Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Friedrich Stefan (Arbeitgeber) und Peter Pulkrab (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ewald S*****, ohne Beschäftigung, 1180 Wien, Probusgasse 19/7, vertreten durch Dr. Herbert Salficky, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ANGESTELLTEN, 1021 Wien, Friedrich Hillegeiststraße 1, vertreten durch Dr. Erich Proksch und Dr. Richard Proksch, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. September 1990, GZ 31 Rs 170/90-27, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 12.Juni 1990, GZ 2 Cgs 209/89-22, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie lauten:
Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß für die zeit vom 1.9.1989 bis 28.2.1990 zu zahlen.
Das Mehrbegehren auf Zahlung der Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß für die Zeit vom 1.4.1989 bis 31.8.1989 und ab 1.3.1990 wird abgewiesen.
Die beklagte Partei ist weiters schuldig, dem Kläger die mit S 4.118,40 bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz (darin enthalten S 686,40 Umsatzsteuer), die mit S 2.743,68 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin enthalten S 457,28 Umsatzsteuer) und die mit S 3.623,04 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 603,84 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 11.10.1989 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten den Antrag des Klägers vom 2.3.1989 auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension ab.
Mit der dagegen erhobenen Klage begehrt der Kläger die Gewährung der "Invaliditätspension" (gemeint offenbar: Berufsunfähigkeitspension) im gesetzlichen Ausmaß ab 1.3.1989.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Die erhobenen Leiden setzten den Kläger, der als Schadensreferent bei einem Versicherungsunternehmen berufstätig gewesen sei, nicht außerstande, seine bisherige Berufstätigkeit bzw. eine ähnliche ihm zumutbare Beschäftigung auszuüben.
Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger eine Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.4.1989 zu gewähren, ohne allerdings der beklagten Partei eine vorläufige Zahlung aufzutragen. Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:
Auf Grund verschiedener - im einzelnen
festgestellter - Beeinträchtigungen seiner Gesundheit kann der am 6.2.1939 geborene Kläger noch leichte und mittelschwere körperliche und alle geistigen Arbeiten unter ständigem durchschnittlichem Zeitdruck im Sitzen, Gehen und Stehen in der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Pausen verrichten. Arbeiten mit dem rechten Arm über dem Kopf scheiden aus. Arbeiten an gefährdenden Maschinen und an sturzgefährdeten Stellen sind auszuschließen. Arbeiten unter zeitweise erhöhtem Zeitdruck kann der Kläger, der Spiegeltrinker ist, nicht durchführen. Dazu müßte er erst bis zu seinem Spiegel hinaufgetrunken haben, was bei langsamem Trinken ca. 2 Stunden in Anspruch nehmen würde. Hat er diesen Alkoholspiegel erreicht, dann kann er auch unter erhöhtem Zeitdruck arbeiten. Es ist nicht prognostizierbar, zu welcher Stunde und für wie lange der Kläger unter erhöhtem Zeitdruck arbeiten kann. Dieser Zustand, der seit Antragstellung besteht, wäre nur durch einen Entzug mit stationärem Aufenthalt des Klägers besserbar. Dieser Aufenthalt würde einige Wochen in Anspruch nehmen. Danach würde ein postalkoholisches Psychosyndrom auftreten, welches wiederum Arbeiten unter erhöhtem Zeitdruck ausschlösse. Dieses organische Psychosyndrom dauert etwa ein Jahr und vergeht dann, wenn konsequent nichts getrunken wird. Nach Abklingen des organischen Psychosyndroms wäre eine Arbeit unter zeitweise erhöhtem Zeitdruck möglich.
Der Kläger war seit 1.8.1959 bei einem Versicherungsunternehmen beschäftigt und zuletzt als Schadensreferent tätig. Ein selbständig und verantwortlich arbeitender Schadensreferent hat unter Zuhilfenahme rechtlicher und gutachtlicher Grundlagen die Rechtmäßigkeit von finanziellen Forderungen zu beurteilen, die Abwicklung anerkannter Forderungen zu veranlassen und außergerichtliche Vergleiche abzuschließen. Diese Tätigkeitsmerkmale entsprechen jenen, die der Verwendungsgruppe 4 eines Angestelltenkollektivvertrages zugrunde liegen. Es wird so wie in anderen Büroberufen der Verwendungsgruppe 4 unter ständigem durchschnittlichem Zeitdruck gearbeitet, der allerdings zeitweise von erhöhtem Zeitdruck überdeckt wird. Auch in der Verwendungsgruppe 3 kommt es täglich ein- bis dreimal oder öfter über kürzere oder längere Zeit zu erhöhtem Zeitdruck. Nur in den Verwendungsgruppen 1 und 2 kommt es nie zu einem solchen erhöhten Zeitdruck. Auf Grund seines festgestellten medizinischen Leistungskalküls ist der Kläger nicht mehr in der Lage, als Schadensreferent eines Versicherungsunternehmens zu arbeiten, weil durch den in dieser Position auftretenden zeitweise erhöhten Zeitdruck das Leistungskalkül überschritten würde. Ein Angestellter mit der Berufslaufbahn des Klägers wäre auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf Büroberufe der Verwendungsgruppen 3 oder 4 verweisbar, aber auch in diesen Berufen kommt es zu zeitweise erhöhtem Zeitdruck.
