TE OGH 1991/5/28 2Ob21/91

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.05.1991
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch, Dr. Zehetner, Dr. Graf und Dr. Schinko als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. Reinhard P*****, vertreten durch Dr. Gerhard Depin, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagten Parteien

1.) Josef M*****, und 2.) W***** Versicherungs-AG, ***** beide vertreten durch Dr. Kurt Hanusch und Dr. Haimo Jilek, Rechtsanwälte in Leoben, wegen S 290.599,-- sA und Feststellung infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 6. Februar 1991, GZ 2 R 270/90-56, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Leoben vom 19. September 1990, GZ 6 Cg 397/88-47, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

1.) Die Revision wird, insoweit sie sich gegen die Abweisung des Klagebegehrens im Betrag von S 20.000,-- sA richtet, zurückgewiesen.

2.) Im Übrigen wird der Revision nicht Folge gegeben. Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit

S 12.721,50 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 2.120,25 an Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 11. März 1988 gegen 13,10 Uhr ereignete sich in St. Michael, Bezirk Leoben, auf der Bundesstraße 336 beim Straßenkilometer 0,2 im Bereich der Einmündung des Zubringers zur Autobahn A 9 ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger mit seinem PKW Mercedes, der Erstbeklagte mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten LKW-Zug Volvo und Gerhard Schmutz als Lenker eines Sattelschleppzuges Scania beteiligt waren. Der Kläger befand sich auf der Fahrt von Graz in Richtung Salzburg und verließ die Phyrnautobahn in St. Michael, in der Absicht, in die Bundesstraße 336 nach links einzubiegen und in Richtung Westen (Knittelfeld) weiterzufahren. In Beachtung des vor dem südlichen Fahrbahnrand der Bundesstraße 336 aufgestellten Vorschriftszeichens nach § 52 lit. c Z 24 StVO (Stoptafel) und des auf der Bundesstraße fließenden Querverkehrs mußte er seinen PKW vor (südlich) der Verschneidungslinie des Einmündungstrichters des Autobahnzubringers zur Bundesstraße 336 anhalten. Während er dort mit einer geringfügigen Schrägstellung nach links minutenlang stand und den Verkehr auf der Bundesstraße beobachtete, näherte sich von Norden auf der genau gegenüber der Einmündung des Autobahnzubringers in die Bundesstraße gelegenen Zufahrtsstraße zu dem nördlich der Bundesstraße befindlichen Betriebsgelände der "Panalpina" der Erstbeklagte mit seinem LKW-Zug mit einer Geschwindigkeit von maximal 18 km/h in der Absicht, in die Bundesstraße nach rechts (Westen) einzubiegen, welche Absicht er durch Blinken anzeigte. Dabei beobachtete er sowohl den Verkehr auf der Bundesstraße als auch das mit eingeschaltetem linken Blinker im Stillstand befindliche Fahrzeug des Klägers. Nachdem die etwa 150 m östlich des Autobahnzubringers befindliche Verkehrssignalanlage den Verkehr auf der Bundesstraße in Richtung Westen gesperrt und der Kläger nur noch den von Westen kommenden Sattelschlepper (Scania) "etwa 154 m" westlich der Bezugslinie (etwa Mitte des Autobahnzubringers) gesehen hatte - letzterer näherte sich mit einer Geschwindigkeit zwischen 65 und 70 km/h -, setzte der Kläger, ohne den LKW-Zug des Zweitbeklagten zuvor wahrgenommen zu haben, seinen mit einem Automatikgetriebe ausgestatteten PKW stark beschleunigend und nach links lenkend in Bewegung. Dieses Anfahren wurde 0,7 Sekunden später für den Erstbeklagten erkennbar, und zwar zu einem Zeitpunkt, als dieser mit der Front des LKW-Zuges gerade die Verschneidungslinie des Zufahrtsstraßen-Einmündungstrichters mit der Bundesstraße mit einer Geschwindigkeit zwischen 14,8 und 15,9 km/h (rechtslenkend) überfuhr; er setzte sein Einbiegemanöver in die Bundesstraße bis auf 15,6 km/h beschleunigend fort. (Bei sofortiger Reaktion hätte er aus einer Geschwindigkeit von durchschnittlich 15 km/h einen Anhalteweg von mindestens 6 m benötigt.) Rechnerisch 0,34 Sekunden später bzw 1,04 Sekunden nach dem Anfahren des Fahrzeuges des Klägers entschloß sich der Kläger, dem der LKW-Zug erst jetzt aufgefallen war, prompt zu einer Vollbremsung. Annähernd 1,5 Sekunden später, nach Zurücklegen einer bogenförmigen Fahrstrecke von 5,5 m, kam der Mercedes, die südliche Fahrbahnhälfte der Bundesstraße blockierend, ca. 1 m westlich der Bezugslinie zum Stillstand. In dieser Position wurde der Mercedes an der linken vorderen Flanke von der rechten vorderen Ecke des (aus westlicher Richtung kommenden) Sattelschleppzuges, der noch eine Restgeschwindigkeit von rund 62 km/h hatte, erfaßt. Zwischen dem Stillsetzen des Fahrzeuges des Klägers und der folgenden Kollision mit dem Sattelkraftfahrzeug verstrich eine Zeitspanne von 2,68 Sekunden, innerhalb welcher es dem Kläger möglich gewesen wäre, den südlichen Fahrstreifen der Bundesstraße durch Überqueren derselben in Richtung zur Einfahrt des Betriebsgeländes der Firma Panalpina oder dadurch zu räumen, daß er in Richtung Westen auf den dort befindlichen Abbiegestreifen - bestimmt für die aus Richtung Westen heranfahrenden und linksabbiegenden Verkehrsteilnehmer - gefahren wäre. Bei diesem Unfall wurde der Kläger und seine im PKW mitfahrende Ehefrau verletzt und der PKW des Klägers sowie das Sattelzugfahrzeug beschädigt.

