Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Robert Göstl (Arbeitgeber) und Mag. Karl Dirschmied (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Friedrich P*****, Pensionist, ***** vertreten durch Dr. Erich Holzinger, Rechtsanwalt in Liezen, wider die beklagte Partei Steiermärkische Gebietskrankenkasse, 8011 Graz, Josef-Pongratz-Platz 1, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Fahrtkostenersatz, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeit- und Sozialrechtssachen vom 11. Jänner 1990, GZ 7 Rs 115/89-15, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 28. Februar 1989, GZ 22 Cgs 384/88-7, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß
gefaßt:
Spruch
1.) Aus Anlaß der Revision werden die Urteile der Vorinstanzen und die ihnen vorangegangenen Verfahrensteile, soweit sie das Feststellungsbegehren betreffen, als nichtig aufgehoben. Die Klage auf Feststellung, daß die beklagte Partei in Zukunft schuldig sei, dem Kläger Fahrtkostenersatz zu leisten, wird zurückgewiesen.
2.) Im Übrigen wird der Revision Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen, werden aufgehoben, soweit sie das Leistungsbegehren betreffen. Die Sozialrechtssache wird insoweit an das Erstgericht zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Der am 18.7.1930 geborene Kläger wohnt in W***** (Liezen) und befindet sich seit rund 30 Jahren in Behandlung des praktischen Arztes Dr. S in Liezen. Der Kläger leidet an Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule (Morbus Scheuermann); diese Erkrankung ist dem Fachgebiet der Orthopädie zuzuordnen. Zumindest seit 1986 wird der Kläger von seinem behandelnden Arzt an den Internisten Dr. K***** in Bad Ischl zur chiropraktischen Behandlung überwiesen. Eine Überweisung an den genannten Facharzt wegen interner Leiden erfolgte nicht. Der Kläger steht bereits seit November 1985 laufend in Behandlung bei diesem Facharzt, und zwar wegen rezidivierender Nackenschmerzen mit Ausstrahlung in den linken Arm und zeitweisen Parästesien in der linken Hand. Seit 31.5.1988 bestehen auch Schmerzen im Kniegelenk. Die Therapie erfolgte durch chiropraktische Manipulationen im Bereich der blockierten Wirbelbogengelenke und Mobilisation des linken Kniegelenkes. Die Behandlungen erfolgten auf Grund der Überweisungen bzw. Wiederbestellungen am 2.2., 24.2., 14.4., 31.5. und 5.7.1988. Der Kläger konnte durch diese Behandlungen eine Besserung seines Leidens feststellen. In der Region um Liezen ist Dr. K***** der einzige Arzt, der chiropraktische Manipulationen durchführt; der nächste Chiropraktiker ordiniert in Graz.
Mit Bescheid vom 4.11.1988 lehnte die beklagte Gebietskrankenkasse den Antrag des Klägers auf Ersatz der Fahrtkosten für die Fahrten zu Dr. K*****, Facharzt für innere Medizin in Bad Ischl, ab. Gemäß § 41 Abs 2 lit a der Kassesatzung sei ein Fahrtkostenersatz nur für Fahrten vom Wohnort des Patienten bis zum nächsterreichbaren Vertragsfacharzt und zurück zu gewähren. Dr. K***** sei weder Vertragsarzt der beklagten Partei noch der vom Wohnort des Klägers nächsterreichbare Vertragsfacharzt für innere Medizin.
Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen und vor Schluß der Verhandlung um ein Feststellungsbegehren erweiterten Klagebegehren statt. Es erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger für die Fahrten vom 2.2., 24.2., 14.4., 31.5. und 5.7.1988 vom Wohnort zu Dr. K*****, Bad Ischl, den Fahrtkostenersatz "in der gesetzlichen Höhe" zu leisten und stellte spruchmäßig fest, daß die beklagte Partei auch in Zukunft schuldig sei, dem Kläger den Fahrtkostenersatz für Fahrten auf Grund von Überweisungen zu chiropraktischen Behandlungen bei dem genannten Facharzt "in der gesetzlichen Höhe" zu leisten. Es traf die eingangs wiedergegebenen Tatsachenfeststellungen und führte in rechtlicher Hinsicht aus, daß die ärztliche Hilfe auch chiropraktische Behandlungen umfasse und Dr. K***** der nächstgelegene Vertragsfacharzt sei, von dem der Kläger die erforderliche ärztliche Hilfe erhalten könne. Die Überweisung an einen nähergelegenen Internisten wäre sinnlos gewesen, weil der Kläger nicht an einer internen Krankheit, sondern an Wirbelsäulenbeschwerden leide. Der Kläger habe ein rechtliches Interesse an der Feststellung, daß die beklagte Partei auch in Hinkunft einen derartigen Fahrtkostenersatz zu leisten habe.
Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil im klagsabweisenden Sinne ab. Dem Erstgericht könne zwar beigepflichtet werden, daß die ärztliche Hilfe im Sinne des § 135 ASVG auch erforderliche chiropraktische Behandlungen umfasse. Nach § 41 Abs 2 lit a der im Verordnungsrang stehenden Satzung der beklagten Partei sei ein Ersatz von Reise(Fahrt)kosten für Fahrten zum und vom nächsterreichbaren Vertragsfacharzt bzw zu oder von einer eigenen Einrichtung oder Vertragseinrichtung der Kasse, dies jedoch nur im Falle der Zuweisung bzw Überweisung durch einen Vertragsarzt oder durch eine eigene Einrichtung (Vertragseinrichtung) der Kasse zu gewähren. Da sich der in Bad Ischl ansässige Facharzt Dr. K***** nicht im örtlichen Wirkungsbereich der beklagten Partei befinde und in keinem Vertragsverhältnis zu ihr stehe, also kein Vertragsarzt sei, stehe dem Kläger schon aus diesem Grund kein Ersatz der Fahrtkosten zu.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteiles.
Rechtliche Beurteilung
Der erkennende Senat hat aus Anlaß dieser mit Rücksicht auf den Ausspruch des Berufungsgerichtes, daß der Wert des Entscheidungsgegenstandes insgesamt 50.000 S nicht übersteigt, die Revision aber nach § 46 Abs 1 Z 1 ASGG zulässig ist, mangels einer höchstgerichtlichen Judikatur zur Frage des Fahrtkostenersatzes zulässigen Revision erwogen:
Gemäß § 135 Abs 4 ASVG ist im Falle der Notwendigkeit der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe der Ersatz der Reise(Fahrt)kosten nach Maßgabe der Bestimmungen der Satzung zu gewähren. Die tatsächliche Inanspruchnahme der Behandlungsstelle ist in jedem Fall nachzuweisen (Satz 4 leg cit). Wie der erkennende Senat bereits ausgesprochen hat (18.9.1990, 10 Ob S 264/90), handelt es sich bei dem Ersatz der Reise(Fahrt)kosten schon begrifflich um keine wiederkehrende Leistung, sondern um eine Reihe von Einzelleistungen, die zu einer Summe addiert werden können. Gemäß § 67 Abs 1 ASGG darf in einer Leistungssache nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG (andere Fälle liegen hier nicht vor) vom Versicherten eine Klage nur erhoben werden, wenn der Versicherungsträger darüber bereits mit Bescheid entschieden oder den Bescheid nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen erlassen hat. Von den hier nicht relevanten Säumnisfällen abgesehen, setzt daher jede Klage einen Bescheid des Versicherungsträgers voraus; die Entscheidung muß aber nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes "darüber", das heißt über den der betreffenden Leistungssache zugrundeliegenden Anspruch des Versicherten ergangen sein (vgl. Kuderna ASGG 368; SSV-NF 2/67). Nun hat der Kläger einen Antrag auf Ersatz von Fahrtkosten für seine Fahrten zu dem in Bad Ischl ordinierenden Facharzt gestellt; die beklagte Partei hat diesen Antrag abgewiesen, ohne daß dem Bescheid entnommen werden könnte, daß darin in feststellendem Sinn über künftige, dem Kläger möglicherweise entstehende Fahrtkosten abgesprochen wurde oder auch nur abgesprochen werden sollte. Mit dem Feststellungsbegehren ficht der Kläger nicht den erflossenen Bescheid an, sondern er begehrt etwas anderes, nämlich die Feststellung, daß ihm in Zukunft Fahrtkostenersatz zustehe. In Ansehung des Feststellungsbegehrens besteht daher Unzulässigkeit des Rechtsweges und folglich Nichtigkeit nach § 477 Abs 1 Z 6 ZPO, was gemäß § 73 ASGG zur Zurückweisung der Klage in jeder Lage des Verfahrens führen muß (ebenso SSV 24/126; vgl. Kuderna ASGG 370/394; SSV-NF 4/54). Diese Nichtigkeit war aus Anlaß der zulässigen Revision von Amts wegen wahrzunehmen.
Im übrigen ist die Revision berechtigt.
