Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Samsegger als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schobel, Dr. Schlosser, Dr. Redl und Dr. Kellner als weitere Richter in der Pflegschaftssache des am 16. März 1970 geborenen Michael S***, ohne Beschäftigung, im Haushalt seiner zu 8 SW 16/89 zur einstweiligen Sachwalterin bestellten Mutter Hannelore S***, Heimhelferin, Wien 4., Johann Strauß-Gasse 36/9, wegen Leistung des gesetzlichen Unterhaltes durch den Vater Gerhard S***, Kaufmann, Wien 4., Große Neugasse 40/11, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses des Vaters gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 28. März 1990, GZ 43 R 163/90 (ON 126), womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 23. Jänner 1990, GZ 8 P 296/77-118, mit dem Ausspruch der Unzulässigkeit des ordentlichen Revisionsrekurses bestätigt wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird nicht stattgegeben.
Text
Begründung:
Michael kam am 16.März 1970 als eheliches Kind zur Welt. Er wuchs neben seiner vier Jahre älteren Schwester zunächst im gemeinsamen elterlichen Haushalt und nach der 1974 erfolgten Trennung der Eltern in dem in der Ehewohnung geführten Haushalt der Mutter heran. Dabei blieb es auch nach der im Februar 1981 erfolgten Scheidung der Ehe der Eltern im Einvernehmen. Das Pflegschaftsgericht genehmigte die Vereinbarung der Eltern über die alleinige Ausübung der Obsorge für die beiden Kinder durch die Mutter. Der Knabe besuchte nach der Volksschule zwei Jahre eine allgemein bildende höhere Schule, trat zu Beginn der siebenten Schulstufe in eine Hauptschule über, wiederholte im Schuljahr 1984/85 zum zweiten Mal die dritte Klasse und wechselte im Februar 1985 in die Alternativschule in Wien 6., war zur Externistenprüfung zum Ende des Schuljahres 1986/87 in einer Hauptschule in Wien 5. angemeldet, trat aber zu dieser Prüfung nicht an. Er hat keinen Schulabschluß, keine Lehrausbildung. Er verläßt seit Mai 1987 die Wohnung der Mutter - außer zu kleinen Besorgungen und Besuchen seiner Schwester - praktisch nicht.
Dieses extreme Verhalten beruht auf einer schweren psychischen Störung. In seinem derzeitigen depressiv-neurotischen Zustand lehnt der Knabe Sozialkontakte außerhalb seines engsten Familienkreises ab. Nach dem Ende September 1989 erstatteten Sachverständigengutachten liegt die tiefenpsychologische Ursache des extremen Verweigerungsverhaltens wahrscheinlich in einer vermutlich keinem der Betroffenen bewußten pathologischen Bindung des Knaben an seine - ebenfalls depressiv geprägte - Mutter. Der Sachverständige sieht den einzigen erfolgversprechenden therapeutischen Ansatz in einer gleichzeitigen Behandlung von Mutter und Sohn, um dessen krankhafte Anklammerung an das Zusammenleben mit der Mutter und seine extremen Beziehungsängste zu lösen. Behandlungserfolg und -dauer sind derzeit nicht absehbar.
Im gegebenen Zustand ist der Knabe wegen seiner Ängste weder in eine Ausbildung noch in einen Erwerbsvorgang einzugliedern. An diesem Zustand scheiterten bisher auch alle Ansätze zu einer psychotherapeutischen Behandlung.
Der Knabe vollendete am 16.März 1989 sein 19.Lebensjahr. Eine Verlängerung der Minderjährigkeit war nicht erfolgt. Auf Grund des im Unterhaltsverfahren erstatteten Sachverständigengutachtens wurde aber in Ansehung des bereits volljährig gewordenen Mannes ein Sachwalterbestellungsverfahren eingeleitet und dabei die Mutter zur einstweiligen Sachwalterin mit dem besonderen Aufgabenkreis der Vertretung ihres Sohnes im Unterhaltsverfahren bestellt. Mit pflegschaftsgerichtlichem Beschluß vom 16.Juli 1987 war die monatliche Unterhaltsverpflichtung des Vaters für seinen Sohn antragsgemäß auf 3.300 S erhöht worden.
