TE OGH 1991/7/9 10ObS166/91

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Veröffentlicht am 09.07.1991
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Bauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Richard Bauer (Arbeitgeber) und Reinhold Ludwig (Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J***** H*****, vertreten durch Dr. Otto Philp, Dr. Gottfried Zandl und Dr. Andreas Grundei, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ARBEITER, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 30. Jänner 1991, GZ 34 Rs 229/90-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 4.7.1990, GZ 20 Cgs 44/90, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der am 28.6.1939 geborene Kläger ist zufolge gesundheitsbedingter Einschränkungen seiner Leistungsfähigkeit nur mehr in der Lage, leichte und mittelschwere Arbeiten unter Einhaltung der normalen Arbeitszeit und der üblichen Pausen zu verrichten. Auszuschließen ist Dauerstehen und Dauersitzen. Es muß die Möglichkeit eines kurzfristigen Haltungswechsels gegeben sein. Auszuschließen sind weiters Hebe- und Trageleistungen von über 15 kg sowie Tätigkeiten in Nässe und Kälte, überdurchschnittlicher Hitzeeinwirkung, auf Leitern und Gerüsten sowie Arbeiten, bei denen eine überdurchschnittliche Verletzungsgefahr besteht. Arbeiten, welche eine Feinarbeit der Finger erfordern, sind ebenfalls nicht möglich. Der Kläger ist unterweisbar. Dieser Zustand besteht seit Antragstellung.

Gegen den abweislichen Bescheid der beklagten Partei erhob der Kläger Klage mit dem Begehren, die beklagte Partei zur Leistung der Invaliditätspension ab 1.11.1989 zu verpflichten, wobei er vorbrachte, daß er als Gerüster, Hauptgerüster und Partieführer beschäftigt gewesen sei und dabei qualifizierte Arbeiten verrichtet habe.

