Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 14.Dezember 1990 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Piska als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Walenta, Dr. Reisenleitner, Dr. Felzmann und Dr. Rzeszut als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Pokorny als Schriftführerin in der Strafsache gegen Harald S*** wegen des Verbrechens des Mißbrauches der Amtsgewalt nach dem § 302 Abs. 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 22.Juni 1990, GZ 1 c Vr 3.388/89-81, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene, in seinem freisprechenden Teil unberührt bleibende Urteil wird in seinem den Angeklagten schuldig sprechenden Teil und demzufolge im Strafausspruch (einschließlich des Ausspruches über die Anrechnung der Vorhaft) aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung im Umfang der Aufhebung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem auch einen rechtskräftig gewordenen Freispruch enthaltenden angefochtenen Urteil wurde Harald S*** des Verbrechens des Mißbrauches der Amtsgewalt nach dem § 302 Abs. 1 StGB (Punkt A/1 und A/2 des Schuldspruches), des Vergehens der Veruntreuung nach dem § 133 Abs. 1 und Abs. 2, erster Fall, StGB (Punkt B/1 und B/2 des Schuldspruches), des Vergehens der Vortäuschung einer mit Strafe bedrohten Handlung nach dem § 298 Abs. 1 StGB (Punkt C/ des Schuldspruches) und des Verbrechens der Verleumdung nach § 297 Abs. 1, zweiter Fall (gemeint: erster Deliktsfall, aber höherer Strafsatz - siehe EvBl. 1982/198; ÖJZ-LSK 1984/129) StGB (Punkt D/1 und D/2 des Schuldspruches) schuldig erkannt.
Ihm liegt zur Last, in Wien als Zusteller der Post am 1. Dezember 1988 und am 31.März 1989 jeweils Briefsendungen nicht zugestellt, sondern vernichtet (Punkt A/1 und A/2) und sich Geldbeträge, welche ihm zur Auszahlung im Postscheckverkehr anvertraut waren, zugeeignet (Punkt B/1 und B/2) zu haben; ferner wird ihm angelastet, am 18.Jänner 1989 im Zusammenhang mit den Vorgängen vom 1.Dezember 1988 (laut Punkt A/1 und B/1) durch entsprechende Behauptungen gegenüber einem Beamten der Bundespolizeidirektion Wien wissentlich die Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung durch einen unbekannten Täter vorgetäuscht zu haben (Punkt C/); schließlich wird ihm vorgeworfen, am 20. Juni 1989 bei einer Vernehmung durch den Untersuchungsrichter (Punkt D/1) und am 7.März 1990 in der Hauptverhandlung als Angeklagter (Punkt D/2) Polizeibeamte durch die jeweils wissentlich falsche Behauptung, sie hätten ihn zwecks Abnötigung eines Geständnisses mißhandelt, verleumdet zu haben.
Rechtliche Beurteilung
Der den Schuldspruch bekämpfenden, auf die Z 4, 5, 5 a, 9 lit. a, 9 lit. b und 10 des § 281 Abs. 1 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten kann Berechtigung nicht versagt werden.
In Ausführung der Verfahrensrüge (Z 4) wendet sich der Angeklagte mit einem seiner Einwände zu Recht gegen die Abweisung des Antrages auf Vernehmung des Thomas M*** als Zeugen. Die anläßlich der Verkündung des abweisenden Zwischenerkenntnisses (§ 238 Abs. 2 StPO) ohne konkrete inhaltliche Begründung gebliebene (S 58/II) und in den Urteilsgründen mit Unerreichbarkeit des Zeugen motivierte Verweigerung der Beweisaufnahme hält einer Überprüfung nicht stand:
Die Vernehmung des auch in der Anklageschrift (S 248/I) als vorzuladenden Zeugen genannten Thomas M*** wurde vom Verteidiger zwar ohne wünschenswert präzise Darlegung eines Beweisthemas begehrt (S 394/I, S 20 und 56/II), jedoch ergibt sich immerhin aus dem in der letzten Hauptverhandlung beigefügten Vorbringen über die Notwendigkeit dieses Beweises (S 56/II) und dem zum Verfahrensgegenstand bestehenden Sachzusammenhang mit hinreichender Klarheit, daß damit die Erkenntnisgrundlage des Schöffengerichtes über die Frage erweitert werden sollte, ob dem Angeklagten am 31. März 1989 (Fakten A/2 und B/2) die Zustelltasche samt Inhalt geraubt wurde oder ob er einen derartigen Vorgang bloß fingierte, ob Thomas M*** an einer der Varianten dieses Geschehens beteiligt war und ob die Behauptung des Angeklagten am 31.März 1989 gegenüber Polizeibeamten, M*** sei Komplize gewesen (S 55/I), in irgendeiner Form eine reale Grundlage hatte. Unter dem letztgenannten Gesichtspunkt betraf die Beweisführung auch die allgemeine inhaltliche Richtigkeit der damals vom Angeklagten deponierten Angaben, welche er später widerrief und in einer ihm als Verleumdung zur Last liegenden Erklärung (Faktum D/1) auf Nötigung durch Polizeibeamte zurückführte.
