Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Hofmann, Dr. Schlosser, Dr. Graf und Dr. Schiemer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dkfm. Friedrich M***, Wirtschaftstreuhänder, Wien 1., Judenplatz 5/17, vertreten durch Dr. Werner Masser, Dr. Ernst Grossmann, Dr. Eduard Klingsbigl, Dr. Robert Lirsch, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei S*** W***, vertreten durch Dr. Peter Rudeck, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 55.000,-- samt Anhang, infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 30. April 1990, GZ 14 R 4/90-27, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 15. November 1989, GZ 52 c Cg 1024/88-20, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 4.077 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 679,50 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid des Magistrates der Stadt Wien vom 7.12.1950, MAbt 46 - 6686/50, 6689/50, wurde der Verwaltung der Bundesgärten über Antrag gemäß § 1 der Kundmachung des Wiener Stadtsenates vom 27. Jänner 1948 betreffend Erteilung von Ausnahmebewilligungen von der Reinigungs- und Bestreuungspflicht von Gehwegen (Amtsblatt der Stadt Wien 1948 Nr. 10 S. 10) für die auf der Ringstraße vom Goethedenkmal bis zum Burgtheater neben der Parkmauer des Burg- und Volksgartens verlaufende Gehallee eine jederzeit widerrufliche Befreiung von der Verpflichtung zur Säuberung und Bestreuung bei Schneelage und zur Bestreuung bei Glatteis erteilt. Mit Bescheid des Magistrates der Stadt Wien vom 22.10.1984, MA 46-U 1-24, 25/84, wurden gemäß § 90 StVO unter anderem im Bereich der Gehallee in Höhe Bellariastraße Arbeiten auf öffentlichen Straßen bewilligt. Die Ausführung sollte bei Tag bei Sperre der ringnäheren Gehallee bei "sinngemäßer und ausreichender" Einweisung der Fußgänger in die nächstgelegene Gehallee erfolgen. Genehmigt wurde die Aufstellung einer Bauhütte in der Gehallee im Anschluß an die Baustelle. Angeordnet wurde die Aufstellung des Verkehrszeichens nach § 50 Z 9 StVO (Baustelle). Nach den im Bescheid enthaltenen allgemeinen Bedingungen waren gleichzeitige Aufgrabungen auf allen Gehsteigen einer Straße unzulässig. "Ansonsten ist auf die Erhaltung der Sicherheit des Fußgängerverkehrs im Bereich der Baustelle zu achten." Durch diese Bauarbeiten blieb nur die neben der Parkmauer befindliche Gehallee für den Fußgängerverkehr frei. Ein Widerruf der Ausnahmegenehmigung vom 7.12.1950 durch die beklagte Partei erfolgte nicht.
Der Kläger benützte bei Schneelage am 17.12.1984 gegen 11.15 Uhr die mittlere (offensichtlich von der beklagten Partei geräumte und gestreute) stadtseitig gelegene Gehallee des Rings Richtung Mariahilferstraße. Wegen der dort durchgeführten Bauarbeiten war aber diese mittlere Gehallee unterbrochen. Einem Hinweisschild folgend wich der Kläger auf die nicht gestreute neben der Parkmauer gelegene Gehallee aus. Dort stürzte er auf einer nicht erkennbaren Eisplatte und verletzte sich an beiden Kniegelenken. Unter Anerkennung eines Mitverschuldens von 1/4 ist die Höhe des dem Kläger zustehenden Schmerzengeldes von S 55.000 unstrittig. Der Kläger begehrt mit der vorliegenden Amtshaftungsklage den Zuspruch dieses Betrages. Die Magistratsabteilung 46 der beklagten Partei habe es schuldhaft und rechtswidrig unterlassen, die Ausnahmebewilligung von der Bestreuungspflicht für die Gehallee nächst der Parkmauer anläßlich der mit Sperren der ersten und zweiten Allee verbundenen Bauarbeiten zu widerrufen. Die Behörde habe bei Erlassung des Bescheides vom 22.10.1984 die nötige Vorsorge zur Erfüllung der Handlungspflichten nach § 93 StVO bzw. § 1319 a ABGB unterlassen.
