Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 23.Juli 1991 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kral als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Lachner, Hon.Prof. Dr. Brustbauer, Dr. Massauer und Dr. Markel als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Frohner als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Elmar M***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 und Abs. 4 erster Fall StGB über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Urteile des Bezirksgerichtes Dornbirn vom 26.Juli 1990, GZ U 440/89-15, sowie des Landesgerichtes Feldkirch als Berufungsgericht vom 5. Dezember 1990, AZ Bl 162/90 (= ON 20 des Strafaktes), nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Raunig, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten zu Recht erkannt:
Spruch
Durch die Urteile des Bezirksgerichtes Dornbirn vom 26.Juli 1990, GZ U 440/89-15, und des Landesgerichtes Feldkirch als Berufungsgericht vom 5.Dezember 1990, AZ Bl 162/90 (= ON 20 des Strafaktes), ist das Gesetz in der Bestimmung des § 88 Abs. 1 und Abs. 4 erster Fall StGB verletzt.
Beide Urteile werden aufgehoben und es wird gemäß §§ 288 Abs. 2 Z 3, 292 letzter Satz StPO in der Sache selbst erkannt:
Elmar M***** wird von der Anklage, er habe am 18.November 1988 in Dornbirn als Lenker des LKW mit dem amtlichen Kennzeichen
V 95.558 dadurch, daß er von der ESSO-Tankstelle nach links in den Radfahrstreifen der Lustenauerstraße einfuhr, wodurch es zur Kollision mit der auf dem Radfahrstreifen in Richtung Lustenau fahrenden Radfahrerin Daniela H***** kam und diese einen Schädelbruch im Bereich der rechten Schläfenscheitelregion, verbunden mit einer vierundzwanzig Tage übersteigenden Gesundheitsschädigung erlitt, die Daniela H***** fahrlässig am Körper schwer verletzt, und hiedurch das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 und Abs. 4 erster Fall StGB begangen, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Gemäß § 366 Abs. 1 StPO wird die Privatbeteiligte Daniela H***** mit ihren Entschädigungsansprüchen auf den Zivilrechtsweg verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem oben bezeichneten Urteil des Bezirksgerichtes Dornbirn wurde Elmar M***** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 und Abs. 4 erster Fall StGB schuldig erkannt und zu einer bedingt nachgesehenen Geldstrafe sowie zur Zahlung eines Entschädigungsbetrages an die Privatbeteiligte Daniela H***** verurteilt.
Nach den Urteilsfeststellungen wollte Elmar M***** am 18. November 1988 gegen 18.00 Uhr in Dornbirn mit einem LKW vom Betriebsgelände einer Tankstelle nach links in die Lustenauerstraße einbiegen. Deren Fahrbahn wird vom Tankstellenareal zunächst durch einen etwa 2 m breiten Gehsteig getrennt, neben dem noch ein 1,4 m breiter Radfahrstreifen verläuft. Um den bevorrangten Fließverkehr auf der Lustenauerstraße abzuwarten, brachte Elmar M*****, obwohl ihm auch eine zur Gänze noch im Tankstellenbereich gelegene Warteposition ausreichende Sichtmöglichkeiten gewährt hätte, sein Fahrzeug im schrägen Winkel zur Fahrbahnlängsachse der Lustenauerstraße derart zum Stillstand, daß dessen rechte vordere Begrenzung etwa 0,5 bis 1 m in den Radfahrstreifen hineinragte. In dieser Position verblieb er zumindest eine halbe bis maximal 2 Minuten. Während dieses Zeitraumes stieß die auf dem Raddfahrstreifen von Elmar M***** aus gesehen von links mit einer Geschwindigkeit von etwa 18 km/h (d.s. 5 m/sec) herankommende Radfahrerin Daniela H***** gegen die Stoßstange des stehenden LKW, kam dadurch zu Sturz und wurde schwer verletzt. Daniela H***** hätte bei den durch Regen und Dunkelheit beeinträchtigten Sichtverhältnissen von Elmar M***** aus seiner Warteposition erst auf eine Distanz von etwa 50 m und damit während eines Zeitraumes von rund 10 Sekunden bis zur anschließenden Kollision wahrgenommen werden können. Tatsächlich hat er freilich das Herannahen der Radfahrerin überhaupt nicht bemerkt.
Ungeachtet des Umstandes, daß aber jedenfalls beim Einfahren in den Radfahrstreifen die Radfahrerin noch nicht in seinem Sichtbereich war, lastete das Bezirksgericht dem Elmar M***** einen Verstoß gegen die Vorrangbestimmung des § 19 Abs. 6 StVO an, weil er als Benachrangter seiner Verpflichtung zur fortlaufenden Beobachtung des bevorrangten Verkehrs und gegebenenfalls zur Ergreifung unfallverhütender Maßnahmen nicht nachgekommen sei.
