TE OGH 1991/6/12 2Ob31/91

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Veröffentlicht am 12.06.1991
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch, Dr.Zehetner, Dr.Niederreiter und Dr.Schinko als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Anton L*****, vertreten durch Dr.Peter Wiesauer und Dr.Helmuth Hackl, Rechtsanwälte in Linz, wider die beklagten Parteien 1. Wilhelm K*****, und 2. E***** Aktiengesellschaft, ***** beide vertreten durch Dr.Christian Beuerle, Dr.Hans Oberndorfer und Dr.Ludwig Beuerle, Rechtsanwälte in Linz, wegen S 180.000 sA und Feststellung (S 80.000), infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes vom 6.Februar 1991, GZ 3 R 266/90-39, womit infolge Berufung der klagenden Partei und der zweitbeklagten Partei das Teil- und Teilzwischen-Urteil des Landesgerichtes Linz vom 12.Juli 1990, GZ 3 Cg 249/88-23, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der außerordentlichen Revision wird teilweise Folge gegeben. Die Entscheidung des Berufungsgerichtes wird dahin abgeändert, daß sie als Teil- und Teil-Zwischenurteil zu lauten hat:

1.) Das Klagebegehren, der Erstbeklagte sei zur ungeteilten Hand mit der zweitbeklagten Partei schuldig, dem Kläger den Betrag von

S 180.000 samt 4 % Zinsen seit 26.4.1988 binnen 14 Tagen zu bezahlen und es werde festgestellt, daß der Erstbeklagte zur ungeteilten Hand mit der zweitbeklagten Partei für sämtliche Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 6.12.1987 in Linz-Urfahr, "*****" haftet, wird

abgewiesen.

Der Kläger ist schuldig, dem Erstbeklagten die mit S 42.537,68 bestimmten Kosten des Rechtsstreites (einschließlich S 3.163,25 Barauslagen und S 6.612,41 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

2.) Das Klagebegehren, die zweitbeklagte Partei sei schuldig, dem Kläger den Betrag von S 180.000 sA binnen 14 Tagen zu bezahlen, besteht zur Hälfte zu Recht, zur Hälfte nicht zu Recht. Die Kostenentscheidung bleibt diesfalls der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger befand sich am 6.11.1987 als Fahrgast in dem vom Erstbeklagten geführten Straßenbahnzug der Linie 3 der zweitbeklagten Partei auf dem Weg von Linz nach Urfahr. Er beabsichtigte, in Urfahr an der Haltestelle "B*****" auszusteigen. Zu diesem Zweck stand er vor dem Erreichen der Haltestelle auf und begab sich zur hintersten Türe des Wagens. Er hielt sich mit beiden Händen am mittleren Steher an und drücke noch während der Fahrt den Aussteigeknopf. Die Straßenbahn verringerte bei der Annäherung an die Haltestelle ihre Geschwindigkeit. Zur gleichen Zeit lief ein Passant mit der Straßenbahn mit, weil er diese noch erreichen wollte. Er nahm ein Bremsen der Straßenbahn wahr, das ihm fast wie eine Notbremsung erschien. Er betätigte von außen den Türdrücker. Noch bevor die Straßenbahn zum Stillstand kam, ging die Tür auf und der Kläger, der gerade aussteigen wollte, fiel aus der Tür. Er hatte, um über die Stufen der Straßenbahn aussteigen zu können, mit der rechten Hand die mittlere Haltestange ausgelassen, weil er sich beim Aussteigen am rechten Haltegriff der Türe festhalten wollte. Er konnte aber diesen Haltegriff nicht mehr erreichen, sondern wurde aus der offenen Tür geschleudert.