Der demgemäß zu erheblichen Beweiszwecken namhaft gemachte Zeuge wurde nach Wohnsitzwechsel und Ausforschung seiner nunmehrigen Adresse (S 261/I) bereits zu der (wegen Ausbleibens des damals offenbar erkrankten Angeklagten sogleich vertagten) Hauptverhandlung vom 6.November 1989 unter der neuen Adresse geladen; ob er dieser Ladung Folge leistete, ist den Akten nicht zu entnehmen (S 263 ff/I). In der Folge wurde M*** zur Hauptverhandlung vom 7. März 1990 wieder unter seiner nicht mehr aktuellen früheren Adresse geladen (S 312/I); eine Zustellung konnte demgemäß nicht bewirkt werden (S 315/I). Zu der für den 20. bis 22.Juni 1990 anberaumten Hauptverhandlung wurde M*** neuerlich unter der nicht mehr zutreffenden Adreasse vorgeladen (S 449/I); die abermals mißglückte Zustellung veranlaßte neuerliche Erhebungen über seinen Wohnsitz, bei denen wiederum die schon aktenkundige neue Adresse bekanntgegeben wurde (S 25/II). Der Vorsitzende des Schöffensenates ordnete daraufhin am 21.Juni 1990 die Zustellung der Ladung für den nächsten Tag durch einen Gerichtsboten an (S 27/II). Obwohl diese Zustellung noch am 21.Juni 1990 stattfand (S 27/II), erklärte der Vorsitzende am nächsten Tag in der Hauptverhandlung, zu der M*** nicht erschienen war, die Zustellung sei nicht ausgewiesen und der Zeuge nicht greifbar.
Angesichts dieser Vorgänge ist die im erstgerichtlichen Urteil enthaltene Ansicht, M*** sei als Beweismittel unerreichbar (US 25), unzutreffend: Das Gesetz sieht eine Vorführung eines (unentschuldigt) ausgebliebenen Zeugen vor (§ 242 StPO). Es kann nicht angenommen werden, daß keine Aussicht bestünde, den in Wien wohnenden Zeugen bei Einsatz der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erhebungs- und Zwangsbefugnisse zu einer Hauptverhandlung stellig zu machen.
Durch das Unterbleiben zweckentsprechender Schritte zur Durchführung der Zeugenvernehmung wurden Verteidigungsrechte des Angeklagten beeinträchtigt, weshalb eine Aufhebung des Schuldspruches unvermeidlich ist.
Die Kassation kann sich nicht allein auf die Fakten A/2 und B/2 beschränken, zu denen der Zeuge Wahrnehmungen gemacht haben soll, weil die Beweisaufnahme auch die Richtigkeit des als Beweismittel herangezogenen Geständnisses des Angeklagten vom 31.März 1989 (12.40 Uhr) vor der Polizei betrifft, sodaß der Verfahrensmangel sich auch auf den Schuldspruch wegen der laut den damaligen Angaben vom Angeklagten verübten Fakten A/1, B/1 und C/ erstreckt. Darüber hinaus besteht ein denkmöglicher beweismäßiger Zusammenhang zwischen den dem Angeklagten angelasteten Delikten des Amtsmißbrauchs, der Veruntreuung und der Vortäuschung einer strafbaren Handlung mit den weiteren Vorwürfen der Verleumdung von Polizeibeamten. Diese Verbindung manifestiert sich in den Beweiswürdigungserwägungen des Schöffengerichtes, in denen sinngemäß zum Ausdruck kommt, daß die Bezichtigung der Polizeibeamten dem Angeklagten eine logische Grundlage schaffen sollte, sein abgelegtes zutreffendes Geständnis für inhaltlich unrichtig zu erklären (US 14). Demgemäß kann aber hier der vom Verfahrensmangel betroffene Ausspruch über die inhaltliche Richtigkeit des Geständnisses nicht von den Verfahrensgrundlagen für den Schuldspruch wegen Verleumdung getrennt werden, sodaß im Sinn des § 289 StPO die Urteilsaufhebung auch insoweit zu verfügen war.