Der beklagte Rechtsträger wendete ein, seine Organe hätten sich nicht rechtswidrig und schuldhaft in Vollziehung der Gesetze verhalten. Der Widerruf der Ausnahmegenehmigung wäre nicht sinnvoll gewesen, da in diesem Fall die Verwaltung der Bundesgärten im Sinn der Bestimmung des § 93 StVO und der dazu ergangenen Verordnung des Magistrates der Stadt Wien lediglich verpflichtet gewesen wäre, entlang der Mauer des Volksgartens einen Streifen von 1,5 m zu streuen und zu reinigen. Hiedurch wäre jedoch für das Problem des Klägers nichts gewonnen gewesen. Eine Schadenersatzklage wäre nur gegen den zuständigen Bauführer, nicht aber gegen die beklagte Partei zu richten.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es stellte fest, wenn die beklagte Partei die Ausnahme von der Streupflicht widerrufen hätte, wäre der Kläger bei pflichtgemäßer Wahrnehmung der Räum- und Streupflicht durch die Verwaltung der Bundesgärten nicht gestürzt, da er in einem Abstand von nicht mehr als 1,5 m Entfernung von der Volksgartenmauer, also jedenfalls innerhalb eines Abstandes von 2/3 der gesamten Gehsteigbreite, gestürzt sei. Die Unterlassung des gebotenen Widerrufs der Räum- und Streupflicht sei daher für den Schaden, der dem Kläger erwachsen sei, kausal. Rechtlich führte es aus, durch die von der beklagten Partei am 22.10.1984 gemäß § 90 StVO bewilligten Bauarbeiten seien für die Dauer dieser Arbeiten die vom Gesetzgeber normierten Voraussetzungen für eine Befreiung nicht mehr gegeben gewesen, da der Fußgängerverkehr im Baustellenbereich auf den nächst der Volksgartenmauer gelegenen Bereich der Gehallee umgeleitet worden sei und bei Aufrechterhaltung der erteilten Ausnahmegenehmigung kein Bereich verblieben wäre, der zum Schutz der Fußgänger zu reinigen und zu bestreuen gewesen sei. Wegen der allgemein bekannten Bedeutung dieser Gehallee entlang der Ringstraße für den Fußgängerverkehr hätte es jedenfalls den Erfordernissen des Fußgängerverkehrs entsprochen, daß im Baustellenbereich die Anrainerpflichten gemäß § 93 StVO in dem durch die Verordnung vom 14.10.1965 (Amtsblatt 1965/88) normierten Umfang aufrecht erhalten werden. Von der beklagten Partei sei daher in unvertretbarer Weise der Widerruf der bestehenden Ausnahmegenehmigung für die Dauer der Bauarbeiten unterlassen worden. Da der Behörde durch die Bewilligung der Bauarbeiten die Tatsachen bekannt gewesen seien, die einen Widerruf der erteilten Ausnahmegenehmigung erfordert hätten, sei sie ihrer Pflicht zum Widerruf der Befreiung schuldhaft nicht nachgekommen. Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Die ordentliche Revision ließ es nicht zu. Durch den Bescheid vom 22.10.1984 sei der Bauführer nicht verpflichtet worden, für eine Schneeräumung und Streuung der Gehsteige außerhalb der Baustelle Sorge zu tragen, es sei keine Verpflichtung entstanden, den Gehsteig längs der Mauer des Volksgartens auf Höhe der Baustelle zu räumen und zu streuen. Der beklagten Partei sei zwar zuzustimmen, daß sie im Rahmen des § 90 StVO bei Bewilligung von Arbeiten im Bereich der Straße die Möglichkeit gehabt hätte, Verkehrssicherungsvorschriften zu erlassen, doch sei dies hier unterlassen worden.
Rechtliche Beurteilung
Die außerordentliche Revision der beklagten Partei ist zwar zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.
