Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Melber, Dr. Kropfitsch, Dr. Zehetner und Dr. Schinko als weitere Richter in den verbundenen Rechtssachen der klagenden Parteien 1.) SOZIALVERSICHERUNGSANSTALT *****, vertreten durch Dr. Herbert Macher, Rechtsanwalt in Wien, und 2.) Ingrid N*****, vertreten durch Dr. Anton Gruber, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei ***** Versicherungs AG, ***** vertreten durch Dr. Johann Kuzmich, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 463.111,60 sA und Feststellung (Erstklägerin) und S 601.500 sA und Feststellung (Zweitklägerin) infolge außerordentlicher Revision beider klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 15. Jänner 1991, GZ 12 R 226/90-51, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 14. Juli 1990, GZ 38 Cg 760/86-42, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, das auf die Kosten des Revisionsverfahrens gleich weiteren Verfahrenskosten Bedacht zu nehmen haben wird.
Text
Begründung:
Die Zweitklägerin erlitt am 26.8.1983 bei einem Verkehrsunfall als Beifahrerin eines von Alfred N***** gelenkten Motorrades schwere Verletzungen. Das Alleinverschulden am Unfall trifft Alfred N*****. Dieser hatte keine Lenkerberechtigung, er ist an den Folgen des Unfalles verstorben. Halter des Motorrades war Johann F*****, die beklagte Partei war der Haftpflichtversicherer. Die Erstklägerin erbrachte an die Zweitklägerin Sozialversicherungsleistungen.
Beide Klägerinnen machen Schadenersatzansprüche aus diesem Verkehrsunfall geltend - die Erstklägerin gestützt auf § 332 ASVG - , beide stellten auch ein Feststellungsbegehren. Sie brachten vor, es habe sich um eine "Schwarzfahrt" gehandelt, die Zweitklägerin habe nicht gewußt, daß es sich bei dem Fahrzeug um ein Motorrad handle, für das man einen Führerschein brauche. Der Fahrzeughalter habe durch sein Verhalten die Schwarzfahrt ermöglicht.
Die beklagte Partei wendete unter anderem ein, Alfred N***** habe das Motorrad entwendet, die Zweitklägerin sei seine Komplizin gewesen. Dem Halter sei nicht bekannt gewesen, daß sich ein Fremder in den Besitz des Zündschlüssels setzen könne.
Das Erstgericht gab dem Feststellungsbegehren beider Klägerinnen und dem Leistungsbegehren der Erstklägerin vollinhaltlich und dem Leistungsbegehren der Zweitklägerin teilweise statt. Es stellte folgenden wesentlichen Sachverhalt fest:
Johann F***** hatte sein Motorrad bei seinem körperbehinderten Vetter Franz S***** in dessen Schuppen, in dem auch ein Behinderten-PKW untergebracht war, eingestellt. Wegen der beengten Raumverhältnisse mußte das Motorrad verschoben werden, wenn Franz S***** mit dem Behindertenfahrzeug ein- oder ausfahren wollte. Um das Verschieben des Motorrades trotz der Lenkradsperre zu ermöglichen, war ein Zündschlüssel des Motorrades in einer unversperrten Lade im Wohnzimmer des Franz S***** aufbewahrt. Alfred N*****, ein Vetter von Johann F***** und Franz S*****, war bei Letzterem beschäftigt. Er übernachtete zeitweise in dessen Haus und nahm manchmal das Verschieben des Motorrades vor, wenn dies nötig war. Er war gerade erst 18 Jahre alt geworden, hatte keinen Führerschein und war der Freund der Zweitklägerin. Auch die Ehefrau und die Schwester des Franz S***** wußten, wo sich der Schlüssel befindet, auch sie verschoben das Motorrad manches Mal. Johann F***** wollte nicht, daß jemand mit seinem Motorrad fährt, er hätte auch nicht erlaubt, daß Alfred N***** allein oder mit der Zweitklägerin mit dem Motorrad fahre. Von Alfred N***** geheimem Wunsch, einmal ein Motorrad zu lenken, wußte niemand. Am Tag des Unfalls traf Alfred N***** die Zweitklägerin. Er sagte ihr, er müsse noch zu den Feldern des Franz S***** fahren und fragte sie, ob sie mitkomme. Die Zweitklägerin erhielt von ihren Eltern die Erlaubnis hiezu und den Auftrag, bei dieser Gelegenheit auch auf die Felder der Eltern zu schauen. Die Zweitklägerin wartete vor dem Haus des Franz S***** auf Alfred N*****. Als sie diesen mit dem Motorrad, das er eigenmächtig an sich genommen hatte, herauskommen sah, merkte sie, daß es sich nicht um das Motorfahrrad ihres Freundes handle. Alfred N***** erklärte, es handle sich um das Fahrzeug seines Vetters, der ihm erlaubt habe, damit zu fahren. Die Zweitklägerin erkannte nicht, daß es sich um ein Motorrad handle und machte sich keine Gedanken darüber, ob Alfred N***** die behördliche Erlaubnis zum Lenken dieses Fahrzeuges habe. Die Zweitklägerin stieg auf den Soziussitz auf. Wegen zu hoher Geschwindigkeit kam es dann zu dem Unfall.
