Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Robert Göstl (Arbeitgeber) und Walter Hartl (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz P***, Drahtzieher, 8605 Kapfenberg, Schinitzhof 4, vertreten durch Dr.Gerhard Delpin, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei
P*** DER A***, 1092 Wien, Roßauer
Lände 3, diese vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 12.Dezember 1989, GZ 8 Rs 121/89-40, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 28. April 1989, GZ 21 Cgs 284/88-36, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei im zweiten - wie schon im ersten - Rechtsgang schuldig, dem Kläger ab 1.5.1987 die Invaliditätspension in der gesetzlichen Höhe zu bezahlen, und trug ihr gemäß § 89 Abs 2 ASGG eine vorläufige Zahlung von 5.004 S monatlich auf. Es stellte im wesentlichen folgendes fest:
Der am 2.8.1935 geborene Kläger ist seit 1964 in einem Unternehmen tätig, in dem er etwa seit 1970 innerbetrieblich einer Ausbildung zum Drahtzieher unterzogen wurde. Der Beruf des Drahtziehers war zu dieser Zeit nicht mehr in der Lehrberufsliste enthalten. Der Kläger wurde zunächst an einfachen Ziehmaschinen, nämlich Einblock- und Doppelzugmaschinen, angelernt. Hauptaufgabe des Drahtziehers ist dabei, den richtigen Ziehstein auszuwählen und einzusetzen und den Draht mit einer Maschine anzuspitzen. Dann zieht er den angespitzten Draht mit einer Anhängezange durch den Ziehstein und beobachtet den Fertigungsvorgang. Am Ende wird der aufgespulte Draht abgebunden, die auf der Spule befindlichen Schrauben werden mit einem Schraubenschlüssel gelöst. Der Kläger hatte schon an der einfachen Drahtziehmaschine die Abmessungen des Drahtes und die Zugfestigkeit an den Drahtzugmaschinen zu prüfen. Die Einschulung auf der einfachen Drahtziehmaschine erforderte etwa 3 bis 4 Monate. Danach fand eine 3wöchige Schulung mit täglich 4 Stunden theoretischem Unterricht statt.
In weiterer Folge wurde der Kläger auch an Mehrfachziehmaschinen, an denen Seil- und Federstahldrähte gezogen werden, eingeschult. Diese haben 6 bis 10 Ziehvorgänge, wobei bei jedem dieser Ziehvorgänge der passende Ziehstein auszuwählen ist. Es ist dann der Draht ein- und durch alle Ziehsteine durchzuziehen und danach zu prüfen. Bei Seil- und Federstahldrähten muß eine vollkommene Gleichmäßigkeit über die gesamte Drahtlänge erzielt werden. Dazu sind Richtgeräte am Ende der Ziehmaschine vorhanden. Der Drahtzieher führt den Draht durch diese Richtgeräte und behandelt ihn mit den Richtrollen so, daß er in seiner Struktur vollkommen gleichmäßig wird. Jeweils am Anfang des Ziehvorganges muß gschweißt werden, wobei je nach dem Material verschiedene Einstellungen beim Schweißgerät erforderlich sind. Der Kläger erwarb schon im Zuge der Anlernzeit an der einfachen Drahtziehmaschine Schweißkenntnisse.
Nach der Einschulung an der Mehrfachziehmaschine wurde der Kläger auch an Spulen und Wicklern eingeschult, die in etwas anderer Weise als die Ziehmaschinen zu bedienen sind. Der Drahtzieher hat am Ende der Ziehmaschine den Draht über die Ziehspulmaschine oder den Wickler zu führen und diese Einheiten an der Maschine direkt zu adjustieren. Am Ende des Spul- bzw Wickelvorganges hatte der Kläger den Draht in zwei Ebenen mit einem Mikrometer zu messen, nach Einheitsgrößen zu trennen und diese Einheiten mit Stahlbändern abzubinden.