Nach der auf Grund der damals in Geltung gestandenen Vorschriften der §§ 6 Abs. 1, 83 Abs. 6 StPolO erlassenen Kundmachung des Wiener Stadtsenates vom 27.1.1948, Amtsblatt der Stadt Wien 1948 Nr. 10 S. 10, wurde der Magistrat ermächtigt, Eigentümer von Gebäuden und Grundstücken in den verbauten Ortsteilen von der Verpflichtung zur Säuberung und Bestreuung von Gehwegen bei Schneelage und zur Bestreuung bei Glatteis unter folgenden Voraussetzungen zu befreien: 1. Der Gehweg, für den die Befreiung angestrebt wird, darf nur untergeordnete Verkehrsbedeutung haben und wenig begangen sein; 2. In nächster Nähe, in der Regel auf der gegenüberliegenden Straßenseite muß ein Gehweg vorhanden sein, für den die Verpflichtung zur Säuberung und Bestreuung bei Schneelage und Glatteis nach den Bestimmungen der Straßenpolizeiordnung besteht. Nach § 3 der Kundmachung durften solche Befreiungen nur unter dem Vorbehalt des jederzeit möglichen Widerrufes erteilt werden. Diese Kundmachung war rechtliche Grundlage des Bescheides der Magistratsabteilung 46 vom 7.12.1950. Nach § 104 Abs. 2 StVO gelten Bewilligungen, die auf Grund der bis zum Inkrafttreten der Straßenverkehrsordnung geltenden straßenpolizeilichen Vorschriften rechtskräftig erteilt wurden, als auf Grund der Straßenverkehrsordnung erlassen, wenn sie diesen Vorschriften nicht widersprechen. Auch nach der derzeitigen Rechtslage kann die Behörde die nunmehr im § 93 Abs. 1 StVO normierten Anrainerpflichten zur Säuberung dem öffentlichen Verkehr dienender Gehsteige und Gehwege bei Schnee und Glatteis nach Abs. 4 der Gesetzesstelle durch Bescheid oder Verordnung einschränken. Die durch den Bescheid der beklagten Partei vom 7.12.1950 eingeräumte Ausnahmebewilligung war daher mit Inkrafttreten der Straßenverkehrsordnung nicht erloschen. Die Behörde hat dies auch nicht gemäß § 104 Abs. 2 aE StVO durch Bescheid festgestellt. Eine Einschränkung der Anrainerpflichten nach § 93 Abs. 1 StVO darf nach der geltenden Rechtslage (Abs. 4) nur nach Maßgabe des Erfordernisses des Fußgängerverkehrs sowie der Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des übrigen Verkehrs erfolgen. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung ZVR 1964/128 ausführte, dienen die Bestimmungen des § 93 StVO über die Pflichten der Anrainer vornehmlich dem Fußgängerverkehr. Wenn daher im § 93 Abs. 4 StVO von dem allgemeinen Erfordernis und von der Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs die Rede ist, dann müssen diese Begriffe vor allem im Hinblick auf die Bedürfnisse des Fußgängerverkehrs verstanden werden. Kann die Sicherheit von Fußgängern beeinträchtigt sein (so etwa wenn kein anderer Gehsteig oder Gehweg zur Verfügung steht) dürfen Ausnahmegenehmigungen nach § 93 Abs. 4 StVO nicht erteilt werden. Die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung des Ausnahmebescheides waren daher nach Genehmigung der Bauarbeiten und während der Durchführung derselben nicht mehr gegeben. Durch die von der beklagten Partei mit Bescheid vom 22.10.1984 bewilligten Arbeiten auf öffentlichen Straßen, die die stadtnäheren Gehalleen betrafen, mußte es der beklagten Partei klar sein, daß es zur Einweisung von Fußgängern auf Teile der Gehallee kommen könnte, die weder vom Streudienst der Gemeinde noch von dem ohne Ausnahmegenehmigung dazu verpflichteten Anrainer nach § 93 Abs. 1 StVO geräumt und gestreut würden. Die Pflicht zur Streuung