Das Erstgericht wies das Begehren des Klägers ab, wobei es seiner Entscheidung über den eingangs dargestellten Sachverhalt hinaus zugrundelegte, daß ein Gerüster diverse Gerüstkonstruktionen für die Durchführung von Bauarbeiten, Standplätzen, Lagerstätten etc herstelle. Der Gerüster werde üblicherweise als Gerüsthelfer eingestellt und in der Folge zum Gerüster angelernt. Im Rahmen des Gerüsterberufes bestehe für leistungsstarke Mitarbeiter die Möglichkeit des Aufstieges zum zweiten Helfer (anspruchsvollere Gerüstarbeiten), dritter Helfer (eingesetzt für schwierige Arbeiten) bis hin zum Partieführer (Vorarbeiter) mit zusätzlichen organisatorischen Tätigkeiten. Die Bewilligung und vorangegangene Kontrolltätigkeit für die Benützung der aufgestellten Gerüste werde nicht vom Gerüster (auch nicht vom Partieführer) erteilt bzw durchgeführt, sondern von speziellen Fachkräften wie zB Baumeister. Der Gerüster sei auch nicht in der Funktion eines Partieführers oder Hauptgerüsters mit einem Lehrberuf zu vergleichen. Würden die Arbeiten in der Funktion eines dritten Helfers und insbesondere als Partieführer ausgeübt, sei eine Anlernzeit von ca einem dreiviertel Jahr bis einem Jahr erforderlich. Da die Anlernung in der Praxis von praktischen Arbeitstätigkeiten unterbrochen werde, könne sich diese Anlernzeit auch entsprechend verlängern. Tätigkeiten als Gerüster seien mittelschwere bis schwere Arbeiten an besonders exponierten Stellen. Diese Arbeiten seien dem Kläger nicht mehr zumutbar. Hieraus zog das Erstgericht den Schluß, daß die Tätigkeit eines Gerüsters nicht als Anlernberuf im Sinn des § 255 Abs 2 ASVG gewertet werden könne, weil es sich dabei nur um qualifizierte Hilfsarbeitertätigkeiten handle, für welche eine relativ kurze Unterweisungszeit genüge. Auch der Hauptgerüster und Partieführer bedürfe nur einer reinen Ausbildungszeit von einem dreiviertel Jahr bis zu einem Jahr, und erwerbe dadurch nicht jene Kenntnisse und Fähigkeiten, die jenen in einem Lehrberuf entsprächen. Der Kläger genieße daher keinen Berufsschutz und könne auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden. Da er auch unter Berücksichtigung des Leistungskalküls in der Lage sei, Aufsichtstätigkeiten insbesondere als Portier zu verrichten, seien die Voraussetzungen für die begehrte Leistung nicht erfüllt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Auch ein Hauptgerüster oder Partieführer übe keine angelernte Tätigkeit aus. Das Aufstellen von Baugerüsten sei an sich eine Nebentätigkeit der Lehrberufe eines Maurers, eines Konstruktions- oder Bauschlossers oder eines Zimmerers. Ein Gerüster erwerbe durch praktische Arbeit bestenfalls einen geringen Teil jener Kenntnisse und Fähigkeiten manueller Art, welche beim Beruf eines Maurers oder bei den anderen angeführten Lehrberufen vorausgesetzt würden. Art und Umfang der Tätigkeit eines Gerüsters ergebe sich aus den gesetzlichen Vorschriften über das Aufstellen von Gerüsten. Es werde dort zwischen fachkundigen Personen, die das Aufstellen, Ändern und Abtragen eines Gerüstes zu leiten haben und das aufgestellte oder geänderte Gerüst nochmals überprüfen müssen und den mit den hiebei zu verrichtenden Arbeiten vertrauten Personen unterschieden. Letztere seien die Gerüster, von denen bestimmte Eigenschaften wie absolute Schwindelfreiheit, Gewissenhaftigkeit und Verläßlichkeit, aber nicht bestimmte durch praktische Arbeit erworbene qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten erwartet würden. Daran ändere auch der Umstand nichts, daß ein Gerüster als Vorarbeiter eine Arbeitspartie führe und leite, zumal auch feststehe, daß die Bewilligung zur Benützung aufgestellter Gerüste nicht vom Gerüster und auch nicht vom Partieführer erteilt werde, sondern von speziellen Fachkräften wie Baumeistern. Selbst wenn der Kläger die behaupteten Arbeiten verrichtet hätte, wäre seine Tätigkeit über jene eines Hauptgerüsters nicht hinausgegangen. Für diese Tätigkeiten sei jedoch nur eine Anlernzeit von 9 bis 12 Monaten erforderlich. Zutreffend habe daher das Erstgericht das Vorliegen eines Anlernberufes verneint.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinn einer Klagestattgebung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Bildet die Berufstätigkeit des Versicherten die er während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausübte (vgl § 255 Abs 1 und 2 ASVG) einen Teil eines Lehrberufes, so ist zur Lösung der Frage des Berufsschutzes dieser Lehrberuf zum Vergleich heranzuziehen. Trifft dies aber nicht zu, weil kein Lehrberuf vorhanden ist, der die Berufstätigkeit des Versicherten einschließt, so muß auf jenen Lehrberuf zurückgegriffen werden, der mit ihr am ehesten verwandt ist. Dabei ist wieder auf die auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten dieses Lehrberufes Bedacht zu nehmen und jene Variante zum Vergleich heranzuziehen, die der vom Versicherten ausgeübten Berufstätigkeit am nächsten kommt. Hiefür wird etwa maßgebend sein, ob das be- oder verarbeitete Material das gleiche oder ähnliche ist, ob ähnliche Maschinen oder Werkzeuge verwendet werden, ob ähnliche Arbeitsvorgänge vorkommen etc (SSV-NF 4/111). Dabei ist es durchaus denkbar, daß sich die Tätigkeit eines Versicherten als Mischtätigkeit von Teiltätigkeiten mehrerer Lehrberufe darstellt und der Versicherte aus jedem Lehrberuf zwar nur einzelne Teiltätigkeiten beherrscht, die Summe dieser Teiltätigkeiten jedoch ein Maß erreicht, das die Annahme des Vorliegens von einem Lehrberuf vergleichbaren Kenntnissen und Fähigkeiten rechtfertigt. Der Umstand, daß Gerüsterarbeiten auch als Nebentätigkeiten der Lehrberufe des Maurers, gewisser Schlosserberufe und des Zimmerers anfallen, schließt daher für sich allein die Annahme des Berufsschutzes nicht aus.