Der Kläger war zuletzt an zwei Mehrfachziehmaschinen eingesetzt, an denen Schußbolzen hergestellt wurden. An diesem Arbeitsplatz wurde verstärkt auf Oberflächengüte Wert gelegt. Fallweise wurde mit diesen Maschinen auch Federstahldraht erzeugt.
Der Kläger erhielt vom Meister die Arbeitspapiere, auf denen das zu verwendende Material, die Toleranzen, die geforderte Zugfestigkeit und die Menge der zu produzierenden Einheiten angeführt waren. Die Aufgabe des Klägers bestand darin, den Draht in die Drahtziehmaschine einzuziehen, die Oberflächenqualität und das Maß zu kontrollieren und den Draht mit einem Mikrometer zu messen
Die Tätigkeit des Drahtziehers ist eine spezielle, nur auf die Erzeugung von Draht ausgerichtete Tätigkeit, die mit keinem in der Liste der Lehrberufe enthaltenen Lehrberuf verglichen werden kann. Der Drahtzieher, der alle Drahtziehmaschinen beherrscht, ist eine hochqualifizierte Kraft. Der Inhalt des früheren Lehrberufes des Drahtziehers kann nicht festgestellt werden.
Der Kläger kann wegen seiner - im einzelnen näher
beschriebenen - Leiden leichte und mittelschwere Arbeiten verrichten. Tätigkeiten in gebückter Körperhaltung sind ihm nur bis zur Hälfte eines Arbeitstages zuzumuten. Arbeiten, die in rascher zeitlicher Abfolge durchgeführt werden müssen, Arbeiten, die eine besondere Fingerfertigkeit verlangen und Akkordarbeiten sind auszuschließen. Er ist im Rahmen von Tätigkeiten verweisbar, die unterdurchschnittliche Anforderung an die praktische Intelligenz stellen.
Der Kläger ist nicht mehr in der Lage, als Drahtzieher zu arbeiten, weil dabei die Muskelbeanspruchung mittelschwer bis schwer ist und die Arbeiten meist im Akkord verrichtet werden. Er ist jedoch den Anforderungen gewachsen, die an einen Abwäscher oder Verpacker gestellt werden.
Rechtlich beurteilte das Erstgericht den von ihm festgestellten Sachverhalt dahin, daß der Kläger, der in über zweijähriger praktischer und theoretischer Schulung zum Drahtzieher ausgebildet worden sei, einfache Drahtziehmaschinen und Mehrfachdrahtziehmaschinen sowie Ziehspulgeräte und Wickler beherrsche sowie schweißen, messen und Materialprüfungen vornehmen könne, Kenntnisse und Fähigkeiten erworben habe, die in ihrer Gesamtheit denen eines Lehrberufes entsprächen. Da es für ihn innerhalb der "Metallbranche" keine Verweisungstätigkeit mehr gebe, sei er somit invalid im Sinn des für ihn maßgebenden § 255 (Abs 1) und Abs 2 ASVG.