der dritten Gehallee wurde durch den Bescheid vom 22.10.1984 nicht an den Bauführer überbunden. Der Bauführer hatte die Fußgänger dort nur in eine andere Gehallee "einzuweisen". Selbst die beklagte Partei geht, ohne daß sich dies aus dem Bescheid vom 22.10.1984 ergebe, in ihrer Revision nur davon aus, daß der Bauführer verpflichtet gewesen wäre, die mittlere Gehallee ordnungsgemäß zu räumen und zu bestreuen. Gerade diese Gehallee war nach dem vorliegenden, von der beklagten Partei in ihrer Revision ausdrücklich als richtig bezeichneten Sachverhalt aber durch die Baustelle unterbrochen. Damit war aber, nahm die beklagte Partei die Räumung und Streuung der dritten Gehallee nicht in ihren eigenen Aufgabenbereich, die Sicherheit und körperliche Integrität von dorthin der Baustelle ausweichenden, vom Bauführer eingewiesenen Fußgängern nicht mehr gewährleistet. Die Voraussetzungen für den Widerruf des Bescheides vom 7.12.1950 waren damit aber nach der durch die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes klargestellten Gesetzeslage gegeben. Die Unterlassung des Widerrufes erfolgte daher rechtswidrig. Ein haftungsbegründendes Organverhalten kann auch in einer Unterlassung liegen, wenn eine Pflicht des Organs zum Tätigwerden bestand und ein pflichtgemäßes Handeln den Schadenseintritt verhindert hätte (EvBl. 1988/140; SZ 59/68; SZ 55/161 uva; Schragel, AHG2 129 f; Apathy in Aicher, Die Haftung für staatliche Fehlleistungen im Wirtschaftsleben 213). Daß sich die Unterlassung kausal auswirkte, stellte das Erstgericht ausdrücklich fest. Es ist aber auch der erforderliche Rechtswidrigkeitszusammenhang gegeben. Der Rechtsträger haftet für jene auf Grund rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens seiner Organe verursachten Schäden, die die übertretene Verhaltensnorm nach ihrem Schutzzweck geradezu verhindern sollte (SZ 61/43; SZ 55/190; SZ 52/44 uva; zuletzt 1 Ob 24/90 und 1 Ob 17/90; Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht2 I 274; Schragel aaO 123). Zum Amtshaftungsrecht wird zwar anerkannt, daß ein subjektives Recht auf Führung der Verwaltung in gesetzmäßiger Weise nicht Voraussetzung für einen Amtshaftungsanspruch ist. Es reicht auch trotz Kausalität die rechtswidrige schuldhafte Schadensverursachung allein nicht hin, um eine Schadenersatzpflicht des Rechtsträgers auszulösen. Diese tritt aber dann ein, wenn die übertretene Vorschrift gerade auch den Zweck hat, den Geschädigten vor den eingetretenen Nachteilen zu schützen (SZ 59/68; SZ 57/149; JBl. 1984, 373 uva; Schragel aaO 124 mwN in Rz 121). Nach dem sich aus der gesetzlichen Vorschrift des § 93 Abs. 4 StVO klar ergebenden Normzweck dürfen Ausnahmegenehmigungen nur erlassen werden, wenn die Sicherheit von Fußgängern nicht gefährdet ist. Die Vorschrift hat daher also gerade den Zweck, Fußgängern vor den sich aus der Nichträumung und Nichtstreuung von Gehsteigen und Gehwegen ergebenden Nachteilen zu schützen. Daß die rechtswidrige Unterlassung nicht schuldhaft erfolgt sei, hat die dafür beweispflichtige Stadt Wien (EvBl. 1989/157; SZ 61/173; SZ 60/217 ua, zuletzt 1 Ob 24/90 und 1 Ob 17/90) nicht einmal behauptet.
Der Revision ist der Erfolg zu versagen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.
Anmerkung
E22560European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1990:0010OB00041.9.1219.000Dokumentnummer
JJT_19901219_OGH0002_0010OB00041_9000000_000