststellungen darüber, ob der Kläger wenigstens die wesentlichen, vielfältigen und für den Lehrberuf des Berufskraftfahrers im Sinne der Verordnung des BMW BGBl 1987/396 bestimmenden Tätigkeiten ausüben konnte. Das Erstgericht werde daher ergänzende Feststellungen über die Kenntnisse des Klägers im Sinne der Positionen 8-14 und 25 bis 36 des in der genannten V enthaltenen Berufsbildes zu treffen haben.
Das Erstgericht gab der Klage auch im zweiten Rechtsgang statt. Dabei traf es folgende wesentliche, auch der rechtlichen Beurteilung der Rechtsmittelgerichte zugrunde zu legende Tatsachenfeststellungen:
Wegen des seit dem Pensionsantrag bestehenden körperlichen Zustandes kann der in jeder Weise umstellbare Kläger (während der üblichen Arbeitszeit) ohne größere Unterbrechungen leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen, nicht vorwiegend auch im Gehen und Stehen und kurz im Gehen mit folgenden weiteren Einschränkungen verrichten: keine sitzenden Tätigkeiten, die mit einer drehenden Bewegung der Wirbelsäule verbunden sind, keine Tätigkeiten, bei denen Stöße auf die Wirbelsäule vorkommen, wie sie beim Lenken von Kraftfahrzeugen auftreten, keine Hebe- und Trageleistungen über 10 kg, keine Arbeiten mit häufigem Bücken, in vorwiegend gebückter Körperhaltung oder an absturzgefährdeten Stellen. Der Kläger kann mit dem linken Fuß das Pedal eines Kraftfahrzeuges nicht bedienen. Der Anmarschweg ist auf drei bis vier Kilometer eingeschränkt. Der Kläger war zweieinhalb Jahre Gas- und Wasserinstallateurlehrling, legte aber keine Lehrabschlußprüfung ab. 1958 begann er seine Tätigkeit als Kraftfahrer. Dabei mußte er auch bei LKW-Reparaturen mitarbeiten. Seit 19.12.1961 war er bei der Alfred S*** OHG und ab 1.1.1973 bei der Alfred S*** GesmbH & Co KG beschäftigt. In der firmeneigenen Werkstätte hatte er auch kleinere Reparaturarbeiten durchzuführen, zB Kupplungsscheiben auszuwechseln und Bremsen zu belegen. Früher führte er auch an LKW ohne Servolenkung Reparaturen am Bremssystem durch. Servolenkungen wurden immer von konzessionierten Werkstätten ausgeführt. Im Bereich der Fahrzeugelektrik baute er Batterien ein und aus und wechselte Lampen und Sicherungen aus. Er hatte für die Umrüstung der LKW von Sommer- auf Winterbetrieb zu sorgen und war als Leiter des gesamten Fuhrparkes für die Fahrbereitschaft und Betriebssicherheit der Fahrzeuge verantwortlich. Er mußte daher jeweils die Lichter, Lenkung und Bremsen überprüfen. Die beiden letztgennanten Firmen beschäftigten sich mit Chromgalvanik. Der Kläger war für den Transport der verchromten Teile und gefährlicher Produkte, wie Gußsäure, Chromsäure, Radiumbäder, verantwortlich. Die für die Beförderung gefährlicher Güter einzuhaltenden Vorschriften sind ihm bekannt. Der Kläger war der einzige für den Transport der Ware und den Fuhrpark verantwortliche Dienstnehmer. Als solcher hatte er die Fuhren einzuteilen, die Beladung der Fahrzeuge zu überwachen und für die richtige Schlichtung zu sorgen. Er hatte die Übernahmsscheine der Kunden zu kontrollieren, die Ware bei der Abholung nachzuwägen und teilweise auch eine Kundenbetreuung durchzuführen. Er war auch im grenzüberschreitenden Verkehr tätig, mußte in die Schweiz und nach Deutschland fahren und selbständig den Vormerkverkehr durchführen. Er teilte auch selbst die Touren ein. Er besitzt Kenntnisse der Unfallverhütung und der wichtigsten Regelungen des Haftpflichtversicherungsrechtes. Im Nah- und Zustellverkehr hatte er neben seiner Lenkertätigkeit das Fahrzeug zu be- und entladen, die Waren an die Kunden zuzustellen oder von ihnen abzuholen, mitunter auch das Inkasso durchzuführen. Einfache Reparatur- und Wartungsarbeiten waren ebenfalls von ihm durchzuführen. Er verfügt über die wesentlichen Kenntnisse und Fähigkeiten eines Kraftfahrzeugmechanikers.
Daraus zog das Erstgericht den Schluß, daß der Kläger alle wesentlichen Merkmale des Lehrberufes Berufskraftfahrer ausgeübt und beherrscht habe und darüber hinaus über Kenntnisse und Fähigkeiten verfüge, die weit über die von einem LKW-Lenker bei der Führerscheinprüfung verlangten hinausgingen. Deshalb sei er invalid im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG.
Das Berufungsgericht gab der von der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung im wesentlichen deshalb nicht Folge, weil es die Rechtsansicht des Erstgerichtes teilte, daß der Kläger überwiegend im angelernten Beruf eines Berufskraftfahrers tätig gewesen sei, den er nicht mehr ausüben könne.
Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klageabweisenden Sinne abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht berechtigt.