Einen Tag zuvor war ein Antrag des Vaters auf Enthebung von seinen Unterhaltszahlungsverpflichtungen für den damals 17 Jahre alten Sohn eingelangt.
Nach rekursgerichtlicher Aufhebung eines diesem Antrag stattgebenden erstinstanzlichen Beschlusses wies das Pflegschaftsgericht im zweiten Rechtsgang den Enthebungsantrag des Vaters ab.
Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Dazu sprach es aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Das Pflegschaftsgericht hatte die vom Vater behauptete Selbsterhaltungsfähigkeit des - inzwischen volljährig gewordenen - Knaben verneint.
Das Rekursgericht teilte diese Beurteilung und verwarf dabei die im Rekurs vertretene Argumentation, daß die vom Rechtsmittelwerber behauptete mangelhafte Förderung des Kindes durch die allein obsorgeberechtigte Mutter zur Verfestigung der krankhaften, die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigenden Persönlichkeitsstruktur des Sohnes geführt habe, was einen fortdauernden Unterhaltsanspruch des Kindes gegenüber seiner Mutter rechtfertigen, aber nicht dazu führen könne, daß der Vater, dem jede Einflußnahme auf diese Entwicklung verwehrt gewesen wäre, über den Eintritt der Volljährigkeit seines Sohnes hinaus auf unbestmmte Zeit zu Unterhaltsleistungen verpflichtet werde, die er in therapeutischer Sicht als "sinnlos und kontraproduktiv" bezeichnet habe.
Der Vater ficht die bestätigende Rekursentscheidung wegen unrichtiger Beurteilung entscheidungswesentlicher qualifizierter materiellrechtlicher Unterhaltsfragen mit einem auf antragsgemäße Enthebung von seiner Unterhaltszahlungsverpflichtung zielenden Abänderungsantrag und einem hilfsweise gestellten Aufhebungsantrag an.
Die der Sache nach vom Rechtsmittelwerber aufgeworfene Frage nach dem Einfluß einer behaupteten, die Erwerbs- und damit Selbsterhaltungsfähigkeit eines Kindes beeinträchtigenden Verletzung der Pflege- und Betreuungspflichten durch den allein obsorgenden Elternteil auf den Unterhaltsanspruch des Kindes gegen den anderen Elternteil erfüllt die Anfechtungsvoraussetzungen im Sinne des § 14 Abs.1 AußStrG.
Rechtliche Beurteilung
Der außerordentliche Revisionsrekurs ist aber nicht berechtigt. Der Rechtsmittelwerber geht selbst davon aus, daß sein Sohn jedenfalls seit dem Tage der begehrten Enthebung von den Unterhaltszahlungspflichten an einer psychischen Krankheit litt und noch leidet, die eine Schul- und Berufsausbildung ebenso ausschließt wie den Einsatz der eigenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu einer geregelten Erwerbstätigkeit. Nach dem Verfahrensstandpunkt des Rechtsmittelwerbers beruhe aber zumindest die Aufrechterhaltung dieses Zustandes auf einem Fehlverhalten der Mutter, die eine gebotene ärztliche Behandlung unter Einschluß ihrer eigenen Person bisher verabsäumt habe. Daraus folgert der Rechtsmittelwerber den Entfall seiner Unterhaltszahlungsverpflichtungen.