Der Kläger begehrte mit der vorliegenden Klage - letztlich vom Alleinverschulden des Erstbeklagten am Zustandekommen des Unfalls ausgehend - von den Beklagten zur ungeteilten Hand den Ersatz des ihm und seiner Frau bei diesem Unfall entstandenen Schadens in der Höhe von insgesamt S 290.599,-- sA (darin an Schmerzengeld für seine Frau S 20.000,--) und stellte auch ein entsprechendes Feststellungsbegehren. Der Erstbeklagte sei in die Bundesstraße Richtung Knittelfeld eingefahren, obwohl er sich ihm gegenüber im Nachrang befunden habe. Dadurch habe er ihm die weitere Einfahrmöglichkeit in die Bundesstraße versperrt und damit die primäre Unfallsursache gesetzt.

Die Beklagten beantragten die Abweisung sowohl des Leistungs- als auch des Feststellungsbegehrens, weil den Kläger, der sich ausschließlich um den Querverkehr gekümmert und die gegenüberliegende Zufahrt und damit den LKW-Zug des Erstbeklagten überhaupt nicht beachtet habe, das alleinige Verschulden an dem Unfall treffe.

Das Erstgericht sprach dem Kläger - von einer Verschuldensteilung im Verhältnis 3 : 1 zu seinen Gunsten ausgehend - einen Betrag von S 219.199,25 sA zu und stellte die solidarische Ersatzpflicht der Beklagten für alle künftigen Schäden des Klägers aus diesem Unfall im Umfang von 75 % - die Haftung der Zweitbeklagten allerdings nur aufgrund und im Rahmen des mit dem Erstbeklagten abgeschlossenen Haftpflichtversicherungsvertrages - fest; das Zahlungs- und Feststellungsmehrbegehren wies es ab. Rechtlich beurteilte das Erstgericht den vorliegenden Sachverhalt dahin, daß dem Erstbeklagten eine unfallskausale Vorrangverletzung gemäß § 19 Abs 6 und 7 StVO als überwiegendes Verschulden zur Last liege, weil der angehaltene PKW des Klägers sich weiterhin im fließenden Verkehr befunden habe. Dem Kläger lastete es als Mitverschulden den Umstand an, daß er in der ihm verbliebenen Zeit vom Stillstand seines Fahrzeuges nach der Notbremsung bis zum Eintreffen des Sattelschleppzuges - also durch

2,68 Sekunden - den blockierten Fahrstreifen nicht geräumt habe.

