Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Prof. Dr.Friedl als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof. Dr.Gamerith, Dr.Kodek, Dr.Niederreiter und Dr.Redl als weitere Richter in der Pflegschaftssache des am 25.Juli 1973 geborenen Alfred B*****, Kochlehrling, ***** vertreten durch die eheliche Mutter Christa B*****, diese vertreten durch Dr.Eduard Pranz und andere Rechtsanwälte in St.Pölten, infolge Revisionsrekurses des Minderjährigen gegen den Beschluß des Landesgerichtes St.Pölten als Rekursgericht vom 23.Jänner 1991, GZ R 729/90-70, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes St.Pölten vom 16.November 1990, GZ 1 P 233/87-65, abgeändert wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben; der angefochtene Beschluß wird dahin abgeändert, daß der Beschluß des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.
Text
Begründung:
Mit Vergleich vom 3.5.1988 verpflichtete sich der Vater zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbetrages von S 2.800 ab 1.5.1988 für den Minderjährigen.
Mit Beschluß vom 31.10.1988 (ON 19) setzte das Erstgericht diesen Unterhaltsbetrag ab 6.9.1988 auf monatlich S 700 herab; es ging dabei von einer monatlichen Lehrlingsentschädigung des Minderjährigen von S 3.000 (einschließlich anteiliger Sonderzahlungen), der Bewertung der am Arbeitsplatz gewährten freien Kost mit S 500 sowie Berufsausbildungskosten von jährlich S 5.000 aus.
Am 8.10.1990 beantragte der Vater auszusprechen, daß seine Unterhaltspflicht ab 1.1.1990 wegen Selbsterhaltungsfähigkeit des Minderjährigen nicht mehr bestehe. Der Minderjährige verdiene nunmehr im dritten Lehrjahr monatlich S 4.000 bis S 5.000; damit seien sämtliche Bedürfnisse gedeckt.
Die Mutter sprach sich gegen diesen Antrag aus. Die Lehrlingsentschädigung betrage zwar monatlich S 4.060, doch müsse der durch außergewöhnliche Fahrtkosten begründete Sonderbedarf berücksichtigt werden.
Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters ab. Es stellte fest, daß die Lehrlingsentschädigung (einschließlich anteiliger Sonderzahlungen und der Sachbezüge, jedoch ohne freie Kost) monatlich S 4.799 beträgt. Die Selbsterhaltungsfähigkeit eines Minderjährigen werde erst dann angenommen, wenn er in der Lage ist, sämtliche Bedürfnisse auch außerhalb des Elternhauses zu befriedigen; hiefür bilde die Mindestpensionshöhe nach dem ASVG eine Orientierungshilfe. Dem Minderjährigen stehe auch bei Hinzurechnung des festgesetzten Unterhaltsbetrages kein Einkommen in dieser Höhe zur Verfügung.
Das Rekursgericht enthob den Vater ab 1.1.1990 von seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Minderjährigen und sprach aus, daß der Revisionsrekurs zulässig sei. Es traf noch folgende weitere Feststellungen:
Der Minderjährige wohnt im gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter in Pottenbrunn. Er arbeitet mit Ausnahme der Sonntage und Montage täglich von 8.00 Uhr bis 14.30 Uhr und ab 18.00 Uhr oder 19.00 Uhr bis 22.00 Uhr oder 22.30 Uhr. Am Morgen bringt ihn seine Mutter regelmäßig zur Arbeitsstätte in St.Pölten; nach Arbeitsschluß in der Nacht holt sie ihn wieder ab. Während der freien Nachmittage hält sich der Minderjährige in St.Pölten, teilweise auch bei seinem Vater, auf. Der Minderjährige wird auf seinem Arbeitsplatz überwiegend verköstigt. Er hat noch einmal die Berufsschule in Waldegg zu besuchen.
Rechtlich vertrat das Rekursgericht die Auffassung, daß - bei durchschnittlichen Lebensverhältnissen - die Selbsterhaltungsfähigkeit des Unterhaltsberechtigten im allgemeinen dann anzunehmen sei, wenn er ein eigenes Einkommen in der Höhe des statistisch errechneten Durchschnittsbedarfes seiner Altersgruppe hat; diese Durchschnittsbedarfssätze enthielten alle üblicherweise erforderlichen Auslagen für den Lebensunterhalt. Ab 1.1.1990 werde der Durchschnittsbedarf von Jugendlichen zwischen 15 bis 19 Jahren mit rund S 3.470, ab 1.7.1990 mit rund S 3.570 angenommen. Der Minderjährige verfüge einschließlich der Lehrlingsentschädigung von S 4.799 und der freien Kost über ein Einkommen von rund S 5.300, somit über einen Betrag, der um S 1.700 über dem Durchschnittsbedarf liegt. Richtsätze des ASVG für alleinstehende Pensionisten dürften bei der Beurteilung der Selbsterhaltungsfähigkeit von Minderjährigen, die noch mit den Eltern oder einem Elternteil zusammenleben, nicht als Orientierungshilfe herangezogen werden, weil diese Minderjährigen sonst gegenüber allein lebenden Minderjährigen bevorzugt würden.
Der Revisionsrekurs des Minderjährigen ist berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Gemäß § 140 Abs 3 ABGB mindert sich der Unterhaltsanspruch eines Minderjährigen insoweit, als er eigene Einkünfte hat oder unter Berücksichtigung seiner Lebensverhältnisse selbsterhaltungsfähig ist. Die Lehrlingsentschädigung ist - sofern sie nicht als Ausgleich für berufsbedingten Mehraufwand außer Betracht bleibt - ein nach § 140 Abs 3 ABGB anrechenbares eigenes Einkommen des Kindes (JBl 1991, 41).
Wie der Oberste Gerichtshof schon in den Entscheidungen 3 Ob 547/90 (= Jus extra 1990, 505) und 8 Ob 504/91 ausgesprochen hat, kommt eine gänzliche Befreiung von der Unterhaltsverpflichtung im Sinne des § 140 Abs 3, zweiter Halbsatz, ABGB erst in Betracht, wenn das Kind unter Berücksichtigung seiner Lebensverhältnisse selbsterhaltungsfähig ist. Selbsterhaltungsfähigkeit bedeutet die Fähigkeit zur eigenen angemessenen Bedarfsdeckung auch außerhalb des elterlichen Haushaltes. Solange das Kind noch die Gewährung der Wohnung oder die Betreuung durch die Eltern benötigt, ist es noch nicht selbsterhaltungsfähig (Pichler in Rummel, ABGB2, Rz 12 zu § 140). Reichen die eigenen Einkünfte des Kindes zur vollen Deckung seiner Bedürfnisse in diesem Sinn, also auch unter Berücksichtigung des Bedürfnisses nach Betreuung, nicht aus, dann kommt gemäß § 140 Abs 3, erster Halbsatz, ABGB nur eine Minderung der Unterhaltsverpflichtung in Betracht. Diese Minderung kann allerdings nicht einseitig nur demjenigen Elternteil zugute kommen, der das Kind nicht betreut. Wenn also ein Kind nur so viel selbst verdient, daß es neben der Betreuung durch einen Elternteil nichts mehr benötigt, dann kommt es nicht zur vollen Befreiung des anderen Elternteils, muß doch hier ein Teil des Eigenverdienstes auch dem betreuenden Elternteil zugute kommen. Ob dieser Elternteil von seinem Kind tatsächlich einen finanziellen Beitrag für die Betreuung fordert, ist nicht entscheidend. In den angeführten Entscheidungen hat der Oberste Gerichtshof aber auch schon ausgesprochen, daß dort, wo der zu leistende Unterhaltsbetrag wegen des Einkommens des Unterhaltspflichtigen oder der ihn treffenden Sorgepflichten verhältnismäßig gering ist, nicht der sogenannte Regelbedarf, sondern die Mindestpensionshöhe nach § 293 Abs 1 lit a/bb und lit b ASVG (derzeit 14 x jährlich S 5.574, somit monatlich durchschnittlich S 6.503) eine Orientierungshilfe für die Annahme der Selbsterhaltungsfähigkeit bildet (so auch 1 Ob 594/90 = NRsp 1990/219; 10 Ob S 19/90). Liegt hingegen der vom Unterhaltspflichtigen wegen dessen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu erbringende Unterhaltsbetrag über diesem Richtsatz, dann soll das Kind auch während seiner beruflichen Ausbildungszeit an dem höheren Lebensstandard seiner Eltern angemessen teilnehmen (1 Ob 594/90).
Im vorliegenden Fall verdient der Minderjährige einschließlich des für die freie Kost anzurechnenden Betrages von S 500 im Monatsdurchschnitt rund S 5.300; davon sind die festgestellten Ausbildungskosten von rund S 880 abzuziehen. Die Differenz zum Richtsatz nach dem ASVG ist dann nahezu doppelt so hoch wie der vom Vater zuletzt zu leistende Unterhaltsbetrag. Unter diesen Umständen kommt weder eine gänzliche Befreiung noch eine weitere Minderung der Unterhaltspflicht des Vaters in Frage.
Anmerkung
E25956European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1991:0040OB00511.91.0409.000Dokumentnummer
JJT_19910409_OGH0002_0040OB00511_9100000_000