Die Beförderung des Klägers lagen die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn-, Pöstlingbergbahn-, O-Bus- und Omnibuslinienverkehr der zweitbeklagten Partei zugrunde, die vom Bundesministerium für Verkehr- und Elektrizitätswirtschaft zu Zahl 23039/1/6-64 am 29.10.1964 genehmigt worden waren. Gemäß § 10 lit j dieser Allgemeinen Geschäftsbedingungen hat sich jeder Fahrgast im Fahrzeug dauernd einen festen Halt zu verschaffen. Schäden, die durch Außerachtlassung dieser Vorsichtsmaßnahmen entstehen, hat der Fahrgast selbst zu vertreten. Gemäß § 10 lit i ist das Ein- und Aussteigen und das Verweilen auf den Trittbrettern der Straßenbahn verboten, während sich ein Fahrzeug in Bewegung befindet.

Die Annäherung der Straßenbahn an die spätere Unfallstelle, an der sich eine Haltestelle befindet, geschah über die letzte Wegstreckte von etwa 134 m folgendermaßen:

Aus einer ursprünglichen Geschwindigkeit von 18,4 km/h wurde kontinuierlich auf 27,4 km/h beschleunigt und dann letztlich auf 28 km/h, wobei diese Geschwindigkeit etwa 77 m vor der späteren Endposition erreicht wurde. Es folgte dann ein ständiger Geschwindigkeitsabbau über 27,2 km/h, 21,7 km/h auf 12,19 km/h mit Verzögerungen von 0,7 m/sek2. Eine weitere Geschwindigkeitsreduzierung von 12,9 km/h auf 6,1 km/h erfolgte mit einer Verzögerung von 1,1 m/sek2 und dann bis zum Stillstand letztlich mit 1,3 m/sek2. Diese Verzögerungswerte stellen mäßige bzw normale Betriebsbremsungen, somit weder ein ruckartiges Abbremsen noch eine Verzögerung, die als starke oder extrem starke Betriebs- oder Vollbremsung zu bezeichnen wäre, dar. Solche Bremsungen sind an sich nicht geeignet, eine in der Straßenbahn befindliche Person zu Sturz zu bringen, bzw sie aus dem Fahrzeug zu schleudern.

Der Türgriff am Türblatt des Straßenbahnwaggons ist nur dann erreichbar, wenn man sich vorbeugt. Als sich der Kläger in Richtung Haltegriff vorbeugte, fiel er durch das Aufgehen und die letzte Verzögerung vor dem Stillstand aus der Straßenbahn. Das Hinausfallen des Klägers wurde somit durch das Öffnen der Tür in der Phase unmittelbar vor dem Stillstand möglich.

Die elektrischen Teile der sechs- und achtachsigen Gelenktriebwagen wurden mit Bescheid des Bundesministeriums für Verkehr und verstaatlichte Unternehmungen vom 17.2.1970, Zahl 23421/1-I/6b-1970, genehmigt.

Das Öffnen der Türen der Straßenbahn ist nur bei einer Geschwindigkeit unter 7 bis 8 km/h möglich. Im konkreten Fall betrug die Geschwindigkeit 6,1 km/h, als der Federspeicher durch das Öffnen der Tür wirksam wurde. Es ist daher möglich, daß die Türen aufgingen, als die Straßenbahn noch in Bewegung war. Der Erstbeklagte konnte nur die Bremse und die Türfreigabe betätigen, alle anderen Vorgänge folgten automatisch. Die Türe des Straßenbahnwaggons öffnete sich in der letzten Bewegungsphase vor dem Stillstand, wobei die Geschwindigkeit am Beginn des Öffnungsvorgangs noch 6,1 km/h betrug.

Der Kläger begehrte von den Beklagten die Bezahlung eines Schmerzengeldes von S 180.000 sA sowie die Feststellung der Haftung für künftige Schäden aus dem Unfall. Der Erstbeklagte habe den Unfall verschuldet, weil er die Straßenbahn in Betrieb genommen habe, obwohl ihm bewußt war, daß sich die Türe vor dem Stillstand öffnen werde. Er sei außerdem in die dortige Kurve zu schnell eingefahren und habe "nicht sacht" gebremts. Die zweitbeklagte Partei hafte als Halterin der Straßenbahn.