Wenn der Rechtsmittelwerber dabei auch die seiner Ansicht nach unterlaufenen Versäumnisse in der Personenfürsorge durch die Mutter unter dem Gesichtspunkt der dieser oblegenen Beitragsleistung im Sinne des § 140 ABGB gewertet wissen will, spricht er mit seinen Rechtsmittelausführungen doch der Sache nach Fragen nach Obliegenheiten des unterhaltsberechtigten Kindes, nach einer Verwirkung des Kindesunterhaltes und nach einer rechtsmißbräuchlichen Geltendmachung des Kindesunterhaltes sowie - nach der Fallgestaltung unausgesprochen - die Zurechnung eines durch den gesetzlichen Vertreter gesetzten obliegenheitsverletzenden, anspruchsvernichtenden oder rechtsmißbräuchlichen Verhaltens als anspruchsmindernden Umstand eines nicht eigenberechtigten Unterhaltsberechtigten an. Abgesehen davon, daß nach der Aktenlage die bisherige Ablehnung aller Behandlungsversuche durch den psychisch massiv beeinträchtigten Knaben als charakteristische Folge seiner bestehenden Erkrankung erscheinen muß, ist zu den Einwendungen des Rechtsmittelwerbers grundsätzlich zu entgegnen:
Der gesetzliche Anspruch eines Kindes auf Leistung des Unterhaltes (in allen Erscheinungsformen) durch die Eltern ist grundsätzlich auf angemessene Ergänzung dessen gerichtet, was dem Kind nach seinen konkreten Möglichkeiten einer Eigenvorsorge abgeht. Die Leistung der Eltern ist einer dem Kind zumutbaren Bedeckung seiner speziellen Bedürfnisse aus eigenen Mitteln und Kräften nachgereiht. Hängt die Selbsterhaltungsfähigkeit des Kindes von dessen Erwerbsfähigkeit ab, mindert eine vorsätzliche Ver- oder Behinderung dieser Erwerbsfähigkeit durch das Unterhalt begehrende Kind dessen Unterhaltsanspruch oder schließt ihn, je nach dem Gegenwert des verhinderten Einsatzes der eigenen Kräfte völlig aus. Soweit das unterhaltsberechtigte (= ergänzungsberechtigte) Kind seine eigene Erwerbsfähigkeit absichtlich beschränkt, ist es unterhaltsrechtlich so zu behandeln, als läge diese Beschränkung der Erwerbsfähigkeit nicht vor. In diesem Sinne obläge es einem kranken und deshalb nur beschränkt oder gar nicht erwerbsfähigen Kind, sich einer nach Erfolgsaussichten, Gefährlichkeit und Kostendeckung zumutbaren Behandlung nicht vorsätzlich zu entziehen, sollte sein Unterhaltsbegehren nicht als Rechtsmißbrauch zu werten sein. Der schadenersatzrechtliche Charakter der Kategorie des Rechtsmißbrauches schließt es aus, eine etwa vom obsorgepflichtigen Elternteil verschuldete Unterlassung rechtzeitiger und nachhaltiger ärztlicher Behandlung eines Krankheitszustandes, dem deshalb selbsterhaltungsunfähig gebliebenen oder wieder gewordenen Kind anzulasten.
Ein dem nunmehr 20 Jahre alten Sohn als anspruchsausschließendes Eigenverschulden anzurechnendes eigenes Verhalten hat der Rechtsmittelwerber nicht geltend gemacht, etwa, daß das Kind in seinem derzeitigen Zustand auch nach eingetretener Volljährigkeit sich keiner ärztlichen Behandlung unterwerfe.
Das Verhalten seiner Mutter während der Zeit ihrer Obsorge für ihn als einen minderjährigen Sohn bräuchte sich dieser in seinen unterhaltsrechtlichen Beziehungen zu seinem Vater aber nicht anrechnen zu lassen, umsoweniger ein Verhalten der Mutter nach dem Erlangen der Eigenberechtigung. Wenn der Rechtsmittelwerber geltend macht, daß er eine zur wirksamen Behandlung des Kindes notwendige Mitbehandlung seiner geschiedenen Ehefrau nicht erzwingen könnte, so gilt das in gleicher Weise für den Sohn und könnte diesem daher von seinem Vater in keiner Weise angelastet werden.