Rechtlich beurteilte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahin, Johann F***** habe die Schwarzfahrt ermöglicht, er habe damit rechnen müssen, daß sich ein Unbefugter Zutritt zu den Schlüsseln verschaffen und das Fahrzeug in Betrieb nehmen werde.
Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil im Sinne der Abweisung des Begehrens beider Klägerinnen ab. Es führte aus, der Halter eines Fahrzeuges müsse bis an die Grenze es unabwendbaren Zufalles alles tun, was ihm billigerweise zur Verhütung von Schwarzfahrten zugemutet werden könne. Dabei seien an seine Sorgfaltspflicht die strengsten Anforderungen zu stellen, wobei sich die Beantwortung der Frage, was zur Sicherung des Fahrzeuges vor unbefugter Benutzung geschehen müsse, nach den konkreten Verhältnissen des Einzelfalles richte. Ein besonderes Maß an Sorgfalt und Vorsicht müsse demnach nur dann verlangt werden, wenn mit der Möglichkeit einer Schwarzfahrt durch Personen gerechnet werden müsse, die mit dem Fahrzeughalter in einer besonderen, eine solche Fahrt erleichternden Beziehung stünden oder wenn dem Fahrzeughalter bekannt sei, daß solche Personen schon Schwarzfahrten unternommen hätten. Im vorliegenden Fall sei weder vorgebracht noch festgestellt worden, N***** hätte vor dem Unfall bereits Schwarzfahrten unternommen. Daß der tödlich verunglückte N***** einen derartigen Wunsch gehegt hätte oder versucht hätte, ihn jemals in die Tat umzusetzen, sei gleichfalls nicht festgestellt worden. Das Erstgericht habe lediglich festgestellt, niemand habe von Alfreds geheimem Wunsch, einmal ein Motorrad lenken zu wollen, gewußt. Dadurch, daß der Fahrzeughalter die Schlüssel zum Motorrad Franz S***** zur Verwahrung übergeben und dieser sie verschlossen gehalten habe, habe er alle ihm zumutbaren und als erforderlich erkennbaren Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Der Umstand, daß der einschlägig bisher völlig unauffällige N***** ebenfalls Zutritt zum Sekretär gehabt habe, in welchem die Fahrzeugschlüssel verwahrt gewesen seien, habe keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen seitens des Halters erforderlich gemacht.
Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für nicht zulässig, weil nicht von der oberstgerichtlichen Judikatur abgewichen worden sei.
Beide Klägerinnen bekämpfen das Urteil des Berufungsgerichtes mit außerordentlichen Revisionen, in denen sie die Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichtes begehren.
Die beklagte Partei beantragt, den Revisionen nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Beide Revisionen sind zulässig und im Sinne einer Aufhebung der angefochtenen Entscheidung auch berechtigt.