Die Beklagten beantragten die Abweisung des Klagebegehrens. Die Türe sei erst nach dem Stillstand der Straßenbahn aufgegangen. Der Erstbeklagte habe auf die Abfolge der Bremsung und der Öffnung der Türen keinen Einfluß nehmen können. Der Kläger habe es unterlassen, sich vor dem Aussteigen ausreichend Halt zu verschaffen. Es liege ein unabwendbares Ereignis vor, sodaß die zweitbeklagte Partei auch nicht nach den Grundsätzen des EKHG hafte.

Das Erstgericht erkannte mit Zwischenurteil, daß der Anspruch des Klägers aus dem Unfall gegenüber der zweitbeklagten Partei zu Recht bestehe, wies jedoch das gesamte Klagebegehren (Leistungs- und Feststellungsbegehren) gegenüber dem Erstbeklagten ab. Über das Feststellungsbegehren gegenüber der zweitbeklagten Partei entschied es noch nicht. Das Erstgericht verneinte ein Verschulden des Erstbeklagten, erachtete jedoch die Haftung der zweitbeklagten Partei für gegeben, weil das Öffnen der Türe vor dem Stillstand eine außergewöhnliche Betriebsgefahr darstelle.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht, jener der zweitbeklagten Partei jedoch Folge und wies das Leistungsbegehren auch gegenüber der zweitbeklagten Partei ab. Es sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes insgesamt S 50.000 übersteige und daß die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Auch das Berufungsgericht verneinte ein Verschulden des Erstbeklagten, vertrat aber im Gegensatz zum Erstgericht die Auffassung, daß kein Fehler in der Beschaffenheit des Schließvorganges der Türe vorliege. Der Unfall sei ausschließlich auf das Fehlverhalten des Klägers zurückzuführen. Dieser habe ohne ersichtlichen Grund - entgegen den Beförderungsbedingungen - während der Fahrt seinen sicheren Standplatz aufgegeben und sich in eine instabile Lage gebracht, indem er sich nach vorne beugte und versuchte, mit der rechten Hand den Griff der noch geschlossenen Türe zu erreichen. Daß er diesen verfehlte und aus dem Waggon fiel, weil die Tür aufging, könne nicht auf eine Betriebsgefahr der Straßenbahn zurückgeführt werden, sondern ausschließlich auf das Verhalten des Klägers. Es wäre eine Überspannung der Sorgfaltspflicht und liefe auf eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Erfolgshaftung hinaus, würde man die zweitbeklagte Partei für den Schaden des Klägers haften lassen. Sie habe den Entlastungsbeweis gemäß § 9 EKHG erbracht, sodaß die Klage auch gegen sie abzuweisen sei.

Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, in der er beantragt, sie zuzulassen, das angefochtene Urteil abzuändern und dem gesamten Klagebegehren stattzugeben. Die Beklagten beantragen in der Revisionsbeantwortung, deren Erstattung ihnen anheim gestellt worden war, die außerordentliche Revision zurückzuweisen oder ihr nicht Folge zu geben.

Die außerordentliche Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht eine wesentliche Rechtsfrage (Haftung der zweitbeklagten Partei nach den Grundsätzen des EKHG) unrichtig gelöst hat:

Rechtliche Beurteilung

Dem Gericht zweiter Instanz ist zwar zunächst zuzustimmen, daß der Unfall weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit noch auf einem Versagen der Verrichtungen der Eisenbahn iS des § 9 Abs 1 EKHG beruhte. Zur Annahme einer fehlerhaften Beschaffenheit des Straßenbahnzuges fehlt jeglicher Anhaltspunkt; ein solcher ist nicht fehlerhaft beschaffen, wenn er so funktioniert, wie dies normalerweise der Fall ist (vgl 2 Ob 31/90 ua). Von einem Versagen der Verrichtungen kann im vorliegenden Fall ebenfalls nicht die Rede sein, weil die Fahrzeugtür die Funktionen, die ihr beim Betrieb zukamen, ordnungsgemäß erfüllte, indem sie sich bestimmungsgemäß im Zuge des Anhaltens durch ihre vom Fahrer der Straßenbahn vollzogene Freigabe öffnete (vgl Koziol, Haftpflichtrecht2 II 549, Geigel, Haftpflichtprozeß19 610; ZVR 1980/162; 8 Ob 204, 205/81; 2 Ob 12/90 ua).