Das Berufungsgericht wies infolge Berufung der beklagten Partei das auf Zahlung der Invaliditätspension in der gesetzlichen Höhe gerichtete Klagebegehren ab. Aus der Tatsache, daß die Tätigkeit des Drahtziehers 1969 nicht in die Lehrberufsliste aufgenommen worden sei, obwohl dies bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 5 Abs 1 und 3 BAG zwingend hätte geschehen müssen, lasse sich mit einiger Sicherheit folgern, daß der Beruf des Drahtziehers nicht als die Voraussetzungen dieser Gesetzesstelle erfüllend angesehen wurde. Daraus sei zu schließen, daß ein Versicherter, der nach dem Inkrafttreten des BAG am 1.1.1970 für die Tätigkeit des Drahtziehers angelernt worden sei, hiedurch nicht einem Lehrberuf vergleichbare Kenntnisse und Fähigkeiten habe erlangen können. Überdies sei der Kläger bei seinem Arbeitgeber nur an Drahtziehmaschinen eingesetzt gewesen, in anderen Arbeitsbereichen, wie in der Beizerei, Wärmebehandlung, Verzinkerei und Ziehsteinaufbereitung, aber nicht ausgebildet worden. Zum Berufsbild des in der Bundesrepublik Deutschland einen Ausbildungsberuf mit einer Ausbildung von 2 Jahren darstellenden Drahtzieherberufes gehöre eine schlosserische Grundausbildung und daraufhin die Fachausbildung in der Zieherei, wobei auch Fertigkeiten und Kenntnisse in Materialdisposition, Wärmebehandlung, Beizerei, Zieherei, Ziehsteinaufbereitung, Kontrolle und Versand vermittelt würden. Da der Kläger über die reine Ziehtätigkeit an verschiedenen Maschinen hinaus nur gewisse Schweißarbeiten verrichtet habe, seien ihm wesentliche Bereiche der Tätigkeit eines Drahtziehers unbekannt geblieben. Seine Tätigkeit habe nicht jene Vielfalt aufgewiesen, die erforderlich wäre, um von einem der umfassenden Ausbildung in einem Lehrberuf vergleichbaren Berufsbild sprechen zu können. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, auf den er gemäß dem demnach für ihn maßgebenden § 255 Abs 3 ASVG zu verweisen sei, gebe es noch Tätigkeiten, die seinem Leistungskalkül entsprechen, weshalb er nicht invalid sei.
Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es dahin abzuändern, daß die beklagte Partei zur Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß schuldig erkannt und ihr eine vorläufige Zahlung von monatlich 5.004 S auferlegt wird. Hilfsweise wird beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht oder an das Erstgericht zurückzuverweisen. Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (§ 2 Abs 1 ASGG iVm § 503 Z 2 ZPO) ist allerdings nicht dem Gesetz gemäß ausgeführt, weil nur Feststellungsmängel geltend gemacht werden, die mit der rechtlichen Beurteilung der Sache im Zusammenhang stehen. Die entsprechenden Ausführungen gehören daher zur Rechtsrüge (SZ 23/175; JBl 1982, 311; SSV-NF 3/29) und werden im folgenden behandelt, zumal die unrichtige Benennung des Revisionsgrundes gemäß § 2 Abs 1 ASGG iVm § 84 Abs 2 ZPO unerheblich ist.
Der Oberste Gerichtshof hat das Argument des Berufungsgerichtes, die Tätigkeit des Drahtziehers könne nicht als eine einem Lehrberuf gleichwertige Tätigkeit angesehen werden, weil sie vom zuständigen Bundesminister nicht gemäß § 7 Abs 1 lit a BAG als Lehrberuf festgesetzt wurde, schon in seiner - ebenfalls einen Drahtzieher betreffenden - Entscheidung vom 8.5.1990, 10 Ob S 180/90, vor allem unter Hinweis auf die Erläuterungen zum Initiativantrag zur
9. ASVGNov (517 BlgNR 9.GP 86) verworfen. Er hat in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, daß für die Auflassung eines Lehrberufes verschiedene Gründe maßgebend sein könnten, weshalb sie für sich allein nicht der Annahme entgegenstehe, daß die für die entsprechende Berufstätigkeit erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten denen eines Lehrberufes entsprechen. Der Oberste Gerichtshof hat ferner in mehreren Entscheidungen (SSV-NF 3/70 mwN) ausgesprochen, der Berufsschutz sei nicht erst dann zu bejahen, wenn der Versicherte alle Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, die nach den Ausbildungsvorschriften zum Berufsbild eines Lehrberufes zählen und daher einem Lehrling während der Lehrzeit zu vermitteln sind. Es komme vielmehr darauf an, daß er über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfüge, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen Berufes in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten (Berufsgruppen) unter Berücksichtigung einer betrieblichen Einschulungszeit verlangt werden. Hingegen reiche es nicht aus, wenn sich die Kenntnisse oder Fähigkeiten nur auf ein Teilgebiet oder mehrere Teilgebiete eines Tätigkeitsbereiches beschränken, der von ausgelernten Facharbeitern allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht wird.