Das Gericht zweiter Instanz gab der vom Kläger gegen das erstinstanzliche Urteil erhobenen Berufung nicht Folge, änderte dieses jedoch infolge Berufung der Beklagten dahin ab, daß es unter Einbeziehung der unbekämpft gebliebenen Teilabweisung im Umfang von S 5.000,-- sA sowohl das Leistungs- als auch das Feststellungsbegehren zur Gänze abwies, wobei es die Revision gemäß § 502 Abs 1 ZPO zuließ. Das Berufungsgericht übernahm im Rahmen der Beurteilung der im Berufungsverfahren allein strittig gebliebenen Verschuldensfrage die Feststellungen des Erstgerichtes über den Unfallshergang und nahm davon ausgehend zu den Rechtsrügen beider Teile im wesentlichen wie folgt Stellung:

Zuzustimmen sei der Auffassung des Erstgerichtes, daß auch Verkehrsteilnehmer, die ihre Fahrzeuge verkehrsbedingt angehalten haben (hier der Kläger), im Fließverkehr blieben

(vgl ZVR 1973/147) und daß Fahrzeuge im fließenden Verkehr gemäß § 19 Abs 6 StVO gegenüber solchen, die von Haus- oder Grundstücksausfahrten und dergleichen kommen, den Vorrang haben. Richtig sei auch, daß das Einordnen in den fließenden Verkehr, insbesondere - was hier auf Seite des Erstbeklagten der Fall gewesen sei - von einem Privatweg (einer Zufahrtsstraße) in eine stark frequentierte Bundesstraße, mit besonderer Vorsicht und Aufmerksamkeit zu geschehen habe (ZVR 1977/96). Der Kläger habe aber, entgegen seiner Auffassung, gegenüber dem an sich benachrangten Erstbeklagten, der sich (vom Kläger allerdings mangels entsprechender Aufmerksamkeit nicht beobachtet) mit mäßiger Geschwindigkeit der Bundesstraße genähert habe, um ohne vorheriges Anhalten, in diese einzubiegen, im konkreten Fall keinen Vorrang gehabt. Dem Erstbeklagten sei vielmehr die den Vorrangverzicht regelnde Bestimmung des § 19 Abs 8 StVO (idFd 6. Straßenverkehrsordnungsnovelle 1976) zugute gekommen. Zur Auslegung dieser Bestimmung würden in ständiger Rechtsprechung folgende Grundsätze vertreten: Es sei unwesentlich, aus welchem Grunde ein Vorrangberechtigter an einer Kreuzung anhielte, insbesondere ob er in Erfüllung seiner eigenen (wirklichen oder vermeintlichen: ZVR 1980/134) Wartepflicht oder freiwillig sein Fahrzeug zum Stillstand bringe. Man könne von demjenigen Lenker, zu dessen Gunsten der Vorrang des Anhaltenden erloschen sein sollte, nicht eine Prüfung der Ursachen verlangen, warum der ursprünglich Vorrangberechtigte sein Fahrzeug zum Stillstand gebracht habe, vielmehr habe das Zum-Stillstand-Bringen eines Fahrzeuges, aus welchem Grunde immer, als Verzicht auf den Vorrang zu gelten. Wer zweifelsfrei das Anhalten erkennen könne, dürfe annehmen, daß der andere sich entsprechend seinem Vorrangverzicht verhalten werde (ZVR 1977/254). Ein Vorrangverzicht durch Zum-Stillstand-Bringen eines Fahrzeuges setze nicht voraus, daß der Vorrangberechtigte denjenigen, zu dessen Gunsten er auf den Vorrang verzichtet habe, auch wahrgenommen habe (ZVR 1977/33). Mit dem Zum-Stillstand-Bringen des Fahrzeuges werde immer der Verzicht auf den Vorrang ausgedrückt. Wer sein Fahrzeug vor einer Kreuzung zum Stillstand bringe, müsse sein weiteres Verhalten darauf einstellen, daß andere Verkehrsteilnehmer dies als Vorrangverzicht auffassen (ZVR 1980/257). Er dürfe daher seine Fahrt erst fortsetzen, wenn er sich Gewißheit verschafft habe, daß er kein anderes Fahrzeug in seiner Bewegung behindere (ZVR 1981/276; ZVR 1984/339). Ab dem Zeitpunkt des wahrnehmbaren Stillstandes sei die weitere Verhaltensweise der Beteiligten nach § 19 Abs 8 StVO zu beurteilen (ZVR 1980/134). Für ein Mitverschulden des durch den Vorrangverzicht des anderen nun selbst Bevorrangten sei der Auffälligkeitswert des Anfahrens jenes Fahrzeuges, dessen Lenker vorher durch Anhalten auf seinen Vorrang verzichtet habe, maßgebend (ZVR 1984/137; ZVR 1984/339). Kein Vorrangverzicht des Anhaltenden sei nur dann anzunehmen, wenn der nachrangige Fahrer das vorrangige Fahrzeug erst habe wahrnehmen können, als es sich nach einem Anhalten schon wieder in Bewegung befunden habe (ZVR 1981/276). Wende man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, dann könne dem Erstbeklagten kein Mitverschulden am Zustandekommen dieses Unfalles angelastet werden. Er habe beim Einfahren in die Bundesstraße zwar den Vorrang anderer Verkehrsteilnehmer, aber kein bestimmtes Verkehrszeichen zu beachten gehabt, und habe darauf vertrauen dürfen, daß der Kläger, der auch ihm gegenüber erkennbar auf den Vorrang verzichtet hätte, sein Einbiegemanöver abwarten werde. Ein unbedingtes Gebot zum Anhalten, wie etwa beim Verkehrszeichen "Halt!", sei für Verkehrsteilnehmer, die sich auf einer benachrangten Verkehrsfläche im Sinn des § 19 Abs 6 StVO einer Kreuzung nähern, nach Auffassung des Berufungssenates dem Gesetz nicht zu entnehmen. Der Kläger habe den Unfall selbst verschuldet. Es bestehe nach den besonderen Umständen des Falles auch sonst keine Veranlassung, die Beklagten zum Schadensausgleich im Sinn des § 11 Abs 1 EKHG heranzuziehen. Dies führe in Stattgebung der Berufung der Beklagten zur Abänderung des Urteils des Erstgerichtes im Sinne der gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens.

