TE OGH 1991/6/26 1Ob572/91

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Veröffentlicht am 26.06.1991
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Schubert als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Hofmann, Dr.Schlosser, Dr.Graf und Dr.Schiemer als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Daniel N*****, geboren am 21.Juli 1987, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses des Vaters Herbert N*****, vertreten durch Dr.Walter Kerle, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Innsbruck als Rekursgericht vom 22.April 1991, GZ 1 b R 60/91-33, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Hall in Tirol vom 27.Februar 1991, GZ P 102/90-25, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Obsorge für den Minderjährigen dem Vater übertragen wird.

Text

Begründung:

Die Eltern des Kindes leben seit 21.September 1990 getrennt. An diesem Tag trafen sie vor Gericht eine - am 11.Dezember 1990 pflegschaftsgerichtlich genehmigte - Vereinbarung, nach der das Kind bis zur Entscheidung über die Obsorge vorläufig beim Vater bleiben solle.

Der Vater hatte beantragt, die Obsorge ihm zu übertragen. Mit Hilfe seiner Eltern könne er für das Kind besser sorgen als die Mutter. Seine Eltern hätten das Kind schon bisher teilweise betreut.

Auch die Mutter hatte schon vorher die Entscheidung beantragt, daß die Obsorge für das Kind künftig allein ihr zukomme. Sie verfüge über eine Einzimmerwohnung mit Küche und Bad, die für das Kind ausreichend Platz biete. An den Wochentagen könne sie das Kind bei der Familie ihres Vetters unterbringen, der etwa 10 km von ihr entfernt wohne. Die Mutter würde das Kind in der Freizeit besuchen und es an den Wochenenden zu sich nehmen.

Das Erstgericht sprach aus, daß die Obsorge für das Kind künftig allein der Mutter zukomme.

Es stellte fest, die Eltern arbeiteten im selben Unternehmen in Wechselschicht, also wöchentlich abwechselnd in Früh- (4.45 Uhr bis 13.00 Uhr) und Nachmittagsschicht (12.50 Uhr bis 21.00 Uhr). Solange die Eltern in gemeinsamem Haushalt lebten, hätten sie ihre Schicht derart gewechselt, daß das Kind stets von einem Elternteil betreut werden konnte. Bei Überschneidung des Schichtdienstes sei das Kind von den fünf Minuten entfernt wohnenden Eltern des Vaters betreut worden. Diese seien 65 bzw 67 Jahre alt und rüstig; sie hätten fünf eigene Kinder und ein Pflegekind aufgezogen. Die Großmutter liebe Kinder und habe, ehe sie selbst Kinder gehabt habe, zehn Jahre hindurch als Hausgehilfin bei Familien mit Kindern gearbeitet. Auch der Großvater könne mit Kindern gut umgehen. Das Kind erfahre bei seinem Vater und dessen Eltern einen "liebevollen Umgang"; diese seien mit der Betreuung des Kindes nicht überfordert.

Die Mutter sei aus der Ehewohnung ausgezogen, weil sie die Ehe als zerrüttet ansehe und nervlich nicht mehr verkrafte; sie habe eine Einzimmerwohnung mit Küche und Bad auf einem Bauernhof gemietet. Davon 6 km entfernt bewohne ein Vetter mit seiner Frau und einem vierjährigen Sohn eine 92 m2 große Wohnung in einem Privathaus mit Garten, in dem die Kinder spielen könnten. Da dessen Frau nach einer Risikoschwangerschaft kein weiteres Kind mehr wolle, hätten sich die beiden zur Aufnahme eines Pflegekindes entschlossen. Sie hätten sich deshalb bereit erklärt, den Minderjährigen, den sie von den Besuchen kannten, während des Schichtdienstes der Mutter zu versorgen.

Rechtlich meinte das Erstgericht, die Großeltern väterlicherseits und die von der Mutter in Aussicht genommene Pflegefamilie seien zur Pflege und Erziehung gleichermaßen geeignet. Daher gebe der von der Rechtsprechung entwickelte Grundsatz, daß Kleinkinder tunlichst von der Mutter zu versorgen seien, den Ausschlag.