Soweit die Ansicht des Berufungsgerichtes in die Richtung geht, daß der Kläger deshalb keinen Berufsschutz habe, weil er nicht über alle Kenntnisse und Fähigkeiten verfüge, die in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Ausbildung zum Drahtzieher vermittelt und verlangt werden, ist sie somit schon deshalb nicht zielführend, weil es nicht erforderlich ist, daß der Versicherte über alle Kenntnisse und Fähigkeiten eines Lehrberufes verfügt. Überdies hat der Oberste Gerichtshof in der zitierten Entscheidung 10 Ob S 180/90 auch ausgeführt, daß die Anforderungen, die in der Bundesrepublik Deutschland an den Lehrberuf des Drahtziehers gestellt werden, zwar einen guten Hinweis auf das Berufsbild geben könnten, daß aber der Vergleich mit einem österreichischen Lehrberuf gezogen werden müsse. Bildet die Berufstätigkeit des Versicherten, die er während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausübte (vgl § 255 Abs 1 und 2 ASVG), einen Teil eines Lehrberufes, so ist zur Lösung der Frage des Berufsschutzes dieser Lehrberuf zum Vergleich heranzuziehen. Trifft dies aber nicht zu, weil kein Lehrberuf vorhanden ist der die Berufstätigkeit des Versicherten einschließt, so muß auf jenen Lehrberuf zurückgegriffen werden, der mit ihr am ehesten verwandt ist. Dabei ist wieder auf die auf den Arbeitsmarkt gefragten Varianten dieses Lehrberufes Bedacht zu nehmen und jene Variante zum Vergleich heranzuziehen, die der vom Versicherten ausgeübten Berufstätigkeit am nächsten kommt. Hiefür wird etwa maßgebend sein, ob das be- oder verarbeitete Material das gleiche oder ähnliche ist, ob ähnliche Maschinen oder Werkzeuge verwendet werden oder ob ähnliche Arbeitsvorgänge vorkommen. In diesem Zusammenhang ist es ohne Bedeutung, daß das Erstgericht im Rahmen der Tatsachenfeststellungen ausführte, die Tätigkeit des Drahtziehers könne mit keinem existierenden Lehrberuf verglichen werden. Soweit dies als Tatsachenfeststellung und nicht ohnedies als rechtliche Beurteilung gedacht ist, wäre die Tatsachenfeststellung unbeachtlich, weil sie im Sinn der vorstehenden Ausführungen mit den Denkgesetzen unvereinbar ist, und unterläge daher der Überprüfung im Rahmen der rechtlichen Beurteilung (SZ 57/198 ua). Da hier anzunehmen ist, daß ein mit der Berufstätigkeit des Klägers verwandter Lehrberuf vorhanden ist, muß nicht erörtert werden, wie vorzugehen ist, wenn er weder einen die Berufstätigkeit des Versicherten einschließenden noch einen mit ihr verwandten Lehrberuf gibt.
Die Feststellungen der Vorinstanzen reichen nicht aus, um nach diesen Grundsätzen beurteilen zu können, ob der Kläger während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in einem angelernten Beruf im Sinn des § 255 Abs 1 ASVG tätig war. Hiefür ist in erster Linie zu klären, welcher Lehrberuf mit der Tätigkeit eines Drahtziehers am ehesten verwandt ist, welche auf dem Arbeitsmarkt gefragte Variante dieses Lehrberufes der Tätigkeit des Klägers am nächsten kommt und welche Kenntnisse und Fähigkeiten von einem Arbeiter in dieser Variante üblicherweise verlangt werden. Dem werden dann die gleichen oder gleichartigen und gleichwertigen - allenfalls ebenfalls noch festzustellenden - Kenntnisse und Fähigkeiten gegenüberzustellen sein, die der Kläger in der während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausgeübten Berufstätigkeit anwendete. Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 2 Abs 1 ASGG iVm § 52 Abs 1 ZPO.
Anmerkung
E22214European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1990:010OBS00170.9.0925.000Dokumentnummer
JJT_19900925_OGH0002_010OBS00170_9000000_000