Ein angelernter Beruf liegt nach § 255 Abs 2 ASVG vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Berufe gleichzuhalten sind. Diese Kenntnisse und Fähigkeiten müssen nicht die eines bestimmten geregelten Lehrberufes sein, allerdings den in einem Lehrberuf erworbenen besonderen Kenntnissen und Fähigkeiten an Umfang und Qualität entsprechen. Der Berufsschutz ist jedoch nicht nur dann zu bejahen, wenn der Versicherte alle Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, die nach den Ausbildungsvorschriften zum Berufsbild eines Lehrberufes zählen und daher einem Lehrling während der Lehrzeit zu vermitteln sind. Es kommt vielmehr darauf an, daß ein angelernter Arbeiter über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen Berufes in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten (Berufsgruppe) unter Berücksichtigung einer betriebsüblichen Einschulungszeit verlangt werden. Hingegen reicht es nicht aus, wenn sich die Kenntnisse und Fähigkeiten nur auf ein oder mehrere Teilgebiete eines Berufes beschränken, der von ausgelernten Facharbeitern allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht wird (SSV-NF 1/48, 2/66, 98, 3/70 ua). Die Kenntnisse und Fähigkeiten eines angelernten Berufskraftfahrers können an dem durch die V des BMW BGBl 1987/396 geschaffenen Berufsbild des Lehrberufes "Berufskraftfahrer" gemessen werden (SSV-NF 2/66, 98 ua). Dabei gehört die Feststellung der Kenntnisse und Fähigkeiten, über die der Versicherte verfügt, zur Tatfrage, die Beurteilung, ob er in einem angelernten Beruf tätig war, zur rechtlichen Beurteilung (SSV-NF 1/48, 3/70).
Wenn das Erstgericht festgestellt hat, daß der Kläger neben den wesentlichen Kenntnissen und Fähigkeiten eines Kraftfahrzeugmechanikers und die wesentlichen "Merkmale" des Lehrberufes Berufskraftfahrer selbst ausgeübt und beherrscht hat und über Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die weit über das hinausgehen, was von jedem Lenker eines LKW anläßlich der Führerscheinprüfung verlangt wird, dann wollte es damit offensichtlich zum Ausdruck bringen, daß er über alle Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die in Österreich von einem qualifizierten Berufskraftfahrer üblicherweise verlangt werden.
Die vom Erstgericht beispielsweise im einzelnen festgestellten Kenntnisse und Fähigkeiten, die vom Kläger in seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Berufskraftfahrer auch verlangt wurden, gehen in Umfang und Qualität erheblich über die Kenntnisse und Fähigkeiten hinaus, die zB in den E SSV-NF 2/66 und 98 als für den Berufsschutz eines Berufskraftfahrers nicht ausreichend beurteilt wurden.
Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes, daß der Kläger überwiegend im angelernten Beruf eines Berufskraftfahrers tätig war und daher Berufsschutz im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG beanspruchen kann, ist daher - ausgehend von den maßgeblichen Sachverhaltsfeststellungen - richtig.
Die noch in der Berufung vertretene Meinung der beklagten Partei, daß ein solcher Berufsschutz erst ab dem Inkrafttreten der V des BMW BGBl 1987/396 angenommen werden könne, ist schon deshalb nicht richtig, weil ein angelernter Beruf im Sinne des § 255 Abs 1 und Abs 2 ASVG auch dann vorliegen kann, wenn es keinen gleichartigen Lehrberuf im Sinne des Berufsausbildungsgesetzes gibt (SSV-NF 1/70 unter Hinweis auf die EB zum Initiativantrag zur 9. ASVGNov. 517 BlgNR 9. GP 86 ua).
Soweit die Revision darauf verweist, daß wesentliche Verrichtungen, aus denen auf einen Anlernberuf geschlossen wurde, in die Zeit vor den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag fallen, verkennt sie, daß auch bei einem angelernten Beruf ebenso wie bei einem erlernten Beruf der einmal erworbene Berufsschutz erhalten bleibt, wenn sich die Tätigkeit später zwar inhaltlich etwas verändert, in ihrer Gesamtheit aber doch noch als Ausübung des angelernten Berufes anzusehen ist (vgl. SSV-NF 3/29). Dies ist auch dann der Fall, wenn einzelne Tätigkeiten des Gesamtberufsbildes - vor allem dann, wenn sie schon ihrer Natur nach nur selten erforderlich sind, wie hier etwa das von der Revision angeführte Ausbauen einer Halbachse, während der letzten 15 Jahre nicht mehr ausgeübt wurden Ävgl. SSV-NF 3/70Ü. Denn auch Arbeiter, die in ihrem erlernten Beruf tätig sind, üben wegen der heute üblichen Spezialisierung in der Wirtschaft diesen Beruf im Regelfall nicht in der erlernten Vielfalt, sondern nur in - wenn auch wesentlichen - Teilbereichen aus. In solchen wesentlichen Teilbereichen war der Kläger jedoch auch in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag tätig. Die vom Sachverständigen für Berufskunde genannte (theoretische) Verweisungsmöglichkeit auf die Tätigkeit eines Fuhrparkleiters hat das Berufungsgericht schon deshalb ohne Rechtsirrtum abgelehnt, weil angelernte Berufskraftfahrer praktisch (noch) nicht als Fuhrparkleiter eingesetzt werden, so daß ihnen diese Verweisungsmöglichkeit (noch) nicht zur Verfügung steht. Daher muß die Frage, ob es sich bei einem Fuhrparkleiter nach seiner Tätigkeit nicht um einen Angestellten handelt und ob dann eine Verweisung des Klägers auf eine solche Tätigkeit zulässig wäre, nicht geprüft werden.
Der Revision war daher nicht Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG.
Anmerkung
E21038European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1990:010OBS00169.9.0529.000Dokumentnummer
JJT_19900529_OGH0002_010OBS00169_9000000_000