Das Gericht zweiter Instanz bestätigte diesen Beschluß und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Wesentliches Kriterium für die Übertragung der Obsorge sei das Kindeswohl. Jenem Elternteil sei der Vorzug zu geben, bei dem möglichst günstige Voraussetzungen für eine positive geistig-seelische Entwicklung gegeben seien und auch das materielle Wohl gewährleistet sei. Weitere Grundsätze seien noch der Vorrang der Mutter bei der Erziehung von Kleinkindern, die Kontinuität der Erziehung und der Vorrang der Mutter gegenüber der Großmutter väterlicherseits. Diese Grundsätze dürften allerdings nicht verallgemeinert werden, abzustellen sei vielmehr auf die gesamte Lebensführung der Eltern. Bei der Übertragung der Obsorge gehe es darum, wer das Kind persönlich betreue, vor allem aber, wem die grundsätzlichen Entscheidungen über die Erziehung zustünden. Gerade berufstätige Mütter seien genötigt, für die Pflege ihrer Kinder während ihrer Abwesenheit Sorge zu tragen. Welche Zeit das Kind mit einem Elternteil tatsächlich zubringe, sei deshalb bloß von zweitrangiger Bedeutung. Die "Pflegeeltern" seien für die Erziehung des Kindes geeignet. Die Umstellung auf die Pflegefamilie werde zwar nicht ohne psychische Belastung vor sich gehen, bei der erstmaligen Zuteilung der Elternrechte müsse jedoch eine solche vorübergehende Belastung in Kauf genommen werden. Die Unterbringung bei einer "neutralen" Pflegefamilie mit häufigem und regelmäßigem Kontakt mit den Eltern sei für eine positive Entwicklung des Kindes günstiger als das ständige "Hin- und Herpendeln" zwischen den Großeltern, dem Vater und der Mutter. Die Mutter trage dem Kindeswohl mit der Unterbringung bei einer "verwandten" Familie Rechnung. Die Betreuung durch die Pflegemutter komme dem Grundsatz des Vorzugs der mütterlichen Betreuung inhaltlich so nahe, daß keine Bedenken bestünden, die Übertragung der Obsorge an die Mutter auf diesen Grundsatz zu stützen. Der Mutter dürfe auch nicht vorweg unterstellt werden, daß sie das Kind während ihrer Freizeit an den Wochentagen nicht besuchen werde, sodaß sie voraussichtlich mehr Zeit mit dem Kind zubringen werde, als dies bei Obsorge durch den Vater möglich wäre. Weder der vom Vater behauptete Unfall des Kindes während der Betreuung durch die Mutter noch der Umstand, daß diese aus der Ehe dränge, stünden der Übertragung der Obsorge an sie entgegen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Vaters ist berechtigt.

Die Vorinstanzen haben - Erwägungen, daß der Mutter bei der Betreuung von Kleinkindern der Vorzug zu geben sei, Rechnung tragend - die Obsorge für das nun bald vierjährige Kind der Mutter übertragen, obgleich das Kind bisher schon mehr als ein halbes Jahr vom Vater in seiner gewohnten Umgebung betreut und versorgt worden war und bislang bei seiner Betreuung durch den Vater und dessen Eltern auch nicht die geringsten Anstände aufgetreten waren. Bei dieser Beschlußfassung haben die Vorinstanzen das Wohl des Kindes - als für die Obsorgeentscheidung ausschlaggebendes Kriterium (EFSlg 59.803;

SZ 59/144 uva) - außer acht gelassen:

Zur Beurteilung der grundsätzlichen Frage, welcher Elternteil den Anforderungen des Kindeswohls besser entspricht, sind einander die bei diesem erhobenen Lebensumstände in ihrer Gesamtheit gegenüberzustellen (SZ 53/23 uva). Bei der Entscheidung, welchem Elternteil die Obsorge für das Kind künftig allein zukommt, darf weder aus dem Alter noch aus dem Geschlecht des Kindes ein Vorrecht eines Elternteils auf Zuweisung der Obsorge abgeleitet werden; nur wenn gleichwertige Verhältnisse erhoben wurden, ist der Betreuung von Kleinkindern durch deren Mutter der Vorzug zu geben (SZ 59/114 uva; Schlemmer/Schwimann in Schwimann, ABGB § 177 Rz 11). Solche gleichwertige Voraussetzungen liegen indessen hier nicht vor:

Als sich die Mutter entschloß, aus der Ehewohnung auszuziehen, weil sie die Ehe "nervlich" nicht mehr verkraftete, einigten sich die Eltern dahin, daß das Kind bis zu einer endgültigen Beschlußfassung über die Obsorge beim Vater in seiner gewohnten Umgebung bleiben sollte. Das Kind lebt deshalb wie bisher in der Ehewohnung in deren unmittelbaren Umgebung und wird weiterhin von seinen - verbliebenen - Bezugspersonen, also dem Vater und dessen Eltern, die sich schon bisher um das Kind gekümmert hatten, wenn das die Berufstätigkeit der Eltern erforderte - bestens betreut und versorgt. Aus dieser ihm völlig vertrauten Umgebung müßte das Kind aber entfernt werden, würde die Obsorge der Mutter übertragen werden. Diese wäre zudem genötigt, das Kind einer Pflegefamilie zu überantworten; ihren im erstinstanzlichen Verfahren bekundeten Vorstellungen zufolge würde sie das Kind dort in der Freizeit besuchen bzw an den Wochenenden zu sich nehmen. Da sie das Kind somit größtenteils nicht selbst betreuen würde, kann den von den Vorinstanzen angestellten Erwägungen, daß Kleinkinder vorzugsweise der Mutter zu überlassen seien, kein besonderer Stellenwert zukommen.