Wie schon das Berufungsgericht ausführte, muß der Halter eines Fahrzeuges bis zur Grenze des unabwendbaren Zufalles alles tun, was ihm billigerweise zur Vermeidung von Schwarzfahrten zugemutet werden kann (ZVR 1977/129 uva). An die Sorgfaltspflicht des Halters sind strengste Anforderungen zu stellen (8 Ob 79/85 uva). Diese strengen Anforderungen hat Johann F***** nicht erfüllt. Er wußte, daß mehrere Personen Zugang zum Schlüssel seines Motorrades hatten und diesen sogar zum Verschieben des Motorrades verwendeten. Er mußte damit rechnen, daß eine dieser Personen das Fahrzeug in Betrieb nehmen werde (vgl. etwa ZVR 1977/129; 8 Ob 79/85 ua). Durch die Unterbringung des Motorrades bei einem Verwandten in Kenntnis des Umstandes, daß dort mehrere Personen (darunter ein 18jähriger, der keinen Führerschein hatte) Zugriff zum Zündschlüssel hatten, und die diesen Zündschlüssel zur Lösung der Lenkradsperre beim Verschieben des Motorrades sogar verwendeten, kam Johann F***** seinen Verpflichtungen als Halter des Motorrades nicht nach. Er hat dadurch die Schwarzfahrt im Sinne des § 6 Abs.1 EKHG schuldhaft ermöglicht. Ebenso hat er die Vorschrift des § 102 Abs.6 KFG, die nach ständiger Rechtsprechung sinngemäß auch auf den Halter anzuwenden ist (ZVR 1975/117 uva, zuletzt 2 Ob 28/87) verletzt (vgl. etwa ZVR 1988/102 - in dieser Entscheidung wurde dem Halter die Verwahrung des Zündschlüssels im Zugriffsbereich Dritter ebenfalls als Verletzung der Vorschrift des § 102 Abs.6 KFG angelastet). Die Bestimmung des § 102 Abs.6 KFG ist eine Schutznorm im Sinne des § 1311 ABGB (ZVR 1978/215; SZ 60/105; 2 Ob 28/87).
Die beklagte Partei haftet daher als Haftpflichtversicherer für die bei der Schwarzfahrt mit dem Motorrad herbeigeführten Schäden. Der Umstand, daß die Zweitklägerin durch das Motorrad befördert worden war, vermag an der Haftung der beklagten Partei für die Verletzungsfolgen der Zweitklägerin nichts zu ändern. Der Haftungsausschluß nach § 3 Z 2 EKHG kommt nämlich dann nicht in Betracht, wenn der Halter eines Fahrzeuges wegen eines Verschuldens im Sinne des § 19 Abs.2 EKHG haftet und seine Haftung daher nicht nur nach dem EKHG gegeben ist (ZVR 1965/87; ZVR 1983/287; 2 Ob 28/87 ua).
Nach ständiger Rechtsprechung ist das gegen den Halter gerichtete Begehren eines bei einer Schwarzfahrt verletzten Fahrzeuginsassen allerdings rechtsmißbräuchlich, wenn dem Verletzten die Tatsache der unberechtigten Inbetriebnahme durch den Lenker bekannt war (ZVR 1962/22; ZVR 1979/24; SZ 53/151 ua). Nach den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen erkannte die Zweitklägerin aber nicht, daß es sich bei dem Fahrzeug um ein Motorrad handelt, für das man einen Führerschein benötigt, es war ihr nicht bekannt, daß er das Motorrad nicht verwenden durfte. Diese Feststellungen wurden von der beklagten Partei in der Berufung bekämpft. Das Berufungsgericht hat - von seiner Rechtsansicht ausgehend - zu dieser Rüge nicht Stellung genommen.
Aus diesem Grund leidet das Urteil des Berufungsgerichtes an einem Mangel, der es erforderlich macht, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Rechtssache an das Gericht zweiter Instanz zur neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
Anmerkung
E27350European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1991:0020OB00049.91.0918.000Dokumentnummer
JJT_19910918_OGH0002_0020OB00049_9100000_000