TE OGH 1991/6/11 10ObS155/91

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Veröffentlicht am 11.06.1991
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Josef Fellner (Arbeitgeber) und Kurt Wuchterl (Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ingeborg S*****, Verkäuferin, ***** vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ANGESTELLTEN, 1021 Wien, Friedrich Hillegeiststraße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15. Februar 1991, GZ 33 Rs 182/90-18, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wr. Neustadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 6. Juli 1990, GZ 4 Cgs 91/90-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie lauten:

Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. Februar 1990 zu gewähren, wird abgewiesen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid der PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ANGESTELLTEN vom 21. Februar 1990 wurde der Antrag der Klägerin vom 5. Jänner 1990 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension abgewiesen. Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage statt, erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab dem 1. Februar 1990 die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren und erteilte überdies der beklagten Partei den Auftrag, der Klägerin eine vorläufige Zahlung von monatlich 3.000,-- S zu erbringen. Das Erstgericht stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Die am 4. Jänner 1939 geborene Klägerin ist gelernte Verkäuferin und übte diesen Beruf bis 10. Mai 1989 aus, seither befindet sie sich im Krankenstand. Sie leidet an einer angeborenen Hüftgelenksdysplasie beidseits, 1989 wurde ihr eine Totalendoprothese des linken Hüftgelenks implantiert. Auf Grund ihres körperlichen Zustandes kann die Klägerin noch regelmäßig leichte Arbeiten vorwiegend in sitzender Stellung verrichten. Arbeiten im Stehen können maximal im Ausmaß eines Drittels der Arbeitszeit verrichtet werden, dies aber nicht kontinuierlich, sondern mit Unterbrechungen im Sitzen. Nach Tätigkeiten im Stehen von rund 20 - 30 Minuten muß die Klägerin etwa 5 Minuten sitzen können. Nach einer sitzenden Tätigkeit im Ausmaß von rund 1 Stunde muß die Klägerin Tätigkeiten im Stehen von 5 - 10 Minuten verrichten können. Arbeiten auf Leitern oder Gerüsten und mit einseitig körperlicher Belastung in vorgebückter Haltung scheiden ebenso aus wie Arbeiten im Knien oder Hocken. Arbeiten unter dem Einfluß von Nässe und Kälte sind ungünstig. Die Klägerin kann eine Gehleistung von max. 500 m erbringen, hat allerdings dann Schwierigkeiten beim Einstieg in öffentliche Verkehrsmittel, wenn sie das linke Hüftgelenk über 90o beugen muß. Wenn ungünstige Straßenverhältnisse wie Eis oder Schneeglätte bestehen, verringert sich die von der Klägerin bewältigbare Gehstrecke auf rund 400 m.

Die Klägerin ist nicht mehr in der Lage, in Verkaufsberufen zu arbeiten, weil durch die dabei erforderlichen Geh- und Stehleistungen ihr Leistungskalkül überschritten würde. Sie könnte aber noch als Fakturistin oder als allgemeine Bürokraft mit Verkauf von Kleinteilen arbeiten. Dabei wird die Bürotätigkeit, die in sitzender Arbeitshaltung erfolgt, immer wieder durch kurze Phasen im Gehen und Stehen unterbrochen, während der die Kundenbedienung erfolgt. Diese Art der Tätigkeit ist insbesondere im Kleingewerbe (Elektriker, Installateur, Radiohandel usw.) zu finden.

In rechtlicher Hinsicht meinte das Erstgericht, eine Arbeitsaufnahme der Klägerin wäre an das persönliche Entgegenkommen eines Arbeitgebers gebunden. Wegen der Einschränkung ihrer Gehleistung auf 500 m und bei ungünstigen Straßenverhältnissen sogar auf 400 m sei die Erreichbarkeit eines Arbeitsplatzes nicht gegeben.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Wegen der Beugebehinderung im linken Hüftgelenk sei die Klägerin nicht in der Lage, alle öffentlichen Verkehrsmittel zu benützen. Vor allem jene öffentlichen Verkehrsmittel, bei deren Benützung das (linke) Hüftgelenk über 90o gebeugt werden müsse, könnten von ihr nicht bestiegen werden. Zusätzlich würden bei der Klägerin auch Abnützungserscheinungen am linken Kniegelenk vorliegen. Damit sei es für sie unmöglich, höhere Stufen (Eisenbahnen) zu besteigen. Es treffe zwar zu, daß die Einstiege in die U-Bahn auf demselben Niveau lägen wie der Bahnsteig, es sei jedoch gerichtsbekannt, daß dies nicht bei allen sonstigen öffentlichen Verkehrsmitteln im großstädtischen Bereich, insbesondere aber nicht bei Einstiegen in Eisenbahnwaggons zutreffe. Die Klägerin sei nicht mehr imstande, öffentliche Verkehrsmittel in einer ihr zumutbaren Weise zu benützen, weshalb Berufsunfähigkeit vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen von der beklagten Partei erhobene Revision ist berechtigt.

Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senates ist ein Versicherter unter Berücksichtigung der aktuellen Verhältnisse auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt von diesem wegen einer Gehbehinderung dann nicht ausgeschlossen, wenn er ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und vorher und nachher unter zumutbaren Bedingungen eine Wegstrecke von mindestens 500 m bewältigen kann. In einem solchen Fall werden an ihn keine höheren Anforderungen gestellt, als an den überwiegenden Teil aller anderen Berufstätigen in Österreich (SSV-NF 2/105, 3/10 ua, zuletzt 10 Ob S 107/91). Die Klägerin ist imstande, eine Wegstrecke von 500 m zurückzulegen. Sie ist daher wegen ihrer Gehbehinderung vom allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ausgeschlossen. Daran ändert nichts, daß sich ihre Gehleistung bei schlechten Straßenverhältnissen wie bei Schnee oder Eisglätte auf etwa 400 m verringert. Die beklagte Partei wies zutreffend darauf hin, daß solche Verhältnisse zumindest in städtischen Bereichen infolge der die Eigentümer von Liegenschaften in Ortgebieten gemäß § 93 Abs 1 StVO treffenden Pflicht, Gehsteige und Gehwege von Schnee und Verunreinigungen zu säubern und bei Schnee und Glatteis zu bestreuen, nur in Ausnahmefällen gegeben sind, in denen erfahrungsgemäß auch die nicht gehbehinderten Berufstätigen den Arbeitsplatz nicht oder nicht rechtzeitig erreichen können. Auf diese Ausnahmsfälle ist daher nicht Bedacht zu nehmen (ebenso SSV-NF 2/105).

Anders als das Berufungsgericht ist der erkennende Senat der Ansicht, daß die Klägerin auch ohne wesentliche Einschränkungen öffentliche Verkehrsmittel benützen kann. Die Vorinstanz hat diese Möglichkeit nur deshalb verneint, weil die Klägerin das linke Hüftgelenk nicht mehr als 90o abbiegen könne und weil auch Abnützungserscheinungen am linken Kniegelenk vorlägen. Geht man nun davon aus, daß das rechte Hüftgelenk der Klägerin im wesentlichen beschwerdefrei ist (nach dem orthopädischen Gutachten läßt es sich bei 100o beugen), dann muß ihr nach allgemeiner Lebenserfahrung möglich sein, auch höherliegende Trittbretter von Eisenbahnwaggons zu besteigen, indem sie zuerst mit dem beweglicheren rechten Fuß und unter Aufziehen mit den Händen emporsteigt und sodann den linken Fuß nachzieht. Dadurch wird das Abbiegen des linken Hüftgelenks und auch die Belastung des linken Kniegelenks auf ein Minimum reduziert. Umgekehrt kann beim Aussteigen zuerst mit dem linken Fuß ein Abbiegen des linken Hüftgelenks weitgehend vermieden werden. Die Ansicht der Vorinstanzen könnte nur dann zutreffen, wenn die Behinderungen an beiden Beinen bestünden. Die Auffassung, wonach die Klägerin nur wegen ihrer Behinderung am linken Bein nicht alle öffentlichen Verkehrsmittel benützen könne, widerspricht der allgemeinen Lebenserfahrung und kann daher nicht geteilt werden

Selbst wenn man aber mit dem Berufungsgericht davon ausginge, daß die Klägerin Eisenbahnwaggons nicht besteigen könne, wäre für sie nichts gewonnen. Bei Prüfung der Berufsunfähigkeit ist nämlich nicht vom individuellen Wohnsitz des (der) Versicherten auszugehen. Es kann vielmehr von ihm (ihr) eine Wohnsitzverlegung gefordert werden, die ihn (sie) in die Lage setzt, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erreichen, wenn nicht aus medizinischen Gründen eine Wohnsitzverlegung unzumutbar ist (SSV-NF 3/142 ua). Im hier zu entscheidenden Fall bieten die Verfahrensergebnisse keinen Anlaß daran zu zweifeln, daß der Klägerin eine Wohnsitzverlegung in den Großstadtbereich mit wesentlich niedrigeren Einstiegen bei U-Bahn, Straßenbahn und Autobus zumutbar wäre.

Mit Rücksicht auf bisherigen Berufsverlauf und Alter der Klägerin ist der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit nach § 273 Abs 1 ASVG zu beurteilen. Nach den Feststellungen kann die Klägerin zwar nicht mehr die bisher ausgeübte Tätigkeit einer Verkäuferin, wohl aber im Rahmen der Berufsgruppe der kaufmännischen Angestellten die Tätigkeit einer Fakturistin oder einer allgemeinen Bürokraft mit Verkauf von Kleinteilen ausüben. Da sie also innerhalb ihrer Berufsgruppe verweisbar ist und einen Arbeitsplatz auf eine ihr zumutbare Weise erreichen kann, ist sie demnach nicht berufsunfähig im Sinne der zitierten Gesetzesstelle. Die Voraussetzungen für den Anspruch auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension liegen nicht vor.

In Stattgebung der Revision waren daher die Urteile der Vorinstanzen im abweislichen Sinne abzuändern.

Verfahrenskosten wurden nicht geltend gemacht, sodaß eine Kostenentscheidung zu entfallen hatte.

Anmerkung

E26351

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1991:010OBS00155.91.0611.000

Dokumentnummer

JJT_19910611_OGH0002_010OBS00155_9100000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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