Den Ausspruch über die Zulässigkeit der Revision begründete das Berufungsgericht damit, daß der Oberste Gerichtshof - soweit überblickbar - zur Frage einer Anhalteverpflichtung des Benützers benachrangter Verkehrsflächen im Sinne des § 19 Abs 6 StVO noch nicht ausdrücklich Stellung genommen habe und die Klärung dieser Rechtsfrage für die Rechtssicherheit geboten erscheine.

Gegen diese Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die auf den Anfechtungsgrund des § 503 Z 4 ZPO gestützte Revision des Klägers mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinne der Stattgebung des auf Zahlung von S 285.599,-- sA gerichteten Leistungsbegehrens und Feststellung der Haftung für alle zukünftigen Schäden aus dem gegenständlichen Verkehrsunfall gerichteten Feststellungsbegehrens abzuändern.

Die Beklagten beantragten in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Insoweit sich die Revision gegen die Abweisung des dem Kläger von seiner Ehefrau abgetretenen Anspruches auf Zahlung eines Schmerzengeldes von S 20.000,-- richtet, ist die Revision unzulässig, weil eine Zusammenrechnung des Schmerzengeldanspruches der Ehefrau des Klägers mit dessen eigenen Ansprüchen nicht stattzufinden (2 Ob 197/83, 2 Ob 162/89 ua) hat und der dieses Schmerzengeld betreffende Entscheidungsgegenstand S 50.000,-- nicht übersteigt (§ 502 Abs 2 ZPO). Im übrigen ist die Revision zulässig, weil der Oberste Gerichtshof zu der vom Berufungsgericht aufgeworfenen Frage konkret noch nicht Stellung genommen hat und der Klärung dieser Frage doch Bedeutung über den Einzelfall hinaus zukommt; die Revision ist aber nicht berechtigt.

In seiner Revision wendet sich der Kläger gegen die Ansicht des Berufungsgerichtes, er habe durch sein Anhalten vor der Einfahrt in die Bundesstraße auf seinen Vorrang gegenüber dem Erstbeklagten verzichtet. Es sei nämlich "undenkbar und mit den Grundsätzen der Sicherheit, Flüssigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs unvereinbar", einen eine öffentliche Verkehrsfläche befahrenden Verkehrsteilnehmer zu verpflichten, jenen Verkehrsteilnehmern, die sich noch nicht auf öffentlichen Verkehrsflächen befänden, also am öffentlichen Verkehr noch gar nicht teilnehmen, sondern zB "Privatgrundstücke befahren" den Vorrang einzuräumen. Der Kläger habe daher keine Vorrangverletzung begangen, eine solche sei vielmehr dem Erstbeklagten anzulasten. Unter diesen Umständen könne auch der ihm von den Vorinstanzen vorgeworfene, in der mangelnden bewußten Registrierung des sich auf dem Privatgrundstück der Bundesstraße nähernden Fahrzeuges des Erstbeklagten erblickte "Beobachtungsfehler" nicht als Fehlverhalten gewertet werden. Dem kann nicht gefolgt werden.