Rechtliche Beurteilung
Der von Elmar M***** gegen dieses Urteil erhobenen Berufung wegen Nichtigkeit sowie wegen des Ausspruches über die Schuld und die privatrechtlichen Ansprüche, aber auch der Strafberufung der Staatsanwaltschaft gab das Landesgericht Feldkirch mit Urteil vom 5. Dezember 1990, AZ Bl 162/90 (= ON 20 des Strafaktes) nicht Folge. Bei seiner von der Rechtsmeinung des Erstgerichtes allerdings abweichenden rechtlichen Beurteilung erkannte das Berufungsgericht zwar an sich zutreffend, daß die angenommene Vorrangverletzung die Wahrnehmbarkeit der Radfahrerin durch Elmar M***** bei Beginn seines Fahrmanövers vorausgesetzt hätte (RZ 1981/77; 1989/112). Weil er aber nach den Urteilsannahmen auch ohne Befahren des Radfahrstreifens ausreichende Sicht auf den Querverkehr gehabt und für ihn daher keine Notwendigkeit bestanden hätte, so weit vorzufahren, beurteilte es die tatsächlich eingenommene Warteposition als gemäß § 24 Abs. 1 lit. k StVO verbotenes Halten auf einem Radfahrstreifen und erblickte darin den Sorgfaltsverstoß.
Diese Rechtsansicht des Berufungsgerichtes steht - wie der Generalprokurator in seiner gemäß § 33 Abs. 2 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde im Ergebnis zutreffend aufzeigt - mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Nach den in § 2 Abs. 1 StVO enthaltenen Begriffsbestimmungen gilt im Sinne dieses Bundesgesetzes als Halten (Z 27) eine nicht durch die Verkehrslage oder durch sonstige wichtige Umstände erzwungene Fahrtunterbrechung bis zu zehn Minuten oder für die Dauer einer Ladetätigkeit, während unter Anhalten (Z 26) das durch die Verkehrslage oder durch sonstige wichtige Umstände erzwungene Zum-Stillstand-Bringen eines Fahrzeuges zu verstehen ist. Ein solches - d.h. tatsächlich "erzwungenes" und daher gerechtfertigtes (vgl. Benes-Messiner StVO8 § 2 Anm. 27, E 106) - Zum-Stillstand-Bringen unterliegt als ein vom Wollen des Lenkers unabhängiges Fahrverhalten grundsätzlich - von den hier nicht in Betracht kommenden Sonderfällen der §§ 18 Abs. 3 und 46 Abs. 3 StVO sowie der §§ 16 Abs. 2 lit. e, 18 Abs. 2 und 19 Abs. 1 EisbKrV abgesehen - keiner Einschränkung (aaO Anm. 27). Seine Zulässigkeit hängt daher insbesondere nicht davon ab, ob die konkrete Fahrsituation, in der das Zum-Stillstand-Bringen des Fahrzeuges durch die Verkehrslage oder durch sonstige wichtige Umstände erzwungen wird, ihrerseits unbedingt notwendig war oder nicht. Es ist daher rechtlich unerheblich, ob Elmar M***** eine Einordnungsmöglichkeit in den Fließverkehr auch ohne Befahren des Radfahrstreifens, zu dessen Überquerung an der hiefür vorgesehenen Stelle der Tankstellenausfahrt er mangels Wahrnehmbarkeit der herannahenden Radfahrerin grundsätzlich berechtigt war (§ 8 Abs. 4 zweiter Satz StVO), hätte abwarten können und demnach kein zwingender Anlaß bestanden hat, in den Radfahrstreifen einzufahren. Entscheidend ist nur, ob in dieser ohne Verstoß gegen Verkehrsvorschriften herbeigeführten konkreten Fahrsituation nach objektiven Gegebenheiten (ZVR 1983/66) ein Zum-Stillstand-Bringen des LKW durch die Verkehrslage - dieser gleichwertige sonstige wichtige Umstände sind hier nicht aktuell - erzwungen worden ist. Gerade dies war aber nach den Urteilsfeststellungen der Fall, weil Elmar M***** sein Fahrzeug ja deshalb zum Stillstand brachte, um den bevorrangten Fließverkehr (§ 19 Abs. 6 StVO) abzuwarten, er also infolge eines gesetzlichen Gebotes, das - dies sei nochmals betont - nur gegenüber wahrnehmbaren Verkehrsteilnehmern gilt und daher hier nicht schon gegenüber der Radfahrerin zum Tragen kam, zum Stehenbleiben verpflichtet war.
Elmar M***** durfte daher nicht nur (zunächst) bis in den Radfahrstreifen vorfahren, sondern (sodann) sein Fahrzeug dort auch im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 26 StVO zum Stillstand bringen (d.h. anhalten), sodaß ihm auch vom Berufungsgericht ein objektiv sorgfaltswidriges Verhalten und damit das Vergehen nach § 88 Abs. 1 und Abs. 4 erster Fall StGB zu Unrecht angelastet worden ist. Die Urteile beider Instanzen waren daher gemäß § 292 letzter Satz StPO zu kassieren und der Angeklagte freizusprechen, wozu es allerdings nicht des von der Generalprokuratur vorgeschlagenen prozessualen Umweges einer neuerlichen Entscheidung über die seinerzeit erhobenen (und als solche erledigten) Rechtsmittel bedurfte.
Anmerkung
E26758European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1991:0140OS00067.91.0723.000Dokumentnummer
JJT_19910723_OGH0002_0140OS00067_9100000_000