Nach dem Standpunkt des Rechtsmittelwerbers seien der Mutter in der Ausübung ihrer Personenfürsorge für den damals noch minderjährigen Sohn schuldhaft Versäumnisse unterlaufen. Selbst bei Unterstellung der Richtigkeit dieser Behauptungen und Wertungen änderte dies daran nichts, daß die Mutter ihr krankes Kind in dem von ihr geführten Haushalt betreute und damit ihren Beitrag nach § 140 Abs.2 ABGB leistete. Zu weiteren Beiträgen könnte sie erst nach Ausschöpfung der zur Deckung des Kindesunterhaltes anzuspannenden Kräfte des Vaters verpflichtet sein. Die vom Rechtsmittelwerber der Sache nach vertretene These, eine mangelhafte, wegen schwerwiegender Versäumnisse im Ergebnis unzureichende Betreuung und Erziehung des Kindes sei überhaupt kein nach § 140 Abs.2 ABGB zu veranschlagender Beitrag, ist abzulehnen. Betreut aber die Mutter den wegen schwerer psychischer Beeinträchtigungen als nicht erwerbsfähig und daher nicht als selbsterhaltungsfähig anzusehenden Sohn in dem von ihr geführten Haushalt, dann sind zur Bedeckung aller über die Betreuungsleistungen hinausreichenden Unterhaltsbedürfnisse des Kindes zunächst die vollen Kräfte des Vaters auszuschöpfen und erst danach wäre ein Zurückgreifen auf weitere Leistungen der Mutter zu erwägen.
Das Gesetz kennt keine Verwirkung des gesetzlichen Kindesunterhaltes (JBl. 1977, 594 mit weitreichender Zustimmung der Lehre: Pichler in Rummel, ABGB2, Rz 15 zu § 140;
Schwimann-Schlemmer, ABGB, § 140 Rz 89; Schwind, FamR, 160 und Gschnitzer-Faistenberger, FamR, 109). Die Versagung eines Anspruches bei Erfüllung der Voraussetzungen eines Rechtsmißbrauches ist allerdings ein allgemeiner Grundsatz. Er gilt auch dort, wo er nicht ausdrücklich unter Klarstellung besonderer Anwendungsfälle (vgl. § 94 Abs.2 ABGB) hervorgehoben ist. Die Verneinung eines Unterhaltsanspruches wegen Rechtsmißbrauches greift auch beim Kindesunterhalt ein. Voraussetzung ist allerdings nach allgemeinen Grundsätzen ein vorsätzliches Verhalten, das die durch die Unterhaltsleistungen abzudeckenden Bedürfnisse erst schafft oder das Zulangen der vor dem Akutwerden der geltend gemachten Fremdleistungspflicht auszuschöpfenden Mittel (also etwa auch einer eigenen Erwerbstätigkeit des unterhaltsberechtigten Kindes) beeinträchtigt. Ein derartiges eigenes Verhalten des unterhaltsberechtigten Kindes hat der Vater nicht geltend gemacht. Ein etwa in der erwähnten Weise zu wertendes Verhalten der obsorgepflichtig gewesenen Mutter wäre aber dem von ihr zu betreuenden und zu vertretenden Kind nicht zuzurechnen (vgl. Schwimann-Schlemmer, ABGB, § 140 Rz 82).
Die Versuche des Rechtsmittelwerbers, die zur Beschränkung und Verwirkung des Kindesunterhaltes entwickelten Grundsätze durch eine nicht sachgemäße Verquickung der im § 140 ABGB geregelten Unterhaltspflicht mit den im § 144 ABGB behandelten Betreuungs- und Erziehungspflichten zu unterlaufen, sind insgesamt eine nicht stichhältige Argumentation.
Der rechtlichen Beurteilung der Vorinstanzen haftet entgegen den Rechtsmittelausführungen kein Irrtum an.
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs war daher ein Erfolg zu versagen.
Anmerkung
E21938European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1990:0060OB00652.9.0907.000Dokumentnummer
JJT_19900907_OGH0002_0060OB00652_9000000_000