Dagegen ist ein Wechsel des Pflegeplatzes grundsätzlich zu vermeiden und nur dann vorzunehmen, wenn er im Interesse des Kindes dringend geboten ist (EFSlg 59.821 uva). Dies wäre etwa dann der Fall, wenn der angestrebte Pflegeplatzwechsel eine wesentliche Verbesserung der Entwicklungsmöglichkeiten erwarten ließe (EFSlg 59.820 ua). Davon kann im vorliegenden Fall aber keine Rede sein. Überdies wäre man bei Einschätzung der Entwicklungschancen des Kindes bei Übertragung der Obsorge an die Mutter auf wenig gefestigte Prognosen angewiesen, wogegen der Vater günstige Pflegeverhältnisse - mit Hilfe seiner Eltern - bereits genügend unter Beweis gestellt hat. Der Grundsatz der Erziehungskontinuität ist auch bei erstmaligen Obsorgeentscheidungen jedenfalls dann zu beachten, wenn die bisherigen Verhältnisse nicht unbedingt geändert werden müssen (EFSlg 43.387 ua): Im vorliegenden Fall ist der Wechsel des Pflegeplatzes schon deshalb zu vermeiden, weilddas Kind dann weiterhin in der ihm seit jeher vertrauten Umgebung bleiben kann und so der mit jedem Pflegeplatzwechsel - noch dazu bei in diesem Fall notwendiger Unterbringung des Kindes bei ihm kaum bekannten Pflegepersonen - nahezu immer verbundenen psychischen Belastung nicht ausgesetzt werden muß und überdies feststeht, daß das Kind - seit der Trennung seiner Eltern - eine liebevolle, gedeihliche und seiner Entwicklung erforderliche Erziehung und Betreuung erfahren hat. Müßten beide Elternteile die Pflege und Erziehung bei Übertragung der Obsorge an sie - wie im vorliegenden Fall - berufsbedingt weitgehend dritten Personen überlassen, muß Großeltern anderen Personen gegenüber zumindest dann der Vorzug gegeben werden, wenn sie - wie hier - ihre Eignung zur Betreuung und Erziehung des Kindes bereits ausreichend unter Beweis gestellt haben, auch schon bisher Bezugspersonen des Kindes waren und die Betreuung durch sie mit keinerlei Milieuwechsel für das Kind verbunden wäre.

Das Gericht zweiter Instanz meint in diesem Zusammenhang, die Unterbringung bei einer "neutralen" Pflegefamilie wirkte sich auf das Kind günstiger aus als das "ständige Hin- und Herpendeln" zwischen den Eltern und den Großeltern; eine zureichende Begründung für diese Auffassung ist es allerdings schuldig geblieben. Die Dinge liegen im übrigen ganz anders: Bliebe das Kind - würde es der Obsorge der Mutter überlassen - wochentags bei der Pflegefamilie und würde es die Mutter an den Wochenenden zu sich nehmen, müßte sie mit dem wohl dann dem Vater zuzubilligenden Besuchsrecht rechnen, das dieser berufsbedingt gewiß gleichfalls für bestimmte Wochenenden in Anspruch nehmen müßte. Dann wäre aber das Kind dem vom Rekursgericht befürchteten "ständigen Hin- und Herpendeln" noch viel mehr ausgesetzt. Für den Aufbau des notwendigen innigen Kontaktes zwischen dem Kind und dem obsorgeberechtigten Elternteil bliebe der Mutter dann aber auch noch viel weniger Zeit als dem Vater, der das Kind in seiner Freizeit stets in dessen gewohnter Umgebung betreuen kann.

Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen erfordert es das Kindeswohl somit, die Obsorge dem Vater weiterhin zu belassen. In Stattgebung dessen Revisionsrekurses sind die Beschlüsse der Vorinstanzen deshalb in diesem Sinne abzuändern.

Anmerkung

E26554

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1991:0010OB00572.91.0626.000

Dokumentnummer

JJT_19910626_OGH0002_0010OB00572_9100000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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