Das Berufungsgericht ist zutreffend von der Bestimmung des § 19 Abs 6 StVO ausgegangen, nach der Fahrzeuge im fließenden Verkehr - wozu nach der Rechtsprechung auch Fahrzeuge gehören, die verkehrsbedingt angehalten haben - den Vorrang gegenüber Fahrzeugen haben, die ua von Haus- oder Grundstücksausfahrten und ähnlichen Verkehrsflächen kommen. Die Qualifizierung der vom Erstbeklagten benützten Zufahrtsstraße als Verkehrsfläche im Sinne des § 19 Abs 6 StVO ist im Verfahren niemals strittig gewesen. Die Ausführungen in der Revision, mit welchen der Kläger darzulegen versucht, daß der Erstbeklagte vor seinem Einfahren in die Bundesstraße keine Straße mit öffentlichem Verkehr benützt habe, gehen rechtlich ins Leere, weil es sich auch bei den im Gesetz ausdrücklich genannten Haus- oder Grundstückseinfahrten (-ausfahrten) um (erkennbar) nicht dem allgemeinen öffentlichen Verkehr gewidmete Flächen handelt, die von einer öffentlichen Straße zu einem einzelnen Grundstück oder zu einem begrenzten Grundstückskomplex führen und es unerheblich ist, ob die Ausfahrt (Einfahrt) äußerlich einer Straße gleicht (vgl. Dittrich, Stolzlechner, StVO 1960 Anm. 62 zu § 19 StVO); es bedurfte daher keiner besonderen Begründung, daß der Kläger dem Erstbeklagten an sich - also ungeachtet seines eigenen Verhaltens - den "Vorrang" nicht hätte einräumen müssen. Wie sich ein Wartepflichtiger zu verhalten hat, regelt § 19 Abs 7 StVO. Danach darf der Wartepflichtige die Vorrangberechtigten weder durch Kreuzen, noch durch Einbiegen oder Einordnen zu unvermitteltem Bremsen oder zum Ablenken ihrer Fahrzeuge nötigen. Eine Verpflichtung, unter allen Umständen anzuhalten, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Damit ist für den Kläger aber noch nichts gewonnen, weil bei der rechtlichen Beurteilung des der Schadenersatzpflicht zugrunde liegenden Verkehrsgeschehens auch das eigene Verhalten des Klägers mit zu berücksichtigen ist. Das Berufungsgericht hat zutreffend erkannt, daß der Lenker eines Fahrzeuges nach § 19 Abs 8 StVO auf seinen Vorrang verzichten darf, und die zur Auslegung dieser Bestimmung von der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes entwickelten Grundsätze eingehend deutlich zur Darstellung gebracht. Die Richtigkeit dieser Ausführungen wird vom Kläger in der Revision mit Recht nicht in Zweifel gezogen. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen ist der Kläger vor seiner Einfahrt in die Bundesstraße minutenlang gestanden. Dieses Verhalten des Klägers galt unwiderlegbar (2 Ob 143/77; ZVR 1980/134; ZVR 1983/52) als Verzicht auf seinen Vorrang. Daß diese Vermutung des § 19 Abs 8 StVO für eine bestimmte Gruppe von Verkehrsteilnehmern - etwa für die aus Verkehrsflächen iS des § 19 Abs 6 StVO kommenden - nicht gelten sollte, ist weder dem Wortlaut dieser Vorschrift noch dessen Sinn, eindeutig Klarheit über die Wirkung des Zum-Stillstand-Bringens eines Fahrzeuges im Sinne eines unwiderleglichen Vorrangverzichtes zu schaffen, zu entnehmen. Da der Erstbeklagte bei seiner Annäherung an die Bundesstraße den stehenden PKW des Klägers wahrgenommen hat, durfte er annehmen, daß der Kläger sich seinem Vorrangverzicht entsprechend verhalten und seine Fahrt erst dann fortsetzen werde, wenn er sich die Gewißheit verschafft hat, daß er kein anderes Fahrzeug in seiner Bewegung behindert (Dittrich-Stolzlechner, aaO, Anm. 74 und § 19 StVO unter Hinweis auf Kammerhofer, Wartepflicht und Verzicht auf den Vorrang, KJ 1962, 45; ZVR 1980/257; ZVR 1984/339; 2 Ob 79/89). Unter diesen Umständen traf den Kläger sehr wohl die Verpflichtung, vor dem Einfahren in die Bundesstraße sich Gewißheit zu verschaffen, den Erstbeklagten bei seinem Einfahrmanöver in die Bundesstraße nicht zu behindern. Dieser Verpflichtung ist der Kläger aber nicht nachgekommen, weshalb das Berufungsgericht ihm ohne Rechtsirrtum ein Verschulden an dem eingetretenen Verkehrsunfall angelastet hat.