Auf die von den Vorinstanzen unterschiedlich beantwortete Frage, ob der die chiropraktische Behandlung des Klägers vornehmende Facharzt in Bad Ischl ein Vertragsarzt der beklagten Partei ist, kommt es nicht an. Auszugehen ist davon, daß dieser Facharzt der dem Wohnort des Klägers nächstgelegene Facharzt ist, der solche - nicht der internen Medizin, sondern eher der Orthopädie zuzuordnenden - Behandlungen vornimmt. Daß der Kläger vom praktischen Arzt (der unstreitig ein Vertragsarzt der beklagten Partei ist) an den "Internisten" in Bad Ischl überwiesen wurde, ist nicht entscheidend, weil diese Überweisung nicht wegen interner Leiden erfolgte, sondern weil dieser Facharzt chiropraktische Behandlungen durchführt. Es steht auch unbekämpft fest, daß der nächstgelegene Chiropraktiker - abgesehen von dem in Bad Ischl ordinierenden - in Graz ansässig ist, also in einer ganz erheblich weiteren Entfernung vom Wohnort des Klägers. Somit liegt auf der Hand, daß eine Reise von Liezen nach Graz erheblich teurer wäre als nach Bad Ischl. Gemäß § 133 Abs 2 ASVG hat der Kläger Anspruch auf eine ausreichende und zweckmäßige Krankenbehandlung; gemäß § 135 Abs 4 ASVG ist im Falle der Notwendigkeit der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe auch der Ersatz der Reise(Fahrt)kosten zu gewähren. Wenn die Satzung der beklagten Partei (entsprechend § 41 Abs 2 lit a der Mustersatzung 1982) vorsieht, daß die Kasse einen Ersatz von Reise(Fahrt)kosten für Fahrten zum und vom nächstgelegenen Vertragsfacharzt leistet, dann statuiert sie damit die Maximalleistung, schränkt aber das Recht auf freie Arztwahl nicht ein. Jede andere Auslegung würde diese Satzungsbestimmung gesetzwidrig machen, weil damit gegen § 135 Abs 1 ASVG iVm §§ 131 Abs 1 und 135 Abs 4 ASVG verstoßen würde. Auch Verordnungen müssen jedoch im Zweifel gesetzeskonform ausgelegt werden (vgl Bydlinski in Rummel, ABGB2 Rz 21 zu § 6). Es entspricht einem allgemeinen Grundsatz des sozialen Krankenversicherungsrechtes, daß dem Versicherten (Anspruchsberechtigten), der nicht die Vertragspartner oder die eigenen Einrichtungen (Vertragseinrichtungen) des Versicherungsträgers zur Erbringung der Sachleistungen der Krankenbehandlung in Anspruch nimmt, der Ersatz der Kosten einer anderweitigen Krankenbehandlung in der Höhe des Betrages gebührt, der bei Inanspruchnahme der entsprechenden Vertragspartner des Versicherungsträgers von diesem aufzuwenden gewesen wäre (§ 131 Abs 1 ASVG). Was die Fahrtkosten betrifft, so muß daher der Grundsatz gelten, wie er etwa bereits in § 41 Abs 9 der Satzung der Oö Gebietskrankenkasse festgelegt wurde: Bei Inanspruchnahme von Wahl(Fach)ärzten werden die Reise(Fahrt)kosten ersetzt, höchstens jedoch in dem Ausmaß, als Aufwendungen bis zu der dem Wohnsitz des Erkrankten nächstgelegenen Vertragsbehandlungsstelle entstanden wäre. Dies entspricht auch dem § 135 Abs 4 ASVG, wonach bei Festsetzung des Ausmaßes des Kostenersatzes (auch) auf die örtlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen ist. An der Notwendigkeit der chiropraktischen Behandlung für den Kläger besteht kein Zweifel, ergibt sich doch aus dem Akt, daß die Kosten dieser Behandlung von der beklagten Partei ersetzt wurden. Die Ablehnung des Fahrtkostenersatzes, der hinter jenem Betrag zurückbleibt, der durch das Aufsuchen des in Graz ordinierenden Chiropraktikers entstanden wäre, kann daher durch Hinweis auf die Satzung der beklagten Partei nicht gerechtfertigt sein. Den Kläger zu veranlassen, daß er die wesentlich teurere Fahrt nach Graz unternimmt, anstatt den Facharzt in Oberösterreich aufzusuchen, könnte auch mit sozialer Rechtsanwendung nicht in Einklang gebracht werden.
Dem Erstgericht ist daher beizupflichten, daß dem Kläger für die notwendigen Fahrtkosten bei tatsächlicher Inanspruchnahme der Behandlungsstelle, was in jedem Fall nachzuweisen ist, Ersatz gebührt. Die Sache ist jedoch nicht spruchreif, weil der Kläger kein hinreichend bestimmtes Begehren im Sinne des § 82 ASGG gestellt und das Erstgericht nicht mit den Parteien erörtert hat, um welche Fahrtkosten (in welcher Höhe) es sich dabei handelt. Der Zuspruch von Fahrtkosten "in gesetzlicher Höhe" scheitert schon daran, daß es über die Höhe der Fahrtkosten keine gesetzlichen Bestimmungen gibt. Der Kläger wird für jede einzelne Fahrt die Kosten der Benützung des billigsten öffentlichen Verkehrsmittels nachzuweisen haben; dies gilt auch bei Benützung eines Privatfahrzeuges (§ 135 Abs 4 Satz 2 ASVG). Dazu bedarf es aber einer Verhandlung in erster Instanz.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
Anmerkung
E25347European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1991:010OBS00409.9.0312.000Dokumentnummer
JJT_19910312_OGH0002_010OBS00409_9000000_000