Da bereits der erörterte Verfahrensmangel die Aufhebung des gesamten Schuldspruches und die Anordnung der Verfahrenserneuerung erfordert, erübrigt sich ein näheres Eingehen auf die weiteren geltend gemachten Beschwerdegründe.
Für das erneuerte Verfahren sei beigefügt, daß der Beschwerdeführer mit Recht eine Klarstellung fordert, ob durch eine von ihm behauptete Verpflichtungserklärung über den Ersatz des laut Faktum B/1 veruntreuten Geldes die Strafbarkeit der vorgeworfenen Tat zufolge tätiger Reue aufgehoben wurde (§ 167 Abs. 2 Z 2 StGB - siehe hiezu EvBl. 1987/52). Die im Urteil enthaltene Begründung für die Abweisung eines Antrages auf Vernehmung eines Zeugen, weil er nicht Tatzeuge sei und "nur über eine allfällige Schadensgutmachung" berichten könne (US 24), geht an der rechtlich relevanten Möglichkeit des Eintrittes des bezeichneten Strafaufhebungsgrundes vorbei.
Zum Verleumdungsfaktum D/2 sei schließlich angemerkt, daß die Tathandlung dem undeutlichen Inhalt des Ersturteils (US 12) und auch dem Rechtsmittelvorbringen des Beschwerdeführers zuwider nicht eine das Wesen der angedichteten Taten unberührt lassende bloße Präzisierung und Steigerung der bereits zum Faktum D/1 umschriebenen Bezichtigung einer Nötigung zum Geständnis vom 31.März 1989 (12.40 Uhr) in bezug auf den Polizeibeamten P*** betrifft, sondern Äußerungen in der Hauptverhandlung, mit denen der Angeklagte den genannten Beamten beschuldigte, bei einem zeitlich völlig getrennten Vorfall - nämlich einer Befragung über das Versteck der Tasche und über Komplizen - andere massive Nötigungen verübt zu haben (S 350 ff, 389 f/I).
Die auf diese Behauptungen sofort folgende Anklageausdehnung wegen Verleumdung (S 392/I) und andere Umstände, insbesondere der Zeitpunkt und der Inhalt der (völlig neuen) Schilderung des Angeklagten, legen allerdings die Möglichkeit nahe, daß die Beschuldigung gegen P*** von vornherein zu wenig glaubwürdig war, um den Bezichtigten aus diesem Anlaß in die Gefahr einer behördlichen Verfolgung zu bringen. Falsche Beschuldigungen, die so unglaubhaft erscheinen, daß nicht einmal die Wahrscheinlichkeit eines behördlichen Einschreitens gegen den Verdächtigen besteht, vermögen den Verleumdungstatbestand nicht herzustellen (EvBl. 1979/29 und 152). Daher müßte ein neuerlicher Schuldspruch im Verleumdungsfaktum D/2 auch auf tragfähig begründeten Feststellungen beruhen, daß die vom Täter angestrebte (gegebenenfalls auch nur kurzfristige - SSt. 50/12) behördliche Verfolgung des verdächtigten Polizeibeamten mit einem dem Begriff der "Gefahr" entsprechenden Wahrscheinlichkeitsgrad erwartet werden konnte.
Es war daher der Nichtigkeitsbeschwerde Folge zu geben und das bekämpfte Urteil, das in seinem freisprechenden Teil als unangefochten unberührt bleibt, im Schuldspruch und demzufolge im Strafausspruch aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zu verweisen.
Der Angeklagte war mit seiner Berufung auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.
Anmerkung
E22518European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1990:0110OS00123.9.1214.000Dokumentnummer
JJT_19901214_OGH0002_0110OS00123_9000000_000