In rechtlicher Hinsicht hielt das Erstgericht den Kläger für nicht mehr verweisbar und daher für berufsunfähig gemäß § 273 Abs.1 ASVG. Eine Änderung des Kalküls nach erfolgreich abgeschlossener Entziehungskur und Rehabilitationszeit habe hier außer Betracht bleiben müssen.
Das Berufungsgericht änderte in Stattgebung der von der beklagten Partei erhobenen Berufung das Urteil im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens ab. Von jedem Versicherten sei im Interesse der Versicherungsgemeinschaft zu fordern, eine notwendige Krankenbehandlung, die zu einer Heilung und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit führen würde, durchzuführen, soferne dies nicht mit unzumutbaren Gefahren für den Patienten verbunden sei, also auch sich unter ärztlicher Leitung einer Alkoholentziehungskur zu unterziehen. Eine kalkülsändernde Besserung würde beim Kläger nur eintreten, wenn er sich einer Alkoholentziehungskur, die einige Wochen dauere, unterziehen würde und wenn das danach auftretende Psychosyndrom, welches ebenfalls noch Arbeiten unter erhöhtem Zeitdruck ausschließe, vergangen sei; dieses organische Psychosyndrom dauere etwa ein Jahr. Somit trete die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit nicht innerhalb eines halben Jahres, sondern erst nach einem weit darüber liegenden Zeitraum ein. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes wären in einem solchen Fall die Voraussetzungen für die Gewährung einer "vorübergehenden Invaliditätspension" (gemeint zeitlich begrenzten Berufsunfähigkeitspension) grundsätzlich gegeben. Bei zumutbarer Alkoholentziehungskur und einem voraussehbaren Heilungserfolg sei von dem nach erfolgter Heilung zu erwartenden Leistungskalkül auszugehen. Die 27 Wochen des § 271 Abs.1 Z 2 ASVG würden mit dem Eintritt des die vorübergehende Berufsunfähigkeit begründenden Sachverhaltes beginnen. Im gegenständlichen Fall wäre der die vorübergehende Berufsunfähigkeit begründende Zeitpunkt und der Beginn der 27 Wochen mit dem Antritt der Entziehungskur anzusetzen. Nach dem Akteninhalt sei diese vor Schluß der Verhandlung erster Instanz nicht angetreten worden. Daher seien die auf den Alkoholmißbrauch zurückzuführenden Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit des Klägers bis zum Antritt einer Entziehungskur nicht beachtlich. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension lägen daher nicht vor.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen vom Kläger erhobene Revision ist teilweise berechtigt.