Das Berufungsgericht hat jedoch auf die Bestimmung des § 9 Abs 2 EKHG nicht Bedacht genommen, wonach dennoch eine Haftung der beklagten Partei anzunehmen ist, wenn ... "die mit dem Willen des Betriebsunternehmers beim Betrieb tätigen Personen" nicht jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet haben. In einem solchen Fall liegt kein unabwendbares Ereignis im Sinne der zitierten Gesetzesstelle vor (vgl hiezu Manz'sche Große Gesetzesausgabe zum EKHG4 Anm 8 zu § 9). Unter "jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt" ist die äußerste nach den Umständen des Falles mögliche Sorgfalt zu verstehen (ZVR 1974/190; ZVR 1982/281 uza). Diese Sorgfaltspflicht setzt nicht erst in der Gefahrenlage ein, sondern verlangt, daß von vornherein vermieden wird, in eine Lage zu kommen, aus der Gefahr entstehen kann (ZVR 1978/188; ZVR 1984/150 uza). Die Vorinstanzen haben festgestellt, daß der Fahrer des Straßenbahnzuges die Türfreigabe schon betätigte, als die Geschwindigkeit der Straßenbahn noch 6,1 km/h betrug (Seite 10 des Ersturteils; AS 49, 50 der Aussage des Erstbeklagten); gerade darauf kam es aber beim Unfallsgeschehen an, weil der Erstbeklagte damit eine wesentliche Voraussetzung dafür schuf, daß der Kläger aus der Türe des noch in Bewegung befindlichen Straßenbahnwagens ins Freie stürzte.

Gewiß ist es richtig, daß dem Lenker des Straßenbahnzuges nicht als Verschulden nach dem ABGB anzulasten ist, im Zuge seiner vielzähligen Anfahr- und Anhaltemanöver die Türfreigabe im Einzelfall geringfügig zu früh betätigt zu haben; bei Anlegung des oben dargelegten strengen Maßstabes des EKHG kann jedoch nicht gesagt werden, daß der Lenker der Straßenbahn jede nach den Umständen des Falles, also die erhöhte Sorgfaltspflicht nach diesem Haftpflichtgesetz beobachtet hätte. Dies wirkt sich zu Lasten der zweitbeklagten Partei aus, weil damit der ihr nach § 9 Abs 2 EKHG obliegende Entlastungsbeweis als mißlungen zu beurteilen und daher - im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichtes - von ihrer grundsätzlichen (Mit-)Haftung für die Unfallsfolgen auszugehen ist.

Dem Kläger ist anzulasten, die eigene körperliche Integrität fahrlässig beeinträchtigt und sich selbst in eine solche instabile Lage gebracht zu haben, daß er beim Aussteigen den Haltegriff verfehlte und aus der sich öffnenden Türe des Straßenbahnwaggons fiel. Sein eigenes Verschulden ist nach § 7 Abs 1 EKHG und § 1304 ABGB mit der Haftung für die Betriebsgefahr der Straßenbahn in bezug zu bringen (Reischauer in Rummel, ABGB, Rz 8 zu § 1304 und die dort zitierte Literatur und Judikatur), und eine Schadensteilung im Verhältnis 1:1 zwischen dem Kläger und der zweitbeklagten Partei als dem erhobenen Sachverhaltsbild angemessen vorzunehmen.

Demnach war der außerordentlichen Revision teilweise Folge zu geben und - da noch die Höhe des Schmerzengeldes und das Feststellungsbegehren gegenüber der zweitbeklagten Partei offen sind - wie im Spruch zu erkennen.

Der Kostenausspruch beruht auf §§ 41, 50 ZPO bzw auf §§ 52 Abs 2, 393 Abs 4 ZPO.

Anmerkung

E26460

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1991:0020OB00031.91.0612.000

Dokumentnummer

JJT_19910612_OGH0002_0020OB00031_9100000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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