Was nun die Frage eines allfälligen Mitverschuldens des Erstbeklagten anlangt, so ist davon auszugehen, daß dieser infolge des Vorrangverzichtes des Klägers von seiner Wartepflicht, die ihn vorerst nach § 19 Abs 6 StVO getroffen hatte, enthoben wurde. War er aber nicht wartepflichtig und durfte er - wie bereits dargetan - annehmen, der Lenker des stehenden Mercedes werde sein Einfahren in die Bundesstraße nicht behindern, so bestand für ihn unter den gegebenen Umständen keine Veranlassung, seine Absicht, in die Bundesstraße nach rechts einzubiegen, nicht auszuführen, und seinen Lastwagenzug vor der Bundesstraße anzuhalten, zumal ihn nach der Verkehrslage auch keine sonstige gesetzliche Verpflichtung, sein Fahrzeug anzuhalten (Stoptafel) traf.

Insoweit der Kläger in seiner Revision die Feststellungen der Vorinstanzen dahin zusammengefaßt wissen will, daß die Front des vom Erstbeklagten gelenkten LKW-Zuges sich 3 m außerhalb der Bundesstraße befunden habe, als der Kläger sein Fahrzeug in Bewegung setzte, um in die Bundesstraße einzufahren, und er daraus den Schluß ziehen möchte, der Erstbeklagte wäre mit dem LKW-Zug maximal nur 3,5 m in die Bundesstraße eingefahren, wenn er "auf dieser Position" den Bremsentschluß gefaßt hätte, übersieht er, daß dem Erstbeklagten nach den für die rechtliche Beurteilung allein maßgeblichen Feststellungen der Vorinstanzen das Anfahren seines PKW erst 0,7 Sekunden später und gerade zu einem Zeitpunkt erkennbar geworden ist, als die Front des Zugwagens den nördlichen Fahrbahnrand der Bundesstraße (rechtslenkend) überfahren hatte und er auch bei einem sofortigen Bremsentschluß einen Anhalteweg von mindestens 6 m benötigt hätte. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen faßte der Kläger den Bremsentschluß 1,04 Sekunden nach Beginn seines Einbiegemanövers und kam sein Fahrzeug nach einer Fahrzeit von etwa 2,5 Sekunden und Zurücklegung einer bogenförmigen Wegstrecke von 5,50 m auf dem südlichen Fahrstreifen der Bundesstraße in Schrägstellung mit seiner linken vorderen Ecke etwa 1 m westlich der Bezugslinie, also noch im Kreuzungsbereich zum Stillstand. Welchen Einfluß es auf das Unfallgeschehen gehabt hätte, wenn der Erstbeklagte bei Erkennbarkeit des Einbiegemanövers des Klägers einen Bremsentschluß gefaßt hätte, versucht der Kläger in seiner Revision gar nicht darzustellen. Da der Erstbeklagte mit seinem LKW-Zug dabei jedenfalls den nördlichen, dem Ost-West-Verkehr dienenden, 3,90 m breiten Fahrstreifen der Bundesstraße (vgl. AS 258) blockiert hätte, ist nicht ersichtlich, daß bei einem sofortigen Bremsentschluß des Erstbeklagten der Zusammenstoß zwischen dem Fahrzeug des Klägers und dem Sattelschleppzug verhindert worden wäre oder die Auswirkungen des Unfalles vermindert worden wären. Im Hinblick auf das eindeutige Verschulden des Klägers hat das Berufungsgericht es mit Recht abgelehnt, die Beklagten zum Schadensausgleich nach § 11 Abs 1 EKHG heranzuziehen.

Die Abweisung des auf Ersatz des dem Kläger entstandenen Schadens gerichteten Leistungsbegehrens sowie des Feststellungsbegehrens entspricht somit der Sach- und Rechtslage. Insoweit konnte daher der Revision kein Erfolg beschieden sein.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO. Da der Revisionsstreitwert S 290.599,-- beträgt, die Beklagten in ihrer Revisionsbeantwortung auf die hier maßgebliche Unzulässigkeit der Revision nicht hingewiesen haben, konnten ihnen Kosten für ihre Beteiligung am Revisionsverfahren nur auf Basis von S 270.599,-- zugesprochen werden.

Anmerkung

E26173

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1991:0020OB00021.91.0528.000

Dokumentnummer

JJT_19910528_OGH0002_0020OB00021_9100000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten