Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Johannes Rudda (Arbeitgeber) und Dr.Franz Trabauer (Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag.Dr.H. E***-R***, Rechtsanwalt, Landwirt und Berufsjäger, Klosterneuburg, Martinstraße 34-36, wider die beklagte Partei
S*** DER B*** (Landesstelle Niederösterreich/Wien), Ghegastraße 1, 1031 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Versehrtenrente infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28.Mai 1990, GZ 32 Rs 105/90-23, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 8.November 1989, GZ 19 Cgs 1820/87-19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger erlitt am 1.April 1984 bei einem Arbeitsunfall eine Stichverletzung am linken Fuß, wobei zufolge einer Knocheneiterung ein operativer Eingriff notwendig wurde. Als Folge dieser Verletzung ist ganztägiges Gehen und Stehen mit erhöhten Schmerzen verbunden. Die erhöhten Schmerzen treten bereits auf, wenn kontinuierlich zwei Stunden gegangen oder gestanden wird, sodaß nach dieser Zeit eine entlastende Haltung erforderlich wäre. Eine Entlastung unter 20 Minuten ist nicht wirksam. Die durch die Folgen dieses Unfalles bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt seit 1.Dezember 1984 10 vH.
Am 2.August 1985 zog sich der Kläger bei einem Arbeitsunfall (Verkehrsunfall) eine Verstauchung des linken Handgelenkes und eine Prellung und Zerrung des rechten Schultergelenkes zu. Bereits vor dem Unfall bestanden verstärkte Abnützungserscheinungen im rechten Schultergelenk, die sich infolge des Unfalles verstärkten. Als Unfallsfolge besteht eine Beweglichkeitseinschränkung des rechten Schultergelenkes für Bewegungen des Armes über Kopfhöhe sowie eine geringe Einschränkung der Drehfähigkeit des Schultergelenkes. Schmerzen und Behinderungen beim Autofahren sind allein auf Grund der Grundkrankheit des Klägers, die in beiden Schultern vorliegt, erklärbar. Inwieweit durch die Schulterverletzung diesbezüglich eine Verschlimmerung eingetreten ist, kann nicht abgegrenzt werden. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit durch die Folgen dieses Unfalles beträgt 5 vH. Nachdem es zu keiner Überschneidung der Folgen der Unfälle vom 1.April 1984 und 2.August 1985 kommt, beträgt die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit für beide Unfälle 15 vH. Der Kläger ist seit 1954 Rechtsanwalt, seit 1960 etwa Landwirt. Bei seiner Rechtsanwaltstätigkeit hat er Verdiensteinbußen durch die Unfälle erlitten, weil er Beschwerden beim Autofahren und beim Gehen hat und aus diesem Grund mehr substituieren muß. Im Bereich der Landwirtschaft führte der Kläger den Edlingerhof in Reichaueramt, der Teil einer Jagdpachtverwaltung war. Dieser Hof warf für sich allein keine Einkünfte ab. In diesem Bereich hatte der Kläger die Jagd von den Bundesforsten gepachtet, aus der er Einkünfte von 15.000 S bis 20.000 S jährlich zog. Daneben hatte der Kläger noch einen Betrieb in Königsstetten, bestehend aus einer Waldwiese im Ausmaß von 2,5 ha. Die Jagdpachtung hat der Kläger nach den Unfällen an die Bundesforste zurückgegeben und verkaufte den Edlingerhof. Die Liegenschaft in Königsstetten wird vom Kläger nicht mehr bewirtschaftet.
Für die Folgen des Unfalles vom 1.April 1984 gewährte die beklagte Partei dem Kläger für die Zeit vom 1.Juni 1984 bis 30. November 1984 eine vorläufige Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente. Mit Bescheid vom 20.März 1987 wies die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Versehrtenrente für die Folgen des Unfalles vom 1.April 1984 über den 30.November 1984 hinaus ab.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die zu 19 Cgs 1820/87 erhobene Klage mit dem Begehren, die beklagte Partei zur Weitergewährung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 1.April 1984 über den 30.November 1984 hinaus zu verpflichten.
Mit Bescheid vom 29.Mai 1987 lehnte die beklagte Partei die Gewährung einer Versehrtenrente für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 2.August 1985 ab.
Mit der gegen diesen Bescheid zu 19 Cgs 1027/87 erhobenen Klage begehrt der Kläger die beklagte Partei zur Leistung einer Versehrtenrente von 60 vH der Vollrente vom 2.August 1985 bis ("zunächst") 31.Dezember 1987 zu verpflichten.
Das Erstgericht verband die beiden Rechtssachen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung und wies mit Urteil vom 8.November 1989 beide Begehren ab. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage ausgehend von der medizinischen Einschätzung für die Folgen beider Unfälle ingesamt nur 15 vH und liege daher unter der rentenfähigen Grenze. Ein Härtefall, der ein Abgehen von der medizinischen Einschätzung rechtfertigen könnte, liege nicht vor. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge, wobei es im wesentlichen der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes beitrat. Die Besonderheiten des Rechtsanwaltsberufes seien aus dem Feld der selbständigen Tätigkeiten, das bei Prüfung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu berücksichtigen sei, auszuschalten, da Rechtsanwälte in die gesetzliche Unfallversicherung nicht einbezogen seien. Aus Behinderungen bei Ausübung dieses Berufes könnte daher der Kläger für den Standpunkt nichts ableiten, wobei im übrigen wesentliche Einschränkungen bei Ausübung dieses Berufes nicht aufträten.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß seinem Begehren vollinhaltlich stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Da die Begehren auf Gewährung einer Versehrtenrente und damit auf eine wiederkehrende Leistung gerichtet sind, ist die Revision gemäß § 46 Abs 4 ASGG jedenfalls zulässig. Es erübrigt sich damit auf die Ausführungen des Revisionswerbers zur Zulässigkeit seines Rechtsmittels einzugehen.
Die Revision ist jedoch nicht berechtigt.
Der Revisionswerber mißversteht die in der bisherigen Judikatur zur Frage des Umfanges der Minderung der Erwerbsfähigkeit ausgesprochenen Grundsätze, wenn er für die Ermittlung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit ausschließlich auf die bisher von ihm ausgeübten Berufe abstellen will. Die Erwerbsfähigkeit eines Menschen im Sinn des § 203 ASVG ist seine Fähigkeit, sich unter Ausnützung aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einen Erwerb zu verschaffen. Der Grad der durch die Unfallfolgen verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit ist grundsätzlich abstrakt nach dem Umfang aller verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (SSV-NF 1/64), also auch selbständiger Tätigkeiten zu beurteilen und in Beziehung zu allen Erwerbsmöglichkeiten - und nicht nur den tatsächlich genützten - zu setzen. Unter dem Begriff der Erwerbsfähigkeit im Sinn des § 203 ASVG ist nämlich die Fähigkeit zu verstehen, sich im Wirtschaftsleben einen regelmäßigen Erwerb durch selbständige oder unselbständige Arbeit zu verschaffen. Die Ausbildung und der bisherige Beruf des Verletzten (also konkrete Verweisungsmöglichkeiten im Einzelfall) sind in Abweichung von der zunächst zugrundezulegenden medizinischen Einschätzung nur so weit angemessen zu berücksichtigen als dies zur Vermeidung unbilliger Härten erforderlich ist (SSV-NF 3/22 mwN).
Aus den Feststellungen ergibt sich, daß beim Kläger als Folge des Unfalles vom 1.April 1984 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 vH und als Folge des Unfalles vom 2.August 1985 eine solche von 5 vH besteht. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt insgesamt 15 vH. Beide Verletzungsfolgen liegen daher für sich allein und in ihrem Zusammenwirken unter der Grenze, ab der gemäß § 203 ASVG ein Anspruch auf Versehrtenrente besteht. Auch ein Härtefall der ein Abgehen von der medizinischen Einschätzung rechtfertigen würde, liegt nicht vor. Da die Unfallversicherung keine Berufsversicherung ist, kann selbst die Unmöglichkeit den bisherigen Beruf nicht mehr auszuüben, für sich allein keinen Härtefall darstellen (SSV-NF 3/22); auch wenn der Kläger durch die Unfallfolgen außer Stande wäre, besondere Anforderungen des bisherigen Berufes zu erfüllen, würde dies für sich allein nicht ein Abgehen von der medizinischen Einschätzung rechtfertigen. Im übrigen liegen dafür, daß der Kläger von seiner Berufsausübung ganz oder teilweise ausgeschlossen werde, keine Anhaltspunkte vor. Soweit er in seinen Ausführungen dahin argumentiert, daß er bei Ausübung des Rechtsanwaltsberufes durch die Unfallfolgen um 50 % eingeschränkt sei, geht er nicht von den Feststellungen aus. Die Behinderungen beim Autofahren, auf die sich der Kläger dabei beruft, sind primär auf die anlagebedingten Abnützungserscheinungen in den Schultergelenken zurückzuführen. Daß diesbezüglich durch den Unfall eine Verschlimmerung eingetreten wäre, wurde nicht erwiesen. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, daß als Folge des Unfalles vom 2. August 1985 eine Behinderung bei Ausübung des Anwaltsberufes besteht. Nach dem Unfall vom 1.April 1984 besteht eine Fußverletzung, die bedingt, daß der Kläger nach ununterbrochenem Stehen und Gehen in der Dauer von 2 Stunden einer Entlastung von mindestens 20 Minuten bedarf. Es kann aber als bekannt vorausgesetzt werden, daß die Ausübung des Anwaltsberufes regelmäßig keine zwei Stunden übersteigenden ununterbrochenen Geh- und Stehleistungen erfordert. Für die Argumentation des Klägers, der den Standpunkt vertritt, daß er wegen der Unfallfolgen alle Causen substituieren müsse (auf diese Weise gelangt er zur Annahme einer berufsbezogenen Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 %), fehlt daher jede Grundlage. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob die Unfähigkeit einen nicht versicherten Beruf auszuüben die Annahme eines Härtefalles rechtfertigen kann. Da der Kläger den Anwaltsberuf jedenfalls weiterhin ohne relevante Einschränkungen ausüben kann, ist es entbehrlich, diese Frage zu erörtern.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe, die einen Kostenzuspruch aus Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden weder geltend gemacht noch ergeben sich Anhaltspunkte für solche Gründe aus dem Akt.
Anmerkung
E21770European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1990:010OBS00290.9.0918.000Dokumentnummer
JJT_19900918_OGH0002_010OBS00290_9000000_000