Der Kläger vertritt den Standpunkt, ihm sei eine (verschuldete) Unterlassung einer Alkoholentziehungskur nicht vorzuwerfen. Mit diesen Ausführungen geht der Revisionswerber nicht vom festgestellten Sachverhalt aus. Der chronische Alkoholmißbrauch könnte nur berücksichtigt werden, wenn er nicht mehr beherrschbar wäre (SSV-NF 2/33 = JBl.1988, 601 = SZ 61/84). Dies ist nach den Feststellungen der Tatsacheninstanzen nicht der Fall. Wie der Oberste Gerichtshof bereits in der zitierten Entscheidung, aber auch an anderer Stelle (10 Ob S 319/89, 10 Ob S 404/89; vgl. auch SSV-NF 4/23 = JBl.1990, 734) ausgesprochen hat, ist von jedem Versicherten im Interesse der Gemeinschaft zu fordern, im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht eine notwendige Krankenbehandlung, die zu einer Heilung und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit führen würde, auch durchzuführen, sofern dies nicht mit unzumutbaren Gefahren verbunden ist, sich also unter ärztlicher Leitung beispielsweise einer Alkoholentziehungskur zu unterziehen. Bei einer solchen Vorgangsweise ist auch ein lückenloser Versicherungsschutz gewährleistet, weil zumindest bis zur Dauer von 26 Wochen ein Anspruch auf Krankengeld besteht. Daß aber die Dauer einer solchen Kur einen Zeitraum von sechs Monaten nicht überschreitet, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Selbst wenn also zur Alkoholentwöhnung eine stationäre Behandlung notwendig wäre, hätte dies auf die Frage der Berufsunfähigkeit keinen Einfluß. Wie festgestellt wurde, dauert ein solcher stationärer Aufenthalt nur einige Wochen; nach der Aussage eines vom Erstgericht vernommenen ärztlichen Sachverständigen in Kalksburg etwa sechs Wochen. Danach tritt allerdings ein postalkoholisches organisches Psychosyndrom auf, welches etwa ein dreiviertel Jahr dauert und dann vergeht, wenn konsequent nichts getrunken wird. Nach der weiteren Aussage dieses Sachverständigen kann man unter Einschluß der Wartezeit, die regelmäßig vergeht, bis ein Patient in Kalksburg aufgenommen wird, frühestens in einem Jahr damit rechnen, daß der Kläger wieder auch unter erhöhtem Zeitdruck arbeiten könnte (ON 21 S 2). Nach den so zu verstehenden erstgerichtlichen Feststellungen wäre daher die Arbeitsfähigkeit des Klägers innerhalb eines Jahres ab dem Zeitpunkt wiederhergestellt, ab dem er sich zum Antritt einer Alkoholentziehungskur entschlossen hätte.
Der Oberste Gerichtshof hat erst kürzlich ausgesprochen, daß dann, wenn die Arbeitsfähigkeit durch zumutbare Behandlungen innerhalb von sechs Monaten wiederhergestellt ist, das Begehren auf Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension abzuweisen ist, während bei einer erst nach längerer Zeit wieder bestehenden Arbeitsfähigkeit die Gewährung einer befristeten Berufsunfähigkeitspension in Betracht kommt (26.2.1991, 10 Ob S 413/90). Anspruch auf Berufungsunfähigkeitspension besteht nach § 271 Abs.1 Z 2 ASVG bei vorübergehender Berufsunfähigkeit ab der 27.Woche ihres Bestandes. Nach dem hier entsprechend anzuwendenden § 256 ASVG kann bei vorübergehender Berufsunfähigkeit die Pension für eine bestimmte Frist zuerkannt werden. Der Auffassung des Berufungsgerichtes, der Beginn der 27 Wochen iS des § 271 Abs.1 Z 2 ASVG sei mit dem tatsächlichen Antritt einer Entziehungskur anzusetzen, kann allerdings nicht beigepflichtet werden. Nach dem klaren Wortlaut dieser Gesetzesstelle gebührt die Pension ab der 27.Woche des Bestandes der vorübergehenden Berufsunfähigkeit. Ein Versicherter, der seine Mitwirkungspflicht verletzt, kann rechtlich nicht anders beurteilt werden, als wenn er dieser Verpflichtung nachgekommen wäre. Wäre der Kläger der Mitwirkungspflicht nachgekommen, so hätte er sich ab dem Zeitpunkt des Bestandes seiner Berufsunfähigkeit der Alkoholentziehungskur unterzogen. Auf Grund der erstgerichtlichen Feststellungen, an die der Oberste Gerichtshof gebunden ist, besteht der körperliche und geistige Zustand des Klägers seit Antragstellung. Daher ist davon auszugehen, daß die vorübergehende Berufsunfähigkeit seit dem Tag der Antragstellung, also dem 2.3.1989 besteht. Der Beginn des Anspruches auf Berufsunfähigkeitspension wegen vorübergehender Berufsunfähigkeit ist daher mit 1.9.1989 festzusetzen (§ 902 Abs.2 ABGB). Berücksichtigt man weiters, daß die Arbeitsfähigkeit des Klägers nach einem Jahr wieder hergestellt gewesen wäre, so ergibt sich ein zeitlich befristeter Pensionsanspruch des Klägers während sechs Monaten, also bis zum 28.2.1990. In teilweiser Stattgebung der Revision war daher die Berufsunfähigkeitspension für die genannte - vor Schluß der mündlichen Verhandlung erster Instanz endende - Frist zuzuerkennen und das Mehrbegehren abzuweisen. Eine vorläufige Zahlung (§ 89 Abs 2 ASGG) war mangels jeder Grundlage für deren Festsetzung nicht aufzutragen (vgl. SSV-NF 2/141).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs.1 Z 2 lit.a iVm Abs.2 ASGG.
Anmerkung
E25827European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1991:010OBS00383.9.0326.000Dokumentnummer
JJT_19910326_OGH0002_010OBS00383_9000000_000