Gemäß § 31 Abs 2 der Verordnung vom 10. November 1954 BGBl 1954/267, über Vorschriften zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Dienstnehmern bei Ausführung von Bauarbeiten, Bauneben- und Bauhilfsarbeiten idF der Verordnungen vom 25. Juli 1973 BGBl 1973/501 und vom 14. Dezember 1973 BGBl Nr 1974/39 (Bauarbeiterverordnung) ist das Aufstellen oder Abtragen sowie das wesentliche Ändern von Gerüsten unter Leitung einer fachkundigen Person vorzunehmen, wobei zu solchen Arbeiten nur damit vertraute Personen herangezogen werden dürfen; andere Dienstnehmer dürfen nur unter Anleitung und unter Aufsicht von mit den Arbeiten vertrauten Dienstnehmern verwendet werden. Gemäß § 32 Abs 1 dieser Verordnung sind Gerüste, auch Leihgerüste, vor der jeweils erstmaligen Benützung sowie nach jeder Änderung durch einen fachkundigen Beauftragten des Aufstellers zu prüfen. Die Verordnung unterscheidet damit zwischen der Leitungstätigkeit durch eine fachkundige Person beim Aufstellen von Gerüsten, den mit den Arbeiten vertrauten Personen, die beim Aufbau des Gerüstes beschäftigt sind sowie der Untersuchung des Gerüstes durch einen fachkundigen Beauftragten des Aufstellers. Der Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, daß diese Bestimmung eine Grundlage für den Schluß böte, daß der Kläger nur unqualifizierte Arbeiten geleistet habe, kann nicht beigetreten werden. Als fachkundige Person für die Leitung der Aufstellung des Gerüstes kommt durchaus ein entsprechend ausgebildeter Hauptgerüster in Frage, dem dann die "mit den Arbeiten vertrauten Personen" bei Errichtung des Gerüstes unterstellt sind. Feststellungen über die Funktion des Klägers bei der Errichtung von Gerüsten fehlen jedoch. Die Tatsache, daß die allenfalls unter Leitung des Klägers errichteten Gerüste aus Sicherheitsgründen durch einen fachkundigen Beauftragten des Aufstellers zu untersuchen waren, würde im Fall einer entsprechenden Qualifikation des Klägers der Annahme eines Anlernberufes im Sinn des § 255 Abs 2 ASVG nicht widersprechen. Gerade im Bauwesen sind solche Überprüfungen auch bei Tätigkeiten im Rahmen eines Lehrberufes durchaus üblich. So unterliegt ein ausgebildeter Maurer der Kontrolle des Baumeisters oder Bauleiters, die als letztlich Verantwortliche für die ordnungsgemäße Ausführung eine entsprechende Abnahme vor der Benützung auch der jeweiligen Bauabschnitte durchzuführen haben.

Im weiteren wird zu prüfen sein, welche Ausbildung der Kläger erworben hatte, wobei insbesondere auch sein Vorbringen (Ausbildung in Statik, Arbeitnehmerschutzvorschriften und Verkehrssicherungsmaßnahmen etc) zu berücksichtigen sein wird und welche Zeit diese Ausbildung in Anspruch nahm. Wohl legten die Vorinstanzen ihren Entscheidungen zugrunde, daß die Anlernung eine Zeit von einem dreiviertel Jahr bis zu einem Jahr in Anspruch nahm, daß sich diese aber dadurch verlängere, daß die Anlernung durch praktische Arbeitstätigkeit immer wieder unterbrochen werde. Damit ist die Dauer der erforderlichen Anlernung jedoch nicht ausreichend geklärt. Auch die Erlernung eines Lehrberufes hat nicht ausschließlich die ständige Vermittlung neuer theoretischer und praktischer Kenntnisse zum Gegenstand. Ein wesentlicher Teil der Lehre umfaßt die praktische Anwendung von vermittelten Kenntnissen durch die der Lehrling schließlich jene Fertigkeit erwirbt, die ihn zum Facharbeiter qualifiziert. Daß die reine Anlernzeit ein dreiviertel Jahr bis ein Jahr umfaßt, sagt nichts darüber aus, wie lange die Ausbildung zum Hauptgerüster einschließlich des Erwerbes der erforderlichen praktischen Fertigkeiten tatsächlich dauert.

Erst wenn über die festgestellten Umstände ausreichende Feststellungen vorliegen, kann beurteilt werden, ob der Kläger im Sinn seiner Behauptung als Hauptgerüster oder Partieführer einen angelernten Beruf ausgeübt hat. Bejahendenfalls wird auch festzustellen sein, während welcher Zeiträume der Kläger diese Tätigkeit ausübte, um eine Grundlage für die Beurteilung der Frage zu schaffen, ob seine diesbezügliche Tätigkeit während des Beobachtungszeitraumes des § 255 Abs 2 ASVG überwiegend ausgeübt wurde und ihm damit Berufsschutz zukommt.

Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 ZPO.

Anmerkung

E26366

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1991:010OBS00166.91.0709.000

Dokumentnummer

JJT_19910709_OGH0002